2005
55. Internationale Filmfestspiele Berlin
10. – 20. Februar 2005
„Auf diesem Filmfestival gehen Politik und Geschichte nicht nur ab und zu in der Zurückgezogenheit des Kinosaals eine folgenlose Liaison ein. Hier werden die Filme bisweilen auf eine unbequeme Art lebendig. Die Geschichten, die sie erzählen, verschieben die gewohnten Grenzen zwischen der Welt auf der Leinwand und der Welt, wie sie ist.“– Manohla Dargis in der „New York Times“.
Prioritäten setzen
Ein wachsendes Netzwerk aus Partnerschaften und Initiativen, ein expandierender European Film Market, der starke Auftritt des asiatischen Kinos und ein thematischer Schwerpunkt auf afrikanischen Realitäten – die Berlinale 2005 zeigte ein fruchtbares Miteinander von künstlerischen Visionen, sozialem Engagement und kommerziellen Impulsen. Die Branche lobte die professionelle Organisation, erlebte die Berlinale als international und lebendig und freute sich über die Investitionsfreude der Einkäufer und Financiers.
Während das Publikum dem Festival einen neuen Besucherrekord bescherte, führten einige Beobachter eine Debatte um die „Starpower“ des Festivals und seinen Glamoureffekt. Allerdings warnten andere Kommentatoren wiederum davor, im Konkurrenzkampf um die Stars nicht die Prioritäten durcheinander zu bringen. „Die wahren Höhepunkte des Festivals müssen die Filme sein“, schrieb Katja Nicodemus in der „Zeit“. „Nur wenn das Festival souverän auf seiner filmästhetischen Kompetenz beharrt, kann es auch im Glamourgewese selbstbewusst mitmischen, ohne sich erpressbar zu machen“, meint die Kommentatorin.
In Tsai Ming-Liangs The Wayward Cloud und Alexandr Sokurovs Solnze sah sie zwei Filme, die für eine gute Berlinale typisch sind: mutige und eigenwillige Arbeiten, über die sich trefflich diskutieren lässt, die aber dem „Eventjournalismus“ wenig zu bieten hätten. „Tsai Ming-Liangs Stars heißen Lee Kang-Sheng, Chen Shiang-Chyi und Yang Kuei-Mei. Natürlich hat auf dem roten Teppich kein Fotograf ihren Namen gerufen. (…) Aber auf der Leinwand sind sie auch in der dreckigsten, armseligsten Pornoszene würdevoll und faszinierend. Sie exponieren sich uneitel, mutig, schamlos für jene Sache, um die sich ein solches Festival nicht zuletzt drehen sollte: das Kino.“
Tsai Ming-Liangs exzentrische Mischung aus Porno, urbaner Tristesse und Musical war neben Hany Abu-Assads Paradise Now der am kontroversesten diskutierte Beitrag des Wettbewerbs. Darüber hinaus setzte dort vor allem das afrikanische Kino mit gleich vier (Ko-)Produktionen einen deutlichen thematischen Akzent. Der Goldene Bär an Mark Dornford-Mays spielfreudige Bizet-Adaption U-Carmen eKhayelitsha überraschte zwar die meisten Kommentatoren, wurde aber als Erfolg gewertet für das verdienstvolle Bemühen der Berlinale um den südafrikanischen Film.
Junges chinesisches Kino begeistert im Forum
Im Gesamtfestival hatte das asiatische Kino einen auffallend guten Auftritt. Neben einer auf mehrere Sektionen verteilten Werkschau des Koreaners IM Kwon Taek, der für sein Lebenswerk mit einem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet wurde, sorgte im Forum vor allem das junge chinesische Kino für Aufsehen. Mit Lu Chuans Kekexili, Ning Haos Lü Cao Di (Mongolian Ping Pong), Liu Jiayins Niu Pi (Oxhide) und dem bewegenden Dokumentarfilm Yan Mo (Before The Flood) von Yan Yu und Li Yifan bot das Forum gleich vier herausragende Beispiele dieser im Wandel befindlichen Kinematografie.
Das Forum hatte seinen Programmumfang merklich verschlankt, ein mutiger Schritt, der von Presse und Publikum positiv aufgenommen wurde. Ergänzt wurde das Forum-Programm durch mehrere Filminstallationen und Video-Arbeiten von Künstlern, die über das reine Kinoerlebnis hinauswiesen. Diese Arbeiten standen wiederum im Kontext eines künstlerischen Rahmenprogramms, mit dem sich die Berlinale für Synergien mit nicht-filmischen Kunstformen öffnete. Der „Video-Walk“ Ghost Machine der kanadischen Medienkünstler Janet Cardiff und George Bures Miller gehörte hier zu den spannendsten Arbeiten. Ein besonderes Highlight dieser Programmreihe war auch die fulminante Show Abordage des japanischen Performance-Künstlers Kansai Yamamoto
Crossover-Effekte
Der Versuch, das Festival für neue Kooperationen und „Crossover-Effekte“ zu öffnen, ist in diesem Jahr gelungen. Neben dem künstlerischen Rahmenprogramm standen für diese Offenheit eine deutliche Zunahme an gezielten Kooperationen mit anderen Kulturveranstaltern, etwa dem Theater Hebbel am Ufer (HAU) und dem Deutschen Historischen Museum, mit dem zum zweiten mal die Marshall-Plan-Filmreihe Selling Democracy organisiert wurde. Auch die fruchtbaren Kontakte mit den Filmhochschulen, die die Berlinale vor allem über die Sektion Perspektive Deutsches Kino pflegt, stehen für diese nach vorne gerichtete Offenheit des Festivals. „Nicht mehr wegzudenken“ seien die Arbeiten von Hochschulabsolventen aus dem Perspektive-Programm, meinte Sektionsleiter Alfred Holighaus, der auf ein bei Publikum und Presse erneut überaus erfolgreiches viertes Jahr zurück blicken kann.
Wieder einmal verband sich der Erfolg des jungen deutschen Kinos mit einem starken einheimischen Auftritt im Wettbewerb. Vor allem Marc Rothemunds Sophie Scholl – Die letzten Tage fand international Anerkennung und wurde als Belege für eine anhaltende Blüte im deutschen Filmschaffen gewertet.
Zukunftsweisend agierte die Berlinale auch mit der Einrichtung des World Cinema Fund, einer gemeinsamen Initiative mit der Kulturstiftung des Bundes. Der Fund hat das erklärte Ziel, das Filmschaffen in Ländern zu fördern, die aufgrund struktureller und ökonomischer Probleme bislang international benachteiligt sind. Die erste Bewerbungsrunde und die positiven Reaktionen in der Branche auf die Inauguration während des Festivals stimmen hier optimistisch.
Coming of Age: Das Panorama wurde 20
Prosit Panorama! Die Sektion wurde zwanzig und nahm dies zum Anlass in ihrer neuen „Home Base“ mit einer Fotoausstellung Film- und Festivalgeschichte Revue passieren zu lassen. Auch 2005 bot das Panorama im Berlinale-Programm die breiteste Vielfalt: internationales Independent-Kino wie etwa Fruit Chans Dumplings oder Ira Sachs’ Forty Shades of Blue und Arthouse-Produktionen mit Starbesetzung wie Kevin Spaceys Beyond the Sea und Rebecca Millers The Ballad of Jack and Rose standen neben einer Auswahl zum Teil höchst brisanter Dokumentationen und einem weiterhin soliden Engagement für den schwul-lesbischen Film, dessen weltweit wichtigste Plattform das Panorama ist.
Mit George Michael hatte das Panorama sogar einen veritablen Superstar auf der Gästeliste. Was andernorts zu Grabenkämpfen führt, gehört im Panorama längst zum Profil: eine Symbiose herzustellen zwischen den unterschiedlichsten Publikumssegmenten und deren Erwartungen, den Cineasten, den Freaks, den Groupies, den Ein- und Verkäufern, den Festivalprogrammierern, der Presse und den zahlreichen Filmemachern, die das Panorama als Kontakt-Pool nutzen.
Im Kinderfilmfest hat sich die letztjährige Einführung des Jugendfilmwettbewerbs 14plus nicht nur bewährt, viele Filme galten geradezu als Geheimtipp innerhalb des Berlinale-Programms. Filme wie Bahman Ghobadis Schildkröten können fliegen und Luis Mandokis Voces inocentes sind alles andere als „Zielgruppen“-Filme, die ein gängiges Vorurteil noch immer mit den Begriffen „Kinder- und Jugendfilm“ assoziiert. Gerade im Kinderfilmfest und bei 14plus ist die „Zielgruppe“ so heterogen wie sonst nirgends auf dem Festival.
Fast Forward: 2006
Der Zukunft wurden in 2005 viele Türen geöffnet, man darf gespannt sein, was kommt. Eines der bedeutsamsten Ereignisse der Berlinale 2006 wurde virtuell bereits vorweg genommen: Der European Film Market zieht in den Martin-Gropius-Bau. Eine Willkommensgala stellte dem Publikum die neue Location vor, die der rasant wachsenden Bedeutung des European Film Market einen repräsentativen Ausdruck verleiht.
Die Berlinale 2005 in Zahlen
Besucher | |
---|---|
Kinobesuche | 396.000 |
Fachbesucher | |
Akkreditierte Fachbesucher einschl. Presse | 16.747 |
Anzahl Herkunftsländer | 119 |
Screenings | |
Anzahl Filme im öffentlichen Programm | 345 |
Anzahl Vorführungen | 1.110 |
Presse | |
Pressevertreter | 3.815 |
National | 1.977 |
International | 1.838 |
Anzahl Herkunftsländer | 81 |
European Film Market | |
Fachbesucher | 4.284 |
Anzahl Filme | 558 |
Anzahl Screenings | 860 |
Stände auf dem EFM | 54 |
Anzahl Unternehmen | 165 |
Anzahl vertretener Länder | 70 |
Berlinale Talent Campus | |
Teilnehmer | 530 |
Anzahl Herkunftsländer | 90 |
Berlinale Co-Production Market | |
Teilnehmer | 350 |
Anzahl Herkunftsländer | 38 |