2007 | Kulinarisches Kino
Für Geschmack lässt sich streiten
Filmemachen und Kochen, Kino und Essen haben vieles gemeinsam. Bereits auf dem Berlinale Talent Campus 2006 ging das Symposium "Hunger, Food, and Taste" dieser Vermutung nach und entdeckte vielfältige Parallelen. Die damals begonnene Zusammenarbeit der Berlinale mit der Slow Food Organisation wird nun fortgesetzt. "Das Essen ist das älteste Medium der Menschen, und Film ist das jüngste", sagt Thomas Struck, der die Film- und Veranstaltungsreihe Kulinarisches Kino: Eat, Drink, See Movies organisiert. Ein Gespräch über guten Geschmack, die Bedeutung des Feuers und die Überzeugung, dass ein Bissen die Welt verändern kann.
Warum will die Berlinale Kino und Esskultur zusammen bringen?
Das Essen ist das älteste Medium der Menschen, und Film ist das jüngste. Beide haben viel gemeinsam: es verbindet sie Lebensfreude, Genuss, Entertainment – und Verantwortung. Beide sind zeitgebunden, wenn sie konsumiert werden. Auch der Herstellungsprozess ist vergleichbar: wenn man die Zutaten zusammen hat, findet die Verwandlung vom Rohstoff in das Gericht bzw. den Film statt. Beim Film geschieht das mit der Kamera, beim Essen auf dem Herd. Und siehe da, das Wort "Fokus" hat denselben lateinischen Ursprung wie das Wort für Herd.
Beim Kochen wie beim Filmemachen geht es um ständige Wandlungsprozesse von einer Form der Materie in eine andere, von Fantasie in Realität und umgekehrt, aus der Wirklichkeit wird ein Traum. Wenn aber die Bezüge zum Essen verloren gehen, geht auch ein großer Teil der Kultur verloren, denn die menschliche Zivilisation hat ihre Wurzeln in der Zähmung des Feuers und des Kochens.
Das Kulinarische Kino zeigt Filme, die vom Essen inspiriert sind, und anschließend bieten die 5 Berliner Spitzenköche Bobby Bräuer, Michael Hoffmann, Thomas Kammeier, Kolja Kleeberg und Tim Raue eine Gastronomie, die von den Filmen inspiriert ist. Wir spielen im Kino des Martin-Gropius-Baus jeden Abend zwei Filme, insgesamt 7 Premieren, ein Kurzfilmabend und 2 Klassiker, die lange nicht auf der Leinwand zu sehen waren.
Wie stellst du dir einen gelungenen Abend im Kulinarischen Kino vor?
Vor dem ersten Film, der um 19:30 Uhr beginnt, wird der Koch des Abends vorgestellt. Nach dem Film gehen die Zuschauer ins "Gropius Mirror", das neue Restaurant im Spiegelzelt auf der Südseite des Martin-Gropius-Bau. Dort gibt es ein Gericht, das einen Bezug zum vorherigen Film hat. Die Ideen der Köche und die Themen der Filme werden aufgegriffen in Gesprächen mit den Filmemachern oder anderen Gästen. Diese Gespräche wird Alfred Biolek moderieren. Wir glauben, dass das "Gropius Mirror" kulinarisch sehr attraktiv ist und zu einem beliebten Treffpunkt der Berlinale wird. Wenn unsere Gäste Lust auf mehr haben, ist der Abend gelungen.
Schon im letzten Jahr hat die Berlinale erstmals mit der Slow Food Organisation zusammen gearbeitet - beim Talent Campus Symposium "Hunger, Food and Taste", das Fragen des Essens und der Ernährung erstmals im Rahmen eines Filmfestivals erforscht hat. Bei Slow Food geht es um ein ganzheitliches Verständnis von Essen und Ernährung: Anbaumethoden, ökologische Verträglichkeit, Nährstoffreichtum, Esskultur, Zubereitung, Vielfalt… Warum passt Slow Food so gut zur Berlinale?
Seit Dieter Kosslick Berlinale-Direktor ist, zeigt das Festival ein wachsendes Interesse an kleineren, unabhängigen Produktionen. Genau das tut Slow Food auch. Zu guten Köchen und auch zu guten Filmemachern passt das Motto: Think global, act local! In vielen Fällen stammt das, was ein Filmemacher verarbeitet, aus seiner unmittelbaren Lebenserfahrung. Das heißt, seine Arbeit hat einen lokalen Bezug.
Filme machen und Essen zubereiten: beides wurzelt in der Kenntnis eines bestimmten Milieus. Aber in beiden Bereichen sind Authentizität und Individualität auch akut bedroht. Industrielle Produktionsmethoden und standardisierte Konsumformen führen in beiden Bereichen zum Verlust der Vielfalt. Im Falle der Nahrung ist der fortschreitende Verlust der Biodiversität lebensgefährlich. Es gibt inzwischen von vielen Kultur- und Nutzpflanzen wie Mais, Soja, Reis und Baumwolle genmanipulierte Varianten. Die lebenswichtige Diversität den Profitinteressen zu opfern, ist eine neue Form von Krieg und Kolonialismus. Sich dagegen zu wehren, kann nicht nur Sache der direkt betroffenen Menschen vor Ort sein. Jeder hat als Konsument die Macht etwas zu verändern.
"Delicious Revolution": Ein Bissen kann die Welt verändern
Man könnte die ökologischen und sozialen Realitäten, die du ansprichst, auch als die Kehrseite des Genusses bezeichnen. Wie kann "Kulinarisches Kino" einen solchen Bogen spannen, also ein Bewusstsein für diese Zusammenhänge schaffen, ohne dass dem Wissenden der Appetit vergeht?
Beim bewussteren Umgang mit Essen und auch dem Film spielt das Lustprinzip eine zentrale Rolle. Über Geschmack lässt sich zwar nicht streiten - aber für Geschmack lässt sich streiten, denn guter Geschmack und Lebensfreude entstehen auch durch Kenntnisse.
Auf dem bereits erwähnten Symposium des Berlinale Talent Campus im letzten Jahr hat Alice Waters ihren Schlüsselbegriff "Delicious Revolution" erläutert. Wenn wir jeden Bissen bewusst essen, würde das die Welt revolutionieren, sagt sie. "Delicious" hat wenig mit Sterne-Küche zu tun. Auch diese kann "delicious" sein, aber eine Kartoffel, die aus einem guten Boden kommt, sorgfältig zubereitet und dampfend serviert wird, ist doch durch nichts zu toppen. Man kann sie so oder so zubereiten, aber das Urprodukt ist die eigentliche Delikatesse. Slow Food hat die Einsicht gefördert, dass man Geschmack durch das Produkt erreicht. Und zum Produkt gehört seine Herkunft. In diesem Bewusstsein liegt der Schlüssel, der den Missbrauch mit Nahrung vermeiden hilft. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Biss und der Schluck die Welt verändern kann.
Das heißt, wenn man der Maxime von Alice Waters folgen würde, dann würde sich über das Bewusstsein das Sein ändern?
Ja, und über das Sein auch wieder das Bewusstsein. Ein Frechdachs der Küche hat einmal gesagt: Du bist nicht, was du isst, sondern was du verdaust. Das ist nicht fäkal gedacht, sondern will sagen, dass in jedem Essen eine Geschichte steckt, die man mit dem Essen aufnimmt. Das Essen ist sozusagen ein Film für Körper und Seele. Und ein Filmemacher muss wie ein Koch die Komponenten seiner Arbeit kennen und verarbeiten, damit ein Film entsteht, der unter die Haut geht.