2007 | Berlinale Talents
Heimweh nach Welt
„Die Notwendigkeit, sich als Filmschaffender einen eigenen Weg durch das globalisierte Filmgeschäft zu suchen, ist das vielleicht wichtigste, was wir auf dem Campus zu vermitteln versuchen.“ Ein Gespräch mit Dorothee Wenner über den Berlinale Talent Campus 2007: die noch intensivere Betreuung der Talente, das Engagement für Diversität im internationalen Film und das Kino als Ort für politische Diskurse.
Du hast im Sommer die Leitung des Campus übernommen. Ich stelle mir das ein bisschen so vor, wie eine Wohnung zu übernehmen: Man freut sich, dass der Vormieter die Waschmaschine da gelassen hat, aber man ärgert sich, dass auch der Kühlschrank noch da steht. Wie war dein erster Eindruck beim Campus?
Der Campus ist ja noch sehr jung, aber es lohnt sich immer, kritisch Rückschau zu halten. Das gilt für die vergangenen Jahre, aber auch für das kommende: Was hat geklappt und was ist bei den Talents gut angekommen? Welche Formate sind vielleicht noch nicht so ganz ausgereift? Ich habe vieles vorgefunden, was ich ganz toll finde, und es gab einige Sachen, über die ich neu nachdenken wollte. Ein Anlass war der Umzug an den neuen Veranstaltungsort im Theater Hebbel am Ufer (HAU). Die Räumlichkeiten im HAU sind etwas kleiner als im Haus der Kulturen der Welt. Die Erfahrungen aus den letzten Jahren haben uns dann ermutigt, die Teilnehmerzahl zu reduzieren, um den Talenten damit eine noch konkretere und individuellere Betreuung anbieten zu können. Wir möchten gerne unsere Formate noch genauer zuschneiden auf das, was für die Campus-Teilnehmer sinnvoll ist und was sie wirklich brauchen.
Wie weit reichend ist dieses Angebot der individuellen Betreuung, wie wird das konkret aussehen?
Das fängt zunächst bei der Prüfung der Bewerbungen an. Wir sehen uns jede Bewerbung sehr genau an, und nehmen unter Umständen auch schon frühzeitig Kontakt mit Bewerberinnen auf, wenn wir meinen, es würde sich für sie lohnen, sich für spezielle Angebote wie etwa die Script Doc Clinic oder die Garage Studios zu bewerben. Spätestens ab dem Moment, wo die Talents wissen, sie sind dabei, möchten wir auch ihre Vernetzung untereinander fördern. Das läuft im Idealfall selbständig über die Website. Wir helfen aber zum Beispiel bei der Vorbereitung von Treffen mit bestimmten Experten, in Einzelfällen vernetzen wir Talents vorab mit Experten, ab Mitte Januar auch über unsere Website.
Mehr als nur die Erwartungen erfüllen
Wir wissen, dass die Talente zum Campus kommen mit der Erwartung, hier auf berühmte und hochkarätige Persönlichkeiten zu treffen und wir bemühen uns darum, diese Erwartung zu erfüllen. Aber wir möchten die Talents auch ein bisschen "schubsen". "Meet the expert" bedeutet ja nicht nur "Meet your star". Es geht vielmehr darum, den Talents konkrete Hilfestellung für ihre Arbeit anzubieten durch Leute mit „Spezialwissen“ – etwa im Sales Bereich für Dokumentarfilme, oder die die unabhängige Filmszene in Japan oder Argentinien gut kennen, oder die wissen, wie man im Set Design digitale Software am sinnvollsten einsetzt. Wir möchten die jungen Filmemacher inspirieren, indem wir ihnen Ideen, Themen und Leute vorschlagen, die sie vielleicht noch nicht kennen und gar nicht kennen können.
Ich finde den Begriff von der "moralischen Anstalt", den Dieter Kosslick in diesem Zusammenhang gerne verwendet, ganz treffend. Der Begriff ist zwar 200 Jahre alt, aber er beschreibt ganz gut, dass es uns darum geht, einerseits den Talents mit dem entgegen zu kommen, was sie vom Campus erwarten, ihnen aber auch Angebote zu machen, von denen sie vorher gar nicht wissen konnten, wie toll sie sie im nachhinein – hoffentlich – finden werden.
Gibt es neben den praktischen Veränderungen, die der Umzug ins Theater Hebbel am Ufer mit sich bringt, auch noch andere Inspirationen durch den Ort, etwa weil er ein sehr offenes, alternatives und politisches Image mitbringt?
Es ist eine gute Ausgangsbasis, dass im HAU das ganze Jahr über auch "seelenverwandte" Veranstaltungen stattfinden und wir dort sehr willkommen sind. Ich hoffe zudem, dass die Nähe des neuen Veranstaltungsortes zum Potsdamer Platz dazu beitragen wird, den Campus noch lebendiger ins Festival einzubinden.
Was uns aber ganz unmittelbar positiv entgegenkommt, sind die drei Häuser, die architektonisch drei sehr unterschiedliche Angebote machen. Das HAU1 mit seiner klassischen Theaterarchitektur ist ideal für die großen Lectures der bekannten Gäste, wo das Wesentliche der Veranstaltung auf der Bühne passiert. Das HAU2 hat eine offene, diskursive Atmosphäre. Dort könnte man problemlos einen Workshop an einem großen Tisch stattfinden lassen, an dem dann 40 oder 50 Leute sitzen. Im HAU3 gibt es drei Etagen, die wir mit dem Garage Studio, der Script Doc Clinic und den Editing Suites bespielen.
Hand anlegen an die Zukunft
Alles was im HAU3 stattfinden wird, ist "hands-on", konzentriertes, praktisches Arbeiten. Im HAU3 zieht man den imaginären blauen Kittel an. Und sei es auch nur für einen Tag, denn wir wollen nicht, dass die "hands-on" Angebote die Talents ganz vom Rest des Campus abschneiden.
Auf was für Projekte hat es das Garage Studio abgesehen?
Das Format ist darauf angelegt, schnell zu produzieren für eine schnelle Auswertung im Internet. Das Garage Studio ist in unserem Programm das „Nachfolgemodul“ für die „Talent Movies of the Week“, die eher wie „klassische“ Kurzfilme für die Kinoauswertung produziert wurden. Filme für eine ausschließlich digitale Auswertung im Netz zu produzieren ist dagegen Neuland – auch für uns. Derzeit entstehen zwar bereits in ungezählter Menge solche Filme, aber es ist noch völlig unklar, wie sich die professionelle Filmindustrie dazu verhält.
Was bedeutet dieser Satz: "Heute kann eigentlich jeder Filme machen" für professionelle Filmemacher? Wie verhält man sich dazu? Grenzt man sich ab, oder entwickelt man Formate und Erzählstrukturen für junge Leute, die lieber vor dem Monitor sitzen als im Kino, weil sie das Interaktive schätzen? Die junge Generation ist sehr medienerfahren und sie wollen im Kino auch auf eine ganz andere Art herausgefordert werden. Wir wollen also im Garage Studio die praktische Teamarbeit an konkreten Projekten mit einer kritischen Selbstbefragung verbinden: Was tun wir hier eigentlich und für wen? Wie sieht das Kino der Zukunft aus? Wie verändern sich die Erzählformate unter dem Einfluss der Games-Industrie? Ich finde, das ist eine total spannende Herausforderung.
Der kommende Campus wendet sich den Produktionsbedingungen zu. Einerseits gibt es weltweit eine starke Tendenz zu Vereinheitlichung, etwa bei der Ästhetik und der Vermarktung. Andererseits werden Filme aber je nachdem, wo sie entstehen, unter sehr unterschiedlichen Bedingungen hergestellt. Kann man zugespitzt sagen, dass sich der Campus 2007 mit den Problemen der Globalisierung auseinander setzt?
Ja, auf jeden Fall. Das ist ein ganz zentrales Anliegen und ich persönlich glaube auch, dass das heute die wichtigste Frage ist. Ich möchte das an einem Beispiel illustrieren. Auf dem Festival in Pusan habe ich kürzlich Chalida Uabumrungjit getroffen, die Festivalleiterin von Bangkok. Sie hat mir erzählt, dass das „Pitching“ eine kulturelle Kluft markiere, die eine große Zahl talentierter Filmemacher aus Südostasien gar nicht überspringen könne. „Pitching“ ist ein Format, das in Amerika und England entwickelt wurde und in der westlichen Welt total verankert ist. Aber unabhängig davon, wie toll das möglicherweise in unseren Kontexten hier funktioniert, meinte Chalida, dass Filmemacher in Südostasien dem "Pitching" mit allergrößten Hemmungen, geradezu Angstgefühlen begegnen.
Hinzu kommt ja eine weitere Hürde, nämlich dass Englisch als einheitliche Konversationssprache vorausgesetzt wird. Auch das ist für sehr viele Campus-Bewerber eine unüberwindbare Hürde, gerade auch für viele Filmschaffende aus Asien. Wir sind da in einem Zwiespalt: Einerseits engagieren wir uns für eine größere Diversifizierung, indem wir uns um Talente aus benachteiligten Regionen bemühen. Andererseits reproduzieren wir aber das Ausschlusskriterium „Englisch“ – zu dem es aber keine Alternative gibt, denn die Kommunikation der Talente untereinander ist ja unser wichtigstes Bestreben.
Ermutigung eigene Wege zu gehen - denn Patentrezepte gibt es nicht
Zur Diversifizierung trug andererseits ja auch bei, die Campus-Idee auf andere Kontinente zu exportieren: Kapstadt, Delhi, Buenos Aires. Wird daran weiter gearbeitet?
Ja, und zwar intensiv. Für den Campus auf dem Sithengi Festival in Kapstadt (14. bis 21. November) hat das Goethe Institut in Kooperation mit uns gerade 15 Stipendien zur Verfügung gestellt, mit denen jungen Filmtalenten aus anderen afrikanischen Ländern die Teilnahme am Campus in Südafrika ermöglicht wurde. Denn für Bewerber aus zentralafrikanischen Ländern kommt ja als weitere Hürde hinzu, dass sie sich trotz unserer Unterstützung die Bewerbung und Teilnahme am Campus oft gar nicht leisten können.
Der kommende Campus will junge Filmemacher und Produzenten offenbar ermutigen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und nach individuellen Strategien zu suchen: Es wird etwa Workshops zu alternativen Distributionsformen geben, eine Veranstaltung mit Repräsentanten von „Filmkollektiven“, ein Panel zu den Chancen „kleiner“, lokaler Geschichten auf dem globalen Markt. Geht es darum, der Universalisierung mit regionalen oder sogar persönlichen Akzenten zu begegnen?
Die erwähnten Veranstaltungen haben verschiedene Zielrichtungen – aber ja, durchaus. Die Notwendigkeit, sich als Filmschaffender einen „eigenen Weg“ durch das globalisierte Filmgeschäft zu suchen, ist das vielleicht wichtigste, was wir auf dem Campus zu vermitteln versuchen. Dafür gibt es selbstredend keine „Patentrezepte“, sondern bestenfalls Inspiration, in manchen Fällen auch ganz pragmatische Hilfestellungen. Zum Beispiel indem wir auf Möglichkeiten hinweisen, die in bestimmten „cinematographischen Krisensituationen“ interessant sein könnten. Etwa in Afrika: Auch wenn es auf dem Kontinent - abgesehen vom arabischen Raum und in Südafrika - kaum mehr Kinos gibt, so gibt es doch Wege, auf denen Filme zu ihrem Publikum kommen.
Bei anderen Veranstaltungen geht es uns eher darum, den Talents Mut zu machen. Die Entstehungsgeschichte des letztjährigen Goldenen Bären-Gewinners, Grbavica (Esmas Geheimnis) von Jasmila Zbanic, ist in vielerlei Hinsicht dafür ein sehr gutes Beispiel. Wenn Jasmila erzählt, wie sie diesen Film realisiert hat, dann kann das bei den Talenten einen Aha-Effekt haben: Diese Frau hat unter schwierigen Ausgangsbedingungen ein sehr persönliches Projekt realisiert. Sie hat gegen einen immensen Gegenwind gekämpft und politisch etwas möglich gemacht und wurde schließlich mit weltweitem Erfolg und Auszeichnungen dafür belohnt. Jasmila hat sich durchgesetzt und sie hat es oft eben gar nicht so gemacht, wie es in den Lehrbüchern steht. Solche Beispiele gibt es viele. Filme, die mit einer Außenseiterstrategie zum Erfolg kamen. Man kann diese Strategien nicht kopieren, aber man kann sich für sein eigenes Projekt davon inspirieren lassen. Denn es gibt viele Filme, die nur einmal gemacht werden können. Und wir möchten den Leuten die Zuversicht vermitteln, diese Filme zu machen.
In dieser Situation wird es immer wichtiger, sich von den Erfahrungen anderer ermutigen zu lassen. Von unabhängigen Initiativen wie zum Beispiel der coop99 in Österreich, Amir Muhammad aus Malaysia oder dem Projekt „women make movies“ in New York. Der Campus-Titel "Home Affairs" soll genau das betonen: Wie wichtig es heutzutage ist, sich eine Home Base aufzubauen, die es einem ermöglicht, als Filmemacher zu überleben. Sich selbst arbeitsfähig zu machen, ist etwas sehr spannendes. Und es betrifft alle, nicht nur die ganz Jungen.
Nachhaltige Konzepte für die „weißen Flächen“ auf der Film-Weltkarte
Ich finde, das ist auch ein sehr politisches Thema: sich arbeitsfähig zu machen. Nicht nur, weil es möglicherweise bedeutet, herrschenden Trends zu widerstehen, sondern auch weil es darum geht, sich selbst eine Stimme zu geben.
Das stimmt. Ich schlage folgendes Experiment vor: Man nimmt sich die Weltkarte und zeichnet mit drei Farben die jeweilige Situation der Filmindustrie ein. Eine Farbe für die wenigen Länder, in denen sich eine Filmindustrie selbst trägt. Eine Farbe für die Länder, wo die Filmindustrie dank einer Förderstruktur überlebt. Und Weiß für alle Länder, in denen von einer Struktur eigentlich keine Rede mehr sein kann. Fast der ganze afrikanische Kontinent wäre weiß, mit Ausnahme von Südafrika und einigen Staaten im Norden. In Zentralasien oder einigen Ländern in Lateinamerika gibt es vergleichbare Situationen. Das Weiß ist mittlerweile beängstigend groß. Wie gehen wir damit um?
Wir stehen seit einiger Zeit in Kontakt mit einer Initiative im Kongo, die versucht, die enormen Umwälzungen im Land filmisch zu dokumentieren. Wenn überhaupt Filme entstehen mit Menschen und Geschichten, mit denen man sich im Kongo oder in Nigeria identifizieren kann, hat das angesichts der Gewichtsverhältnisse auf dem Filmmarkt bereits politische Bedeutung. Menschen, die in vergleichbaren Häusern wohnen, ähnliche Kleider tragen, die eine Sprache sprechen, die die Leute verstehen, und von Themen handeln, mit denen das Publikum was anfangen kann, anstatt von Luxusproblemen eines Piloten in Florida. Es gibt immer mehr Regionen, die nur noch mit zugeschnittener Massenware bedient werden. Das ist keinesfalls nur ein Problem der US-amerikanischen Hegemonie, auch aus anderen Ländern drängen ähnliche Produkte auf den Markt.
Eines der Panels auf dem kommenden Campus fragt nach dem Kino als Ort, an dem heute politische Diskurse geführt werden. Was ist der Einsatz dieser Frage? Wenn sich heraus stellen würde, dass die Antwort „ja“ ist – würdest du das begrüßen?
Ich finde es gut, wenn im Kino politische Diskurse stattfinden. Nicht in dem Sinn, dass man im Anschluss an den Film über Altersvorsorge und Lohnnebenkosten reden muss. Aber in den Massenmedien finden bestimmte Weltregionen nur noch sehr beschränkt Beachtung: als Kulisse von Tierfilmen, im Bezug auf Tourismus, oder wenn sich dort ein Erdbeben oder eine andere Katastrophe ereignet und die Bundeswehr zum Einsatz kommt. Wenn es einen solchen beschränkten Bezug nicht gibt, bekommt man von der Realität vieler Regionen gar nichts mehr mit. Je größer dieses Defizit wird, desto stärker ist zu beobachten, dass sich das Berlinale-Publikum gerade für Filme aus diesen Regionen interessiert.
Filmfestivals kommt ein wichtiger Auftrag zu, die Diversität aufrecht zu erhalten. Gerade an die Berlinale werden da hohe Erwartungen gestellt. Es reicht nicht, sich auf die Fahnen zu schreiben, wie viele „exotische Länder“ man im Programm hat. Wir müssen uns Konzepte überlegen, wie man dafür dauerhafte Strukturen aufbaut. Plattformen bieten, Vermarktungsstrategien entwickeln, wie es zum Beispiel beim Berlinale Co-Production Market und beim World Cinema Fund passiert. Und für den Berlinale Talent Campus bedeutet, die „weißen Regionen“ auf der Filmweltkarte zu fördern, gezielt Talente von dort einzuladen und sie praktisch und moralisch zu unterstützen, ihre eigenen Projekte zu realisieren. Das ist mir eine Herzensangelegenheit.