2008 | Berlinale Talents
Landkarte der (Kino-)Gefühle
„Das Schöne an unserem Motto ‚Screening Emotions - Cinemas Finest Asset’ ist, dass auf der einen Seite wohl niemand eine umfassende Abdeckung aller Nuancen erwarten würde. Auf der anderen Seite haben wir aber genug Möglichkeiten, interessante, relevante und aktuelle Aspekte der Film- und Emotionalitätsdebatte zu thematisieren, zu präsentieren und - hoffentlich auch kontrovers - beim Campus zu diskutieren.“ Ein Gespräch mit Dorothee Wenner über den Talent Campus 2008: die komplexe Rolle der Emotionalität für das Filmschaffen, die Einbindung wirtschaftlicher Aspekte und das Vorhaben einer nachhaltigen Vernetzung.
Ihr setzt Euren Focus für den Talent Campus 2008 mit „Screening Emotions – Cinemas Finest Asset“ auf das sehr umfangreiche Thema Emotionalität und Film. Wird es ein Ziel des Campus sein, einen Einblick in die Komplexität und den Facettenreichtum der verschiedenen, filmischen Gestaltungsebenen von Gefühlswelten zu schaffen?
Auf jeden Fall. Der Talent Campus soll sich ja grundsätzlich mit neuen Tendenzen und relevanten Themen der Filmwelt beschäftigen. Bei der Suche nach einem Motto achten wir insbesondere darauf, dass es alle Phasen des Filmschaffens – von der ersten Idee bis zur Postproduktion – betrifft. Und diese Voraussetzung ist mit dem Thema „Screening Emotions“ definitiv erfüllt. Tatsächlich halte ich im Filmentstehungsprozess schon die erste Filmidee für extrem wichtig, gerade auf der Ebene von Emotionalität. Wenn ein junger Filmemacher beabsichtigt, sich einer Idee für die nächsten zwei, drei oder vielleicht auch fünf Jahre zu widmen, sollte er sich vorher viel Zeit nehmen und überlegen, ob der Reiz und die Substanz des Sujets ausreichen, um über einen langen Zeitraum damit leben zu können.
Welche Rolle spielt die Emotionalität in den anderen Phasen der Produktion?
Wenn man sich auf den Filmmärkten und –messen der Welt umschaut, ist sehr deutlich zu sehen, dass die emotionale Reichweite der Stoffe zu einem ganz wichtigen Kriterium für deren Realisierung und Erfolg geworden ist, sowohl im Spiel- als auch im Dokumentarfilmbereich. Produktionstechnisch sehe ich die Gefühlswelt fast eher als eine handwerkliche Kategorie. Im Grunde genommen weiß jeder Laie, dass die emotionale Filmerfahrung von der Art und Weise der Aufnahmen, des Lichts und des Tons extrem beeinflusst wird. „Handwerk“ soll dabei natürlich nicht heißen, dass diese Aufgaben einfach zu lösen sind. Im Gegenteil kommt es auch und gerade in diesen Bereichen auf eine Meisterschaft und ein Gespür an, um das anvisierte Ergebnis tatsächlich erzielen zu können. In der Postproduktion und Promotion wird wohl am meisten auf der Klaviatur der Gefühle herumgespielt. Gerade für die Werbung werden die Qualitäten eines Films oft mit emotionalen Attributen angepriesen. Hier lässt sich auch sehr gut – z.B. an der jeweiligen Gestaltung der Filmplakate - eine Unterschiedlichkeit bei der Gewichtung und Akzentuierung in den verschiedenen Kulturkreisen beobachten.
Spiegelt sich die Bandbreite der verschiedenen Ebenen des Filmschaffens, die Du jetzt kurz angerissen hast, auch in der Zusammensetzung der Teilnehmer und der Struktur der Veranstaltungen des Talent Campus wider?
Wir laden Menschen aus allen Bereichen des Filmschaffens und aus der ganzen Welt ein und für all diese Leute hat das Thema „Screening Emotions“ eine große Relevanz. Natürlich versuchen wir auf die unterschiedliche Zusammensetzung unserer Gäste zu reagieren, indem wir auf verschiedenen Ebenen Angebote machen. Erfahrungsgemäß besteht unter den Teilnehmern bereits ein großes gegenseitiges Interesse an den vielfachen Sicht- und Arbeitsweisen, die sich hier versammeln. Wenn wir als Campus es schaffen können, Menschen zusammenzubringen, die sich angeregt austauschen oder in Zukunft konkret zusammen Filme machen möchten, dann haben wir viel erreicht. In den vergangenen Jahren haben sich aus solchen Kontakten sehr viele Projekte ergeben.
Horizontale und vertikale Angebote zu einem komplexen Thema
Wir werden versuchen, das Thema des Talent Campus 2008 sowohl horizontal als auch vertikal anzugehen und mit einem großen Facettenreichtum möglichst viele Aspekte zu beleuchten sowie Berührungspunkte mit der Arbeit der Campus Teilnehmer aufzuzeigen. Gleichzeitig haben wir aber nicht den Anspruch, etwa ein übergreifendes Panel zu „Emotionalität im Film“ zu veranstalten. Das wäre nicht nur vermessen, sondern ich fände es auch uninteressant, weil zu weitläufig. Das Schöne an unserem Motto ist, dass auf der einen Seite wohl niemand eine umfassende Abdeckung aller Nuancen erwarten würde. Auf der anderen Seite haben wir aber genug Möglichkeiten, interessante, relevante und aktuelle Aspekte der Film- und Emotionalitätsdebatte zu thematisieren, zu präsentieren und - hoffentlich auch kontrovers - beim Campus zu diskutieren.
Vor dem Hintergrund, dass Gefühlswelten auch von historischen Bedingungen und soziokulturellen Kontexten abhängen, wird es ja vermutlich einen regen Austausch über die unterschiedlichen „emotionalen Realitäten“ unter den Campus-Teilnehmern geben.
Genau solche Unterschiede wollen wir ja auch thematisieren und diskutieren. Z.B. wird es eine Veranstaltung mit dem Arbeitstitel „Love International“ geben, bei der es aber nicht nur um Liebe gehen soll, sondern insgesamt um die kulturelle Codierung und Wahrnehmung von Gefühlen. Am offensichtlichsten lassen sich solche Differenzen im Bereich der Komödie finden. Aber auch bei Liebesdarstellungen erkennt man schnell, dass trotz aller Globalisierung die Codierung in den verschiedenen Kulturkreisen der Welt doch sehr unterschiedlich funktioniert. Man vergleiche nur mal die so genannte „Berliner Schule“ und die neue Emotionalität von jungen Paaren im deutschen Spielfilm mit Kult- und Liebesfilmen aus Mexiko, Indien oder China, da fallen einem die Differenzen sofort ins Auge
Individuelle Gefühlswelten werden heute einerseits zunehmend medialen Verwertungsstrategien und einer Konstruktionslogik unterworfen. Andererseits existiert bei vielen Kinogängern auch eine emotionale Sehnsucht nach dem Einzigartigen, Unvorhergesehenen und Unkalkulierbaren. Mit dem Untertitel des Mottos 2008 „Cinemas Finest Assett“ wollt Ihr ja offensichtlich auch einen offensiven Blick auf die wirtschaftlichen Belange der Branche werfen.
Wir haben den Titel bewusst gewählt, um der nicht zu unterschätzenden marktwirtschaftlichen Komponente des gesamten Themas gerecht zu werden. Der Begriff "Asset" eignet sich insofern gut, als neben seiner wirtschaftlichen Dimension sehr viele Unterbedeutungen und Schattierungsmöglichkeiten mitschwingen.
Eine Veranstaltung wird sich beispielsweise mit Biopics beschäftigen. Biopics als Genre sind seit kurzer Zeit extrem erfolgreich. Wir wollen uns mit einigen Filmbeispielen auseinandersetzen und gemeinsam überlegen, warum das Publikum heute wieder so gerne „reale“ Geschichten im Kino sehen möchte, seien es auch nur Filme, denen eine wahre Begebenheit zugrunde liegt, oder in denen auf bekannte Persönlichkeiten Bezug genommen wird.
Mit unserer neuen Kollegin Maike Mia Höhne von den Berlinale Shorts und mit dem Forum Expanded wollen wir außerdem eine Veranstaltung auf die Beine stellen, die sich mit der offenkundigen Renaissance des Kurzfilms befasst und sich auf die Suche nach den Ursachen dafür machen möchte. Dabei geht es auch um neue Präsentations- und Distributionsformen, z.B. im öffentlichen Raum oder in Kunstgalerien, die sich nachfolgend natürlich auch auf die Dramaturgie und die gestalterischen Aspekte der Filme auswirken. Diese Punkte gehören für uns ebenso zu den Wechselwirkungen zwischen Emotionalität, Filmproduktion und wirtschaftlicher Verwertung, mit denen wir uns befassen wollen.
Ganz praktisch wollen wir aber auch ein Programm für die Doc Station entwickeln, bei dem wir interessierte Produzenten zum Campus bringen, um einigen Talente die exquisite Möglichkeit zu verschaffen, ihre Projekte professionellen Branchenvertretern vorzustellen. Außerdem sollen wie schon in den vorherigen Jahren spezielle Touren über den European Film Market (EFM) für die Produzenten und Dokumentarfilmer des Campus angeboten werden. Auf vielfältige Weise versuchen wir also die räumliche Nähe des EFM und des Festivals zum Berlinale Talent Campus zu nutzen und von den möglichen Synergien zu profitieren.
Emotionalität stellt sich für mich - trotz der Techniken und Strategien, die man filmisch anwenden kann, um bestimmte Gefühle zu erzeugen - immer noch als etwas eher Abstraktes und schwer Greifbares dar. Geht es in der Vermittlung bis zu einem gewissen Grad um eine Übersetzungsleistung, die man gar nicht genau benennen kann?
Es gibt schon neuere Ansätze, gerade von Leuten aus der Filmwissenschaft, die sich dezidiert und umfassend mit diesem Thema auseinandersetzen. Sicher, niemand ist gezwungen sich mit den neueren, filmwissenschaftlichen Methoden zu beschäftigen, die diese Phänomene aufschlussreich analysieren. Aber an ein paar Stellen mit diesen Ansätzen in Berührung zu geraten und sich ein solches Wissen anzueignen, kann mit Sicherheit auch nicht schaden. Auch wenn wir natürlich versuchen über solche Dimensionen auf den einzelnen Panels sehr teilnehmerfreundlich zu reden und nicht in allzu akademischer Manier. Wir haben keineswegs den Wunsch oder Anspruch, an der Speerspitze der Filmwissenschaft zu stehen. Grundsätzlich würde ich mich aber schon über eine gegenseitige Annäherung der manchmal fast verfeindet wirkenden Lager Filmwissenschaft und Filmschaffen freuen. Und vielleicht ist der Campus ja ein geeigneter Ort dafür.
Sowohl im Film als auch in der Gefühlswelt lässt sich ein grundlegendes Motiv der Bewegung feststellen. Kann dieses Motiv, sozusagen als eine Bewegung der Veränderung, auch als Motivation des Campus gelten, z.B. als Ermutigung, ästhetisch neue Pfade einzuschlagen?
Wir schreiben den Talents keinesfalls einen Weg vor, sondern wollen sie darin bestärken etwas Eigenes zu wagen, und insofern wollen wir natürlich eine solche Bewegung erreichen. Unser Modell beruht darauf, dass die Talente in Case Studies, Workshops und Kleingruppenarbeit etc. interessanten und auch erfolgreichen Filmschaffenden begegnen, von denen sie sich für ihren ganz persönlichen Weg inspirieren lassen. Was den Campus ausmacht, ist eine vielfältige Auseinandersetzung mit dem eigenen Schaffen, zu der vielen Teilnehmern im Alltag die Möglichkeiten fehlen. Auf diese Weise wollen wir dazu beitragen, dass die Talente ein, für eine produktive Kreativität unbedingt notwendiges, Gegenüber finden. Das ist die große Idee, die dahinter steckt.
Für genauso erstrebenswert und wirklich essentiell halte ich, dass sich Menschen bei uns zusammenfinden, die sich ohne Ängste über ihre zukünftigen Projekte austauschen können. Beim Filmschaffen gibt es sehr selten wirkliche Momente von Vertrauen, was kein Wunder ist in einer Branche, in der moralische Kategorien auch aufgrund des immensen Konkurrenzdrucks keine große Rolle zu spielen scheinen. Solche Vertrauensmomente herzustellen, ist dem Talent Campus in den letzten Jahren aber zum Glück immer wieder gelungen, wie uns von vielen Seiten bescheinigt wird.
Nachhaltiges Gerüst - der Campus als kontinuierliche Vernetzung
Wie sieht es nach dem Festival aus? Haben die Teilnehmer die Möglichkeit, die Angebote des Campus auch über die fünf Veranstaltungstage hinaus zu nutzen?
Wir arbeiten mit großer Vehemenz daran, den Campus als ein permanentes Gerüst für Hilfestellungen aller Art und konkrete Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Insbesondere über unsere „hands-on“-Programme - die Doc Station und die Script Station, den Talent Project Market, die VW Score Competition, die Talent Press und das Garage Studio - versuchen wir konkreten Projekten ein strategisches Netzwerk mit Fachleuten zu bieten, auf das man auch nach dem Festival zugreifen kann.
Der Netzwerkgedanke findet auch im Internet seinen konkreten Niederschlag. Zusammen mit unserem Kollegen Marcus Forchner entwickeln wir eine Art Community-Software für ein Business-to-Business-Tool. Unsere Website soll im Idealfall so funktionieren, dass sie das gesamte Jahr über von den Talenten und unseren strategischen Partnern genutzt wird, um die richtigen Leute für das jeweilige Projekt ausfindig zu machen oder um ein interessantes Projekt zu finden, bei dem man sich gerne einbringen würde. Eine nachhaltige Wirkung in diese Richtung gehört zu unseren größten Wünschen und Zielen.
Eure komplett neu gestaltete Website funktioniert ja aber nicht nur als arbeitstechnische Vernetzung. Mit den abrufbaren Vorträgen, Filmen und Videos dient sie ja z.B. auch als reichhaltige Wissens- und Inspirationsquelle.
Das Community-Tool ist nur ein Aspekt der Seite, wenn auch ein wichtiger. Durch den Relaunch wollen wir auch unseren Fundus der Öffentlichkeit und den Filmschaffenden zugänglicher machen. Die diversen Telelectures, die dort abrufbar sind, bieten die Möglichkeit, sich von Experten inspirieren zu lassen oder Anregungen zu bekommen, in welche Richtung das eigene Schaffen weitergehen soll. Die diesjährige Lecture von John Waters ist z.B. eine besondere Perle, die einem eine unheimliche Lust macht, einfach loszulegen und den nächsten Film anzugehen. Dieses Angebot soll natürlich nicht nur für unsere Community, sondern für alle Filmbegeisterten mit Internetzugang nutzbar sein. Das gilt übrigens auch für fast alle Veranstaltungen während des Festivals, die zu einem Großteil öffentlich und für alle Interessierten zugänglich sind. Darauf legen wir sehr großen Wert.
Mit den Räumlichkeiten im HAU ward Ihr offensichtlich zufrieden. Wird die Programmierung ähnlich aussehen wie im letzten Jahr?
Die Aufteilung soll im Wesentlichen so bleiben. Was uns besonders gefallen hat, ist die Unterschiedlichkeit der Räume und die sich daran anschließende Vielzahl der Möglichkeiten für die verschiedensten Veranstaltungsformate. Im HAU1 hat man es eher mit dem klassischen Modell einer Proszeniumsbühne zu tun, die wir auch dementsprechend z.B. für Vortragssituationen nutzen wollen. Das HAU2 und das HAU3 laden im Vergleich dazu zu ganz anderen Formen des Austauschs ein. Dort kann je nach Größe und Art der Veranstaltung - ob Gruppenprozess, Mentorenbetreuung mehrerer Talente oder One-to-One-Situation - mit Sitzordnungen und Aufteilungen experimentiert werden.
Beispielsweise planen wir zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung einen Workshop mit mehreren Gruppen durchzuführen. Bereits auf dem letzten Campus haben wir ja mit der Stiftung ein Thema aufgegriffen, das in unseren Augen für das heutige und zukünftige Filmschaffen sehr relevant ist. Dabei ging es im weitesten Sinne um eine Reformierung der Förderstrukturen und das zunehmende Interesse von Stiftungen, Menschenrechtsorganisationen und NGOs an einer eigenen medialen Repräsentation und Kampagnenarbeit mithilfe selbst produzierter Filme. Diese Form des Austauschs zwischen solchen Organisationen und den Talenten möchten wir nun durch die gemeinsame Veranstaltung mit der Heinrich-Böll-Stiftung gerne weitertreiben.
Dieses Jahr hat neben Neu Dehli und Buenos Aires auch ein Campus Abroad in Sarajewo stattgefunden. Wie funktioniert der Austausch mit den Partnerinitiativen?
Das klappt hervorragend. Und Sarajewo war super, die Kooperation ist geradezu blitzartig nach der letzten Berlinale entstanden. Was den konkreten Austausch betrifft, besteht grundsätzlich für alle Campus Teilnehmer die Möglichkeit, sich ein zweites Mal zu bewerben, also nach einem Campus Abroad nach Berlin zu kommen bzw. anders herum. Beides halten wir für äußerst sinnvoll. Insgesamt freuen wir uns sehr, dass die Zusammenarbeit und Vernetzung mit den Initiativen so gut funktioniert, und wir planen, die bestehende Infrastruktur weiter zu verbessern und dauerhaft für beide Seiten nutzbar zu machen.