2009 | Perspektive Deutsches Kino
Konjunktur des Familiären & eigene Lebenswege
Dass der deutsche Film kein Nachwuchsproblem hat, zeigt einmal mehr die Perspektive Deutsches Kino. Dafür sprechen nicht nur das Aufgebot bekannter deutscher Schauspieler und bereits erfolgreicher Jungfilmemacher, sondern auch die diesjährigen Debütbeiträge der Reihe. Ein Gespräch mit Sektionsleiter Alfred Holighaus über das Programm 2009, in dem familiäre Beziehungen, unergründliche Verhaltensweisen und unterschiedliche Formen der Reife zentrale Rollen spielen.
Wie stellte sich der Auswahlprozess in diesem Jahr dar? Gab es ein Überangebot an guten Filmen oder war die Suche eher eine nach Nadeln im Heuhaufen?
Alfred Holighaus: Mit circa 300 gültigen Einreichungen gab es mehr Anmeldungen als jemals zuvor. Das bedeutet vor dem Hintergrund der wenigen Programmplätze der Perspektive Deutsches Kino natürlich ein reichhaltiges Überangebot. Trotzdem war die Zusammenstellung eines zufrieden stellenden Programms letztlich gar nicht so einfach. Gerade was abendfüllende Spielfilme angeht, hatten wir durchaus einen Engpass an überzeugenden Einreichungen zu verzeichnen. Es ist schon auffällig, dass wir am Ende nur einen Spielfilm im Programm haben, der länger als 90 Minuten ist. Andere sind halb so lang. Oder eine Stunde. Oder gut 80 Minuten. Wir haben in diesem Jahr auf jeden Fall das Programm mit den kürzesten Langfilmen.
Wie sieht es mit den Filmhochschulen aus? Zugegeben, leichte Anteilsschwankungen sind ja normal, aber wenn ein Drittel der Perspektive-Beiträge aus Ludwigsburg kommt, wirkt das nicht mehr wie ein zufälliger Ausschlag?
Es ist auffallend. Ein Zufall ist es wohl eher indirekt. Wir machen ja kein Quoten-Programm, sondern sehen uns die Filme an und wählen sie nach ihrer Qualität aus. Gerade die Filme, die wir in diesem Jahr aus Ludwigsburg haben, sind zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Kanälen zu uns gekommen. Man fährt ja nicht nach Ludwigsburg, guckt sich alle Filme an und hat dann am Ende des Tages drei Programmbeiträge. Da spielen oft längerfristige Prozesse und Verbindungen eine Rolle.
Stefan Schaller hatte zum Beispiel schon im letzten Jahr mit einem Film meine Aufmerksamkeit geweckt, der aber leider zum falschen Zeitpunkt fertig wurde. Als er dann Jedem das Seine bei uns vorgelegt hat, der meine Erwartungen sogar noch übertraf, war mir gleich klar, dass er im diesjährigen Programm laufen muss. In dieser Weise entwickeln sich die Dinge oft eher nach und nach, als dass man Filmhochschulen gegeneinander ausspielen würde. Es geht immer um den einzelnen Film. Was dann am Ende statistisch daraus wird, ist – rein mathematisch betrachtet – Zufall. Aber vielleicht ist diese Schule gerade in einem guten Zustand.
Wie jedes Jahr gibt es auch einige Filme, die in Zusammenarbeit mit dem Fernsehen entstanden sind. Engagieren sich die Fernsehanstalten genug und setzen auf junge, ideenreiche Filmemacher? Oder wagen sie manchmal eventuell zu wenig?
Ich finde nicht, dass sie zu wenig wagen. Man muss ja auch ein bisschen aufpassen, dass man nicht am Ende zuviel Nachwuchs hervorbringt (lacht). Nein, das machen die eigentlich ganz gut. Das läuft allerdings nur auf zwei Ebenen ab: Das Flaggschiff ist sicherlich „Das kleine Fernsehspiel“ vom ZDF, das den jungen Regisseuren im Zuge ihrer Unterstützung keine Grenzen setzt, sei es inhaltlich, formal oder auch zeitlich. Ihnen geht es wirklich um den Stoff, den sie zusammen mit den Filmemachern entwickeln und produzieren wollen. Hier finden sich natürlich auch viele Filmhochschüler wieder, die ihren ersten langen Film machen. Oft genug entstehen daraus bereits richtige Kinoformate.
Als weitere Möglichkeit gibt es das „Debüt im Dritten“ bei verschiedenen Anstalten der ARD, bei dem man eigentlich das gleiche Phänomen beobachten kann, nur eben etwas genauer formatiert. Dass die Privaten sich diesbezüglich nicht engagieren, liegt, glaube ich, in der Natur der Sache: Die haben keinen Kulturauftrag. Und Nachwuchs zu fördern hat natürlich mit einem Kulturauftrag zu tun.
„Irgendwie scheint man das Kleine zu brauchen...“
Familiäre Angelegenheiten sind immer wieder bei Euch im Programm vertreten. Diesmal tragen in zwei Filmen Söhne ihr zwiespältiges Verhältnis zu ihren Vätern aus: Martin Buskers Höllenritt und Polar von Michael Koch. Steht hier tatsächlich noch so etwas wie der Untergang der Kernfamilie und die Gewöhnung an neue Lebenspartner der Eltern im Mittelpunkt oder was steckt dahinter?
Interessanterweise hat das Thema in diesem Jahr regelrecht Konjunktur, auch wenn es natürlich, wie Du sagst, seit jeher eine wichtige Rolle bei der Perspektive gespielt hat. Das erklärt sich meiner Meinung nach aus der generellen, ja sogar weltweiten Tendenz, dass die Familie wieder zu einem bedeutungsvollen Wert wird, zu einem Refugium, das sozusagen einen Schutz vor den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswüchsen der Globalisierung bietet. Beim diesjährigen Festival ist dieses Thema geradezu allgegenwärtig, in den Filmen des Wettbewerbs ist es sogar noch mehr zu sehen als in der Perspektive. Immer wieder und in allen Sektionen geht es um zerbrochene Beziehungen, um das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern und umgekehrt. Irgendwie scheint man das Kleine zu brauchen, weil das Große immer größer wird. So würde ich mir das erklären.
Ihr habt als ein wiederkehrendes Motiv der Perspektive Deutsches Kino 2009 den Rand der Abgründe bezeichnet. Geht es aber nicht oft ebenso um die Suche nach einem Platz innerhalb der Gesellschaft? Nicht unbedingt im Sinne von Normalität, aber doch immer noch mit einem gewissen Draht zum gesellschaftlichen Konsens? Gibt es überhaupt noch ein Außerhalb von Gesellschaft?
Ich hab auch ganz bewusst nicht außerhalb, sondern Rand gesagt. „Abgrund“ klingt zudem spannender, wir haben den Cliffhanger ja nicht umsonst als wichtiges dramaturgisches Mittel. In den Filmen stehen tatsächlich Personen und Figuren im Mittelpunkt, die völlig eigene Positionen einnehmen und vertreten, weswegen sie in der öffentlichen Wahrnehmung eher am Rande stehen. Interessanterweise handeln alle drei langen Dokumentarfilme von Menschen, die sich bestimmten gesellschaftlichen Normen nicht anpassen, sondern ihren ganz eigenen Weg gehen. In Peter Dörflers Achterbahn geht es um einen Mann, der seine ganz persönliche Lebensvision verfolgt, dabei allerdings spätestens einen Riesenscheiß baut, als er in Südamerika seinen eigenen Sohn in den Knast bringt.
Da taucht dann auch der Familienbund wieder auf?
Das zieht sich wirklich durch viele Filme. Der Protagonist in Claudia Lehmanns Film Hans im Glück, Hans Narva, ist einfach nie mit der Masse geschwommen, sondern immer seinen eigenen Weg gegangen. Übrigens hat der auch noch einen Sohn, den er ab und zu mal trifft. Jedenfalls hat Hans Narva ein ungeheuer originelles Weltbild, mit dem er sich permanent selbst betrügt, anderen aber auch regelmäßig Freude bereitet. Die Dinge sind eben oft zwiespältig.
Und bei Wir sind schon mittendrin von Elmar Szücs ist man als Zuschauer erstmal geneigt zu fragen, wann die Protagonisten denn um Gottes Willen endlich mal erwachsen werden. Dabei haben sie längst eine Form der Reife erlangt, nur entspricht diese nicht der gesellschaftlichen Norm. Dementsprechend wirft der Film die Frage nach der „richtigen“ Definition von Reife auf. Die Reife, die eigentlich in allen drei Dokumentarfilmen verhandelt wird, hat eben nichts damit zu tun, gesellschaftlich angepasst zu sein und alles mitzumachen, sondern sie besteht in der Entwicklung und Behauptung eines eigenen Lebensweges.
Souverän die Form füllen
Brechen die Filme der diesjährigen Perspektive auf der formalen Ebene eher bewusst Regeln oder versuchen sie bestehende Formen auszufüllen?
Ich würde eher sagen, dass sie mit den bestehenden Formen und Regeln gut und souverän umgehen. Wir haben in diesem Jahr nicht die große Leistungsschau im Umgang mit neuen Formen oder Dramaturgien. So etwas Raffiniertes wie zum Beispiel Drifter im letzten Jahr, der eine ganz außergewöhnliche Dramaturgie und Machart hatte, haben wir diesmal nicht. Gerade die Dokumentarfilme sind alle – wie man im Fiction-Bereich sagt – „character-driven“. Sie spüren ihren Protagonisten nach und daraus ergibt sich dann die Form. Keine formalen Experimente.
Das trifft dann also auch auf Gitti zu?
Da ist es in gewisser Hinsicht sogar am stärksten der Fall. Der Film erreicht seine hohe Qualität in erster Linie durch die extreme Öffnung seiner Hauptfigur. Klar, auch Hans Narva legt sein komplettes Leben aus, aber der ist das Auftreten – als Musiker und Performing Artist – in gewisser Weise ja auch gewöhnt. Gitti hat darin keine Übung und lässt sich bei ihrer Männersuche im Rentenalter tief in die Karten gucken - und das auch noch bei sich zuhause. Jemanden so weit zu bringen, das hat schon eine andere Qualität und verlangt dem Filmemacher einiges ab.
Distanz von Thomas Sieben hört sich nach einem ganz eigenartigen Film an, der sich nur abstrakt beschreiben lässt. Als ich von einer schizoiden Figur und Kontrollverlusten las, dachte ich zuerst an Das weiße Rauschen. Passt diese Assoziation?
Das habe ich ganz bewusst so abstrakt formuliert. Aber die Assoziation Der freie Wille würde besser passen. Der Film ist ganz anders als Das weiße Rauschen, in dem ja im Grunde für ein Krankheitsbild Kinobilder gefunden werden. In Distanz wird keine Krankheit beschrieben, jedenfalls nicht vordergründig. Es wird eine rätselhafte Figur erzählt, was sehr stark fürs Kino ist und was man auch aushalten muss. Nichts wird dem Zuschauer erklärt und genau darin liegt die Qualität. Es wird an keiner Stelle gesagt, dass es ein schizoider Typ ist, und es wird auf keine Weise erläutert, warum er eigentlich so ist. Aber der Film zeigt, dass es das gibt. Außerdem ist er sehr gut erzählt, hat eine strenge und ruhige Bildsprache und ist wahnsinnig spannend.
Perspektivisch gewachsen
Ihr habt mit Lars Jessen, der die Romanverfilmung Dorfpunks mitbringt, einen Regisseur eingeladen, der 2005 den Max-Ophüls-Preis gewonnen hat und dessen Film jetzt bereits einen Verleih und einen Weltvertrieb hat. Inwiefern passt ein relativ etablierter Filmemacher wie er noch in das Beuteschema der Perspektive?
Das ist tatsächlich erst Jessens zweiter Kinofilm, er hat zwischendurch Fernsehen gemacht, einen sehr gut besprochenen Tatort zum Beispiel. Außerdem hat Dorfpunks von den Produktionsumständen, der Form und dem Inhalt her wirklich viel mit der Perspektive zu tun. Eigentlich laden wir so gut wie nie einen Regisseur zweimal ein, aber es ist auch mal gut zu zeigen, dass die Leute sich entwickeln. Das ist dieses Jahr übrigens gleich zweimal der Fall. Claudia Lehmann, die Regisseurin von Hans im Glück, war vor zwei Jahren mit einem kurzen Spielfilm bei uns, den sie an der Hochschule gemacht hat. Ihr jetziger Film ist nach ihrem Studium und frei produziert. Ganz andere Form, völlig anderer Inhalt und vollkommen andere Produktionsumstände.
Sandra Hüller, Franziska Petri, André M. Hennicke sind nur drei von einigen bekannten Schauspieler-Namen, die in eher kleineren Produktionen der diesjährigen Perspektive mitgespielt haben. Gehört ein solches Engagement bei jungen Nachwuchsfilmern heutzutage glücklicherweise zum guten Ton? Sind die Filme sehr auf diese Schauspieler zugeschnitten?
Ich freu mich sehr über die Frage, weil ich mich immer gefragt habe, wo ich denn mal anbringen kann, dass wir diese ganzen tollen Leute bei uns haben. Nein, es ist wirklich auffällig, irgendwo aber auch nicht ganz inkonsequent, denn in den letzten sieben Jahren hatten wir eigentlich immer Schauspieler dieser Kategorie und Größe bei uns im Publikum. Dass sie jetzt auf der Leinwand sind, ist mir gar nicht unrecht.
Ich freue mich wirklich sehr, diese Leute in unserem Programm begrüßen zu können. Und glücklicherweise sind in diesem Jahr besonders viele Bekanntheiten zu sehen, die sich für den Nachwuchs interessieren und engagieren. Im Falle von Distanz ist Ken Duken ja sogar Produzent des Films. Auch eine Tendenz, die man immer öfter beobachten kann. Und wenn man als deutscher Schauspieler Produzent wird, kann man eben nicht gleich einen Riesenfilm machen, das sind dann meist Low-Bugdet- oder Newcomer-Produktionen – so wie hier eben auch.
„Auf sie zugeschnitten“ würde ich im Fall von Distanz insofern denken, als ich mich erinnern kann, dass Ken die Rolle auch unbedingt spielen wollte. Bei Franziska Petri und Sandra Hüller glaube ich auch, dass es bereits eine Vision gab. Aber letztlich muss man das die Regisseure selbst fragen. Am besten bei uns im Kino.