2011 | Generation
Innenansichten mit Aussicht
Die Kinder- und Jugendsektion Generation geht 2011 mit einem vielschichtigen Programm, dem gewohnten Elan und in einer neuen Spielstätte ans Werk. Im Interview sprechen Sektionsleiterin Maryanne Redpath und ihr Stellvertreter Florian Weghorn über Filme auf Augenhöhe, formale Grenzerfahrungen und die willkommene Genre- und Themenvielfalt der Kplus- und 14plus-Filme.
Die Premieren der beiden Wettbewerbe Generation Kplus und Generation 14plus werden dieses Jahr wieder unter einem gemeinsamen Dach stattfinden. Was bedeutet für Euch diese Zusammenführung? Und wie groß ist die Vorfreude auf die neuen Spielorte im Haus der Kulturen der Welt?
MR: Wir freuen uns sehr, mit dem Haus der Kulturen der Welt ein richtiges Zentrum für die Sektion zu haben. Für die Generation 14plus-Premieren ist natürlich auch die Steigerung der Sitzplatzanzahl von 400 auf 1000 ein immenser Fortschritt, über den sich vor allem die Zuschauer freuen können.
FW: Das HKW gibt uns die Möglichkeit, von morgens bis abends insgesamt acht Vorführungen zu spielen. Da kommt schon das Gefühl eines richtigen Generation-Hauses auf, in dem einerseits das festivaltypische Kommen und Gehen herrscht, andererseits aber auch die Besucher, die mehrere Filme aus der Sektion sehen wollen, ein Zuhause finden. Sie können zwischendurch ins Café gehen oder im Restaurant zu Mittag essen – ohne dass sie hinaus ins Berliner Winterwetter müssen.
Bilder auf Augenhöhe
Kommen wir auf die Filme Eures diesjährigen Programms zu sprechen: Drehen sich die Werke vor allem um die Gefühls- und Gedankenwelten junger Menschen, um ihre Träume und Fantasien?
FW: Manche Filme thematisieren das, aber es ist nicht die Überschrift, unter der sich alle Filme fassen ließen. Erträumte Fantasiewelten und Zufluchtsorte als Notfallunterkunft sind Pole, zwischen denen sich unsere Protagonisten bewegen.
MR: Beim Stichwort ‚Fantasiewelten’ denke ich sofort an A Pas de Loup (On The Sly) von Olivier Ringer im Kplus-Programm. Eine Art Kammerspiel, wie wir es noch nie gesehen haben. Der Film wird ausschließlich vom inneren Monolog eines Mädchens getragen. Sie offenbart uns ihren nagenden Zweifel, ob sie von den Eltern überhaupt wahrgenommen wird. Das Mädchen entscheidet sich für die Unsichtbarkeit: Sie läuft davon, taucht gänzlich ab in einen großen Wald. Formal beeindruckend finden wir, wie die Erwachsenenwelt nur unscharf oder im Anschnitt zu sehen ist. Die Bildgestaltung entspricht ganz der Wahrnehmung des Mädchens – berührend für Kinder und Erwachsene gleichermaßen.
FW: Wir mögen diese Filme auf Augenhöhe, die sich nicht zu den Kindern herabbeugen oder falsche Sentimentalität mit dem bemitleidenswerten Kind inszenieren. In diesem Zusammenhang ist auch der iranische Film Bad o Meh (Wind & Fog) von Mohammad Ali Talebi zu nennen. Ein Junge ist durch ein traumatisches Kriegserlebnis verstummt; dass ihm etwas Furchtbares zugestoßen ist, kann man an seinem Gesicht ablesen. Da mag der Zuschauer nicht vorbeischauen, aber er kann auch den allmählichen Prozess einer Besserung durchleben. Eine metaphysische Reise zurück ins Ich, von Talebi in atemberaubenden Bildern inszeniert.
Die Filmfiguren werden also nicht nur mit ihrer Umwelt, der Außenwelt, sondern auch mit sich selbst konfrontiert.
FW: Die Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen sind fließend. Beispielhaft ließe sich ein Film aus 14plus nennen: Apflickorna (She Monkeys) der schwedischen Debütfilmerin Lisa Aschan setzt ein psychisches, inneres Missbefinden in eine äußere Szenenwelt. Ein Mädchen entwickelt eine symbiotische Freundschaft zu einem anderen Mädchen, und es wirkt bisweilen so, als stünde ihr ein Teil ihres Selbst gegenüber. Diese Beziehung ist bestimmt durch gegenseitige Kontrolle und perfide Machtkämpfe.
MR: Und dabei urteilt der Film nicht. Im Gegensatz zu den gängigen Klischees zeigt Apflickorna pubertierende Mädchen, die sich selbst und anderen fürchterliche Sachen antun. Das überträgt sich auf den Zuschauer, denn der Film ist auch formal sehr streng. Das ist herausfordernd beim Schauen des Films, aber es ist auch beeindruckend gut gelungen. Wir wollen diese Ambivalenz im Programm und die Diskussion, die sie auslösen kann.
In Las Malas Intenciones (The Bad Intentions) von Rosario García-Montero wird der Tod sehr explizit thematisiert. Welchen Umgang findet der Film damit, dass er ein Kinderpublikum anspricht?
FW: Las Malas Intenciones zeigt die politische Situation Perus in den 1980er Jahren, eine hochbrisante Zeit unter der Herrschaft eines Terrorregimes. Diese gefährliche Lage ist im Film allgegenwärtig – es hängen tote Hunde an den Straßenlaternen –, aber der politische Hintergrund ist nicht durch und durch erklärt. Das Verstehen geht nur so weit, wie der Wahrnehmungshorizont des Mädchens reicht. Darin liegt die Magie des Films, und das legt auch dem jungen Publikum den Zugang.
MR: Der Film nimmt sich viel Zeit, das Milieu des Mädchens zu entfalten. Sie lebt in einem Elfenbeinturm, in gutsituierten bürgerlichen Verhältnissen, aber kaum in Kontakt mit ihren Eltern. Das Mädchen verliert sich in Todesfantasien – bis hin zur Entscheidung, an dem Tag zu sterben, an dem die Mutter ihren Bruder zur Welt bringt. Die verbleibenden Monate erleben wir im Film und sehen, wie das Mädchen auf ihre Art Abschied nimmt. Trotz des ernsten Themas ist dieser Film nicht über die Maßen dramatisch, sondern sensibel inszeniert – ein Augenöffner und eine persönliche Weltbetrachtung.
Die Leichtigkeit des Schweren
Kinderfilme haben in den Augen vieler Erwachsener immer noch möglichst bunt und lustig zu sein. Ihr setzt dieser Auffassung etwas entgegen und sprecht z.B. vom „Arthouse“-Kino für Vierjährige. Wie begegnet Ihr Einschätzungen, in Eurer Sektion stünden Spaß und Humor hinter ernsthaften Themen und Filmen zurück?
MR: Das tun sie nicht, unser Begriff von Unterhaltung geht viel weiter. Wenn man das Programm als Ganzes in den Blick nimmt, erkennt man die Mischung von Themen und Genres. Und innerhalb dieser Fülle gibt es viele Stoffe, die eine leichte oder positive Perspektive auf die Welt werfen. Der Eröffnungsfilm in Kplus ist für uns ein Kinderfilm der neuen Generation. Das Erste-Liebe-Drama Jørgen + Anne = Sant (Jørgen + Anne = Für immer) ist oft rasend schnell und humorvoll und taucht dabei tief hinein in ein ganz ernsthaftes Problem. Hier wird nichts zum vermeintlichen Schutz der Kinder geschönt oder vereinfacht. Regisseurin Anne Sewitsky hat schon beim vorletzten Festival mit ihrem preisgekrönten Kurzfilm Oh, My God! (Oh, mein Gott!) höchst unterhaltsam ein paar Tabus gebrochen; mit dem neuen Film wird das auch wieder gelingen.
Stimmen die beiden dokumentarischen Langfilme Sampaguita - National Flower und Mit dem Bauch durch die Wand in erster Linie nachdenklich, sensibilisieren, berühren sie das Publikum in besonderer Weise oder worauf zielen sie ab?
MR: Die beiden Filme sind kaum vergleichbar, denn sie haben ganz unterschiedliche Herangehensweisen an die Wirklichkeit, die sie darstellen. Sampaguita ist ein gutes Beispiel für die sehr aktive philippinische Kinoszene. Der Regisseur Francis Xavier E. Pasion lehrt an der Filmhochschule „unabhängigen Film“ und macht gleichzeitig mit der Handkamera eigene Projekte. Sein Dokumentarfilm hat eine fiktionale Rahmenhandlung, die fließend in die Dokumentarhandlung übergeht. Er trifft mit dem Film eine deutliche Aussage zur Situation seines Landes: Die Sampaguita-Blume wird dem Zuschauer gleich zu Beginn als Nationalsymbol vorgestellt; das Schicksal der jungen Blumenpflücker und -verkäufer bekommt so eine größere Bedeutung.
FW: Für Mit dem Bauch durch die Wand hat die Schweizer Regisseurin Anka Schmid über drei Jahre jugendliche Mütter und Väter auf ihrem Weg ins Erwachsensein begleitet. Die jungen Eltern wollen natürlich wie ihre Altersgenossen auf Partys gehen, gleichzeitig müssen sie sich aber 24 Stunden um ihre Kinder kümmern. Das eine Paar lebt sich schnell in die Kleinfamilienstruktur ein: Ein zweites Kind ist bald unterwegs, sie kaufen ein Auto und so weiter. Ein anderes Mädchen zieht mit einer Freundin zusammen und versucht auf diese Weise, ihr Leben zu managen. Die dritte gibt ihr Baby in das Kinderheim, in dem sie selbst aufgewachsen ist. Diese verschiedenen Lebenskonzepte werden im Film wertfrei vorgestellt – man sieht, wie sich die Jugendlichen mit der ungewöhnlichen Situation arrangieren oder eben nicht.
Im Rahmen von Cross-Section bietet ihr dieses Jahr Filme aus beinahe allen anderen Sektionen des Festivals. Wollt ihr das junge Publikum bewusst mit dem Festival als Ganzem bekannt machen?
FW: Wir wollen dem jungen Publikum zunächst einmal die Möglichkeit geben, geeignete Filme aus anderen Sektionen zu sehen. Die Auswahl in allen Sektionen ist dieses Jahr beachtlich, allein im Wettbewerb sind fünf Filme programmiert, die thematisch auch in unsere Sektion gepasst hätten. Eine kleine Auswahl zeigen wir nun im Rahmen von Cross-Section für die unter 18-jährigen Besucher des Festivals.
MR: Auf keinen Fall verpassen sollte man Street Kids United, einen Dokumentarfilm aus Südafrika, den wir außer Konkurrenz zeigen, weil uns das Projekt so begeistert hat. Tim Pritchard hat Straßenkinder im südafrikanischen Durban begleitet – von der Straße mitten hinein in den ersten „Street Child World Cup“. Da spielen sie dann Fußball gegen Straßenkinder aus Indien oder den Philippinen – am Ende gewinnen sie sogar als erste südafrikanische Mannschaft gegen Brasilien. Das werden wir mit den anwesenden Teammitgliedern bei der Premiere hier in Berlin noch einmal nachfeiern.