2014 | Perspektive Deutsches Kino
Eine gute Mischung Nachwuchs
Das Programm der Perspektive Deutsches Kino ist 2014 besonders vielfältig. Genrefilmen wird ebenso eine Plattform geboten wie typischen Festivalfilmen. Im Interview spricht Sektionsleiterin Linda Söffker über selbstreflexive Momente, besondere Handschriften, die Freude, mit den filmischen Mitteln zu spielen, fliegende Gedanken und eine Filmvorführung in der JVA Tegel.
Du hast es selbst in der Pressemitteilung geschrieben: Auffällig am diesjährigen Programm der Perspektive Deutsches Kino sei, dass viele junge Filmemacher ihre Geschichten im Ausland finden. Kann man daraus auf das Fernweh der Regisseure schließen oder hat diese Entwicklung auch mit ihren Biografien zu tun?
Ich gehe davon aus, dass es das Fernweh schon immer gab. Aber durch billigere Flüge sowie günstigeres und leichteres Ton- und Kameraequipment, rückt die Ferne näher. Außerdem steigt die Anzahl der internationalen Koproduktionen, wodurch insgesamt mehr Bewegung im Nachwuchsbereich entsteht. Umgedreht spielt es natürlich eine Rolle, dass immer mehr ausländische Regisseure in Deutschland ausgebildet werden. Viele suchen und finden Themen in ihren Heimatländern, im diesjährigen Programm zum Beispiel der Gewinner des First Steps Award 2013: Lamento. Der Regisseur Jöns Jönsson hat seine Ausbildung an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg gemacht, die fiktionale Geschichte seines Abschlussfilms aber in seiner Heimat Schweden angesiedelt. Lamento ist ein stiller, sehr berührender Film um eine trauernde Mutter, deren Tochter sich umgebracht hat.
Die Filmemacher der Dokumentarfilme Flowers of Freedom von Mirjam Leuze und Bosteri unterm Rad von Levin Hübner haben ihre Themen dagegen in Kirgisistan gefunden, ohne dass die Regisseure einen biografischen Bezug zur kirgisischen Kultur haben. Bosteri ist ein Urlaubsort im Norden des Gebirgssees Issyk-Ku. Für zwei Monate im Jahr ist die Hauptattraktion ein Riesenrad, das für die restlichen zehn Monate still steht. Und Flowers of Freedom spielt südlich desselben Sees, wo Umweltaktivistinnen gegen einen kanadischen Konzern einer Goldmine kämpfen.
Und im Fall von Amma & Appa hat sich die Regisseurin Franziska Schönenberger in einen indischen Mann verliebt. In ihrem sehr persönlichen Dokumentarfilm erzählt sie von ihren Hochzeitsplänen, lernt seine Familie und sein Land kennen. Dieses selbstreflexive, private Moment findet sich immer wieder in Nachwuchsarbeiten. Die Familie spielt oft eine zentrale Rolle, wie dieses Jahr im Eröffnungsfilm Hüter meines Bruders von Maximilian Leo und auch in El carro azul (Das blaue Auto) von Valerie Heine, beides Geschichten über zwei Brüder.
In Anderswo wird die Rückkehr in die Heimat ausdrücklich zum Thema gemacht…
Genau wie die Regisseurin ist auch die Hauptfigur des Films in Israel aufgewachsen, studiert aber in Berlin. Am Anfang ist Berlin cool, aber als Probleme bei der Arbeit und mit dem Freund auftauchen, sehnt sich Noa nach ihrer Familie und ihrer Heimat. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie sich auch in Israel nicht mehr zu Hause fühlt.
Ist Neuland dann das dokumentarische Pendant dazu?
Neuland ist als Gast der Perspektive eingeladen. Seit drei Jahren zeigen wir am Publikumstag am letzten Sonntag des Festivals den Gewinner des First Steps Award für den besten Dokumentarfilm. Anna Thommen portraitiert in Neuland einen schweizerischen Lehrer, der Flüchtlingen aus Afghanistan, Kamerun, Serbien und Venezuela Deutschunterricht gibt. Ein toller Pädagoge, der versucht den Jugendlichen einen Einstieg in die Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei wird auch die Frage behandelt, inwieweit sich die Schüler an ihre neue Umgebung anpassen müssen und wie schmal der Grad ist, sich dabei selbst zu verlieren.
Vom Spielerischen und Unperfekten
In der Pressemitteilung hast Du auch Filme von Regisseuren erwähnt, die bekannte Geschichten mit neuen Bildern in einer interessanten Dramaturgie erzählen. Auf welche Filme des diesjährigen Programms trifft das zu?
Für mich ist das eher eine generelle Überschrift für die Perspektive Deutsches Kino. Mirjam Leuze hat zum Beispiel viele dokumentarische Formate fürs Fernsehen gedreht. In Flowers of Freedom, ihrem ersten selbstproduzierten Kinofilm, spürt man ihr Bestreben, sich bewusst von einer herkömmlichen Fernsehdramaturgie abzusetzen. Sie entwirft ein Panorama von zehn Frauen, die für die Rechte der Opfer eines Giftunfalls durch eine kanadische Goldmine kämpfen. Dabei wird nicht jede Geschichte auserzählt und es gibt auch zeitliche Auslassungen.
Auch beim Eröffnungsfilm Hüter meines Bruders sieht man die Freude der Filmemacher, mit den filmischen Mitteln zu spielen und zu experimentieren, auch wenn deren Einsatz für den Zuschauer nicht immer gleich erklärbar ist. Das Licht und die Kamera werden eingesetzt, um eine ganz bestimmte Atmosphäre zu schaffen. Die Farben wechseln, der Erzählfluss wird unterbrochen, Stimmungsbilder transportieren Emotionen, die so nicht ausschließlich im Dialog abgebildet werden. Dramaturgisch mag der Film kleine Unstimmigkeiten haben und Fragen offen lassen, aber gerade durch das Unperfekte und die fehlende Routine ist er für mich auch ein typischer Perspektive-Film.
Würdest Du das Programm der diesjährigen Perspektive als Spiegelbild des deutschen Filmnachwuchses insgesamt sehen, oder hast Du eher Ausnahmeerscheinungen aufgespürt und ausgewählt?
Sowohl als auch. Ich versuche immer abzubilden, was gerade passiert, und dabei besondere Handschriften - ästhetisch wie thematisch - herauszupicken und insgesamt eine gute Mischung zu finden: Filme von Männern und Frauen, frei finanziert oder mit einem Hochschulhintergrund, Filme von Studenten und Absolventen sowie von Quereinsteigern. Dieses Jahr ist das Programm besonders vielfältig.
Fliegende Gedanken und packende Genrefilme
Georg Nonnenmacher hat bisher hauptsächlich als Oberbeleuchter gearbeitet. Mit Raumfahrer hat er einen dokumentarischen Film im Breitwand-Format gemacht, in dem seine Expertise augenscheinlich wird. Gefangene werden in einem Transporter von einem Gefängnis ins nächste gebracht. Durch einen Sehschlitz blicken sie auf das vorbeiziehende Deutschland. Dabei lassen sie ihren Gedanken freien Lauf. Während nur die Landschaft und einer der Gefangenen zu sehen sind, hört der Zuschauer die Stimmen von drei weiteren Häftlingen aus dem Off. Wir planen eine Vorführung des Films in der JVA Tegel, auch weil sich Georg Nonnenmacher für seine Recherchemöglichkeiten und die Gedanken der Gefängnisinsassen bedanken will.
Raumfahrer habe ich zusammen mit nebel programmiert. Nicole Vögele hat einen kontemplativen Film über die Einsamkeit und das Phänomen Nebel gemacht: Nebel, der sich am frühen Morgen lichtet, Datennebel einer Morsemaschine, Sternennebel, der Planeten umgibt. Auch hier können die Gedanken fliegen, diesmal die des Zuschauers.
Ausgangsmaterial für Szenario sind protokollarische Schriften eines Unternehmers über sein Verhältnis mit seiner Sekretärin, die in einem Koffer auf einem Dachboden gefunden wurden. Die Filmemacher Philip Widmann und Karsten Krause unterfüttern diese historischen Fundstücke mit statistischen Angaben und entwerfen so und anhand von Aufnahmen einer beliebigen deutschen Großstadt ein Bild der Bunderepublik der 1970er Jahre.
Zwei Filme des diesjährigen Programms werden wir in der Spätvorstellung um 23:00 Uhr als Midnight Movies zeigen: den alptraumhaften Thriller Der Samurai von Till Kleinert und den Horrorfilm Tape_13 von Axel Stein. Wir möchten damit Genrefilmen einen Platz geben, die es auf Festivals in der Regel schwer haben, aber auch im Nachwuchsbereich eine zunehmende Rolle spielen.
Zweite Schritte auf dem roten Teppich
Kreuzweg von Dietrich Brüggemann läuft in diesem Jahr im Wettbewerbsprogramm. Sein Abschlussfilm von der HFF „Konrad Wolf“ Neun Szenen lief 2006 und sein Debütfilm Renn, wenn du kannst 2010 in der Perspektive. Bist Du stolz, wenn es die Zöglinge der Perspektive bis in den Wettbewerb schaffen?
Stolz ist das falsche Wort, denn am Ende haben wir ja nicht so viel gemacht. Aber natürlich freut es mich sehr zu sehen, wie ein Filmemacher, der bei uns angefangen hat, sich weiter entwickelt! Bei uns sammeln die Nachwuchsfilmemacher erste Festivalerfahrungen, wir begleiten sie bei ihren ersten Schritten auf dem roten Teppich, stehen bei Unsicherheiten im Umgang mit der Presse und dem Publikum zur Seite. Und im besten Fall landen sie dann Jahre später im Wettbewerb. Dietrich Brüggemann ist übrigens der Erste von unseren Ehemaligen. Das fühlt sich gut an, und ich wünsche ihm alles Gute für seine Premiere.
In diesem Jahr sind mehrere Perspektive-Almuni im Berlinale-Programm vertreten. Maximilian Erlenwein, der bei uns vor vielen Jahren mit seinem Kurzfilm Blackout (Perspektive Deutsches Kino 2005) war, läuft mit seinem zweiten langen Film Stereo im Panorama. Produziert wurden seine beiden langen Filme von Frisbeefilms, eine Produktionsfirma, welche die Brüder Alexander und Manuel Bickenbach nach ihrem Studium an der Filmakademie Ludwigsburg gegründet haben. Ihren ersten Film Katze im Sack von Florian Schwarz haben wir ebenfalls 2005 bei uns im Programm gezeigt.
Und auch Annekatrin Hendel, die bei uns vor drei Jahren Vaterlandsverräter präsentierte und für ihr Projekt Disko 2012 den „Made in Germany – Förderpreis Perspektive“ gewonnen hat, ist mit Anderson über den Schriftsteller Sascha Anderson im Panorama vertreten. Ich bin ein großer Fan von ihr.
Welche Gesprächsveranstaltungen sind geplant?
Mit der Unterstützung von Glashütte Original können wir auch in diesem Jahr die Gesprächsreihe „Made in Germany - Reden über Film“ in der HomeBase Lounge fortsetzen. Wir werden über „den typischen Festivalfilm“ sprechen, der weltweit Preise gewinnt, aber kommerziell auch floppen kann, über Genrefilme wie unsere Midnight Movies oder auch über Arbeiten, von denen ich denke, dass sie es auch aufgrund eines bestimmten Casts leichter an der Kinokasse haben werden. Zeit der Kannibalen von Johannes Naber mit Devid Striesow, Sebastian Blomberg und Katharina Schüttler in den Hauptrollen ist ein Beispiel für ein zynisches und gesellschaftskritisches Kammerspiel, in dem sich die Schauspieler so richtig ausspielen können. Ich bin schon sehr gespannt, wie der ankommt, ich hab‘ ein gutes Gefühl.
Auch Oskar Sulowski hatte für seinen Film Die Unschuldigen das Glück, ein bekanntes Gesicht gewinnen zu können: Clemens Schick, der auch im Wettbewerbsbeitrag Praia do Futuro und im Berlinale Special mit Das finstere Tal zu sehen ist. Es freut mich zu sehen, wenn erfahrene Schauspieler ihr Know-how mit dem Nachwuchs teilen. Die Unschuldigen ist ganz aus Sicht eines Kindes erzählt und bewegt sich mit der Hauptfigur absolut auf Augenhöhe.
In einem Gespräch, das wir mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk veranstalten, werden wir mit dem Theaterregisseur Thomas Ostermeier von der Schaubühne, unserem französischen Jurypräsidenten des „DFJW-Preis Dialogue en perspective“ Denis Dercourt, mit Lucie Aron, die in Kreuzweg in ihrer ersten größeren Rolle zu sehen sein wird und der deutschen Schauspielerin Marie Bäumer, die in Dercourts letztem Film Zum Geburtstag mitgespielt hat, über deutsche und französische Schauspieltraditionen sprechen.