2016 | Berlinale Talents
Die Haltung ist das Entscheidende
Im 14. Jahr setzt Berlinale Talents auf das Motto „The Nature of Relations“. Im Interview sprechen die Sektionsleiter Florian Weghorn und Christine Tröstrum über die Fähigkeiten, die ein Talent heute mitbringen muss, um sich durchzusetzen, wie sich die Altersstruktur der Talents über die Jahre geändert hat und wie einfach es sein kann, Meryl Streep zu treffen.
Ganz im Sinne eines Zeitalters der Konnektivität ist das Motto dieses Jahr „The Nature of Relations“. Inwieweit können Beziehungen natürlich sein?
Christine Tröstrum: Uns geht es um die Wirkungsebenen menschlicher Beziehungen. Alles hängt mit allem zusammen. Viele Menschen nehmen dies oft nicht mehr in allen Einzelheiten und Zusammenhängen bewusst wahr. Sprichwörtlich sagt man: „Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.“
Florian Weghorn: Und natürlich liegt das Gestalten und Pflegen von Beziehungen auch in der Natur von Berlinale Talents. Wir vergegenwärtigen uns diese Prozesse und machen sie in den Veranstaltungsformaten stärker leb- und sichtbar. Begriffe wie „interdisziplinäres Arbeiten“ oder „connected thinking“ bringt ja derweil jeder leicht über die Lippen, selbst im guten alten Filmbusiness. Wir erproben sie auf ganz praktischen Ebenen: Bei uns sprechen die Gäste nicht nur darüber, welche außergewöhnliche Verbindung sie zu einem Regisseur haben, sondern Regisseur und Produzent sitzen zusammen auf der Bühne.
Ein Merkmal der Filmproduktion ist ja seit jeher die kollektive Arbeit. Gleichzeitig gibt es seit den1960er Jahren einen äußerst virulenten Autorenbegriff. Ist gemeinsames Arbeiten heute wieder besonders präsent?
FW: Wir wagen nicht zu definieren, was gerade en vogue ist oder nicht. Das Ideal des eremitischen Filmautoren in der stillen Kammer begegnet uns aber eher selten. Unter den Talenten sind Filmemacher, die gerade Kollektive gründen, die sich zusammenrotten, auch aus Notwendigkeiten heraus – finanzieller Natur, aufgrund fehlender Infrastrukturen oder nach dem Wegbrechen anderer gesellschaftlicher Schutzräume für Kunst. Filmemachen, im Großen und im Kleinen, erfordert immer diesen persönlichen, gut vernetzten Mikrokosmos, in dem ich produziere und auch meine Zuschauer finde.
Die Einstellung ist die Einstellung
Wie anschlussfähig muss ein Talent heute sein, um sich in der Filmbranche durchsetzen zu können? Besteht die Gefahr, in diesem Beziehungsgeflecht die eigene Vision zu verlieren?
FW: Im Gegenteil, die eigenständige Vision ist Voraussetzung, um heute bestehen zu können. Das spielt auch eine starke Rolle für unsere Bewerber. Neben künstlerischer Leistung und einem innovativen Ansatz stellt sich das Auswahlgremium die Frage, inwieweit eine Haltung erkennbar ist. Es muss ein Resonanzraum entstehen, innerhalb eines Landes, innerhalb der Zielgruppe des Filmvorhabens. Da muss ein gewisser Widerhall, eine Relevanz und ein Bezug auf aktuelle Themen spürbar sein.
CT: Die Haltung ist das Fundament, darin bestärken wir die Talente. Darauf aufbauend kommt die Erfahrung hinzu und dann erst die skills. Schaut man heute auf die Ausbildungslage, ist bis auf wenige Länder, der Standard sehr hoch. Unter Talentförderung verstehen wir, auf die Stimmigkeit unterschiedlicher Ebenen zu achten. Hinzu kommt künstlerische Glaubwürdigkeit, Faszinationskraft und vieles mehr. Wir unterstützen die Talente, eine Beharrlichkeit in ihrem ureigenen künstlerischen Ausdruck zu finden. Das ist ein entscheidender Rat, den man jedem mit auf den Weg gibt.
Überträgt sich diese Haltung auch in die konkrete audiovisuelle Arbeit? Gilt noch der Satz „Die Einstellung ist die Einstellung“?
FW: Mehr denn je. Wenn du dir heute Gehör verschaffen willst, musst du im allgemeinen Stimmengewirr sehr klar den richtigen Ton treffen. Oder gern auch schwer daneben liegen. Wir bilden weder aus, noch fördern wir in eine bestimmte Richtung. Die Tatsache, dass Berlinale Talents 300 und nicht nur zehn Teilnehmer einlädt, erhöht massiv die Wahrscheinlichkeit schräger Stimmen und überraschender Momente, die zum Glück nicht vorhersehbar waren.
CT: Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters fördert Berlinale Talents 2016, auch sie fordert den Mut zum Experimentieren und nicht zwangsläufig gefallen zu müssen. Deutschland braucht diese Diskussion, wie wir zukünftig Talente fördern wollen. Diesen Diskurs möchten wir weiter anstoßen.
Talente mit Erfahrung
Hat sich die Art der Förderung bei Berlinale Talents in den letzten Jahren geändert?
CT: Es hat sich viel verändert, allem voran unser eigener Anspruch und Ansatz. Im 14. Jahr unseres Bestehens haben wir es durchschnittlich mit 33-jährigen Teilnehmern zu tun. Wir haben Nachwuchsförderung irgendwann ganz klar von Talentförderung unterschieden. Es wird weltweit im Filmbereich sehr viel zur Förderung nachwachsender Filmgenerationen getan, in Deutschland ist die Situation trotz aller Beschwerden geradezu luxuriös. Kommt es zum zweiten, dritten Langfilmprojekt, werden die Talente oft alleine gelassen. Unsere Schwerpunkte liegen deshalb auf lebenslangem Lernen, auf Austausch und Netzwerkarbeit.
FW: Unsere Teilnehmer sind bereits Talente, wenn sie zu uns kommen. Unter den ausgewählten 300 Talenten dieses Jahr waren 58 schon vorher mit einem Film bei der Berlinale - als Regisseur, Sounddesigner oder Kameramann. Das ergibt sich ganz natürlich so. Diesen Menschen bieten wir Orientierung an, damit sie ihren eingeschlagenen Weg weiter gehen oder auch ein paar Weichen neu stellen können.
Wie setzt Ihr diese Entwicklung in den Veranstaltungsformaten um?
CT: Die Veranstaltungen werden interaktiver, Teilnehmer können auch Experten sein. Im Anschluss an unsere Frühstücke gibt es in diesem Jahr für jeweils eine Stunde sogenannte „Talents Circle“. Angelehnt an das Prinzip des World-Cafés treffen sich die Teilnehmer in kleinen Runden mit Gästen, tauschen sich zu einem Thema aus und haben die Möglichkeit, den Kreis nach eigenem Wunsch zu wechseln. Am Ende gibt es eine kleine Zusammenfassung für die gesamte Gruppe.
FW: Wir haben in diesem Jahr zum Beispiel auch das „Editing Studio“ und das „Camera Studio“ in Werklabore verwandelt, in denen Teilnehmer eines Gewerks zusammenkommen, gemeinsam und spielerisch neue Ansätze erforschen, und sich dabei untereinander austauschen. Das klingt banal, ist aber im vereinzelten Lebensalltag von Kameraleuten oder Filmeditoren eine absolute Seltenheit.
Ihr sprecht viel von Möglichkeiten, die sich auftun, von Förderung, aber gleichzeitig müssen sich die Talente ja in einer knallharten Branche durchsetzen. Spürt man diesen Konkurrenzdruck auch bei den Talents?
FW: Wir sind erstaunt, wie schnell bei uns Verbindungen entstehen und wie schnell eine Veranstaltung dazu führt, dass Leute zukünftig kreativ zusammenarbeiten wollen. Da ist wenig Konkurrenz im Spiel. Im Marktumfeld haben wir in der Tat Pionierarbeit zu leisten. Die alten Hasen im Filmverkauf und -verleih behalten erfolgreiche Methoden aus manchmal verständlichen Gründen gern für sich. Unser „Sales & Distribution Studio“ will das ändern und setzt auf Vernetzung.
CT: Aus diesem Studio heraus ist beispielsweise über die Jahre eine Gruppe entstanden, die teilweise immer noch zusammenarbeitet und Filmrechte gemeinsam akquiriert. Arthouse-Filme erfolgreich am Markt zu platzieren, gleicht einem Ausflug ins Haifischbecken, weil es insgesamt zu viele Produktionen gibt. Wer wirklich Geld damit verdienen will, muss auf flexiblere Modelle zurückgreifen. Für uns ist es das Kollektiv.
Regionalität und Flucht
Omnipräsent in Deutschland ist heute das Flüchtlingsthema. Spielt das auch bei Euch in diesem Jahr eine Rolle?
FW: Unsere Teilnehmer aus 78 Ländern können in den sechs Tagen sehen, dass es Spaß macht, miteinander umzugehen, auch kontrovers. Bei über 6000 Alumni haben wir natürlich auch Filmemacher in unserem Netzwerk, die tatsächlich in Flüchtlingssituationen sind. Deren Geschichten fließen nicht nur in Filme ein, sondern müssen auch als Lebensgeschichten einen Platz finden bei Talents. Ankommen in Deutschland heißt ja auch arbeiten und neue Beziehungen aufbauen – und damit sind wir schon wieder beim Thema.
Gibt es noch Unterschiede zwischen den Kulturen oder hat sich die Filmkultur restglobalisiert im Zeitalter der Vernetzung?
CT: Durch die weltweite Vernetzung werden eher noch die Unterschiede sichtbarer. Ausdifferenzierung ist erforderlich, um überhaupt noch aufzufallen. Lokalität ist in gewisser Weise ein „unique selling point“, wenn du so willst. Und durch die digitale Vernetzung können wir heute viel tiefer in Binnenstrukturen hineinschauen, leisere Stimmen hören, filmische Perlen entdecken, und mit Menschen ins Gespräch kommen. Das ist ein großes Geschenk.
Wie jedes Jahr ist Berlinale Talents keine geschlossene Veranstaltung, sondern viele Programmpunkte sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Das heißt, wenn ich die Präsidentin der Internationalen Jury erleben will, muss ich mich als Berlinale-Besucher nicht an den Roten Teppich stellen und warten?
FW: Ja, Meryl Streep kommt zum Eröffnungspanel und wird ganz im Sinne von „The Nature of Relations“ ein Gespräch über ihre Beziehung als Schauspielerin zu ihren Rollen führen. Das Angebot für die Berliner und die Festivalgäste ist auch sonst breit gefächert. Es gibt preisgekrönte Animationsfilmer mit Zeichenstift auf der Bühne zu erleben, der Fotograf Jim Rakete trifft auf den Kameramann Michael Ballhaus, und der Dogmafilmer Thomas Vinterberg kehrt auf den Spuren des Kollektivs gedanklich in seine Zeit als Kind unter Hippies zurück. Die Talente findet man auch auf der Leinwand, in über 80 Filmen im Festival und erstmals bei uns in einer TV Serie, die wir am letzten Tag von Talents im HAU1 zeigen. Das Publikum kann also viele neue Beziehungen knüpfen, ganz natürlich.