2016 | Perspektive Deutsches Kino
Starke Vergangenheit, aufregende Zukunft
Vor 15 Jahren wurde die Sektion Perspektive Deutsches Kino ins Leben gerufen. Seither bietet sie einen Ausblick auf das zukünftige Profil des deutschen Kinos. Sektionsleiterin Linda Söffker betont im Interview auch die starke Vergangenheit des deutschen Films. Sie spricht über starke Figuren und sensible Portraits, universelle Fragen, einen mysteriösen Genrefilm und einen Dokumentarfilm, der sie mit ihrer Arbeit als Sektionsleiterin konfrontiert.
Du hast immer wieder gesagt, der politische Film mit großem gesamt-gesellschaftlichen Anspruch fände sich selten im Nachwuchsbereich. Letztes Jahr hast Du dann eine Entwicklung aufgezeigt, die filmpolitisch eine Veränderung verlangt und bedeutet: das „Drauflos-Drehen“ ohne oder mit nur wenig Fördergeld, ohne festes Drehbuch, gedreht von Filmfamilien, in denen jeder alles macht. Geht diese Entwicklung weiter?
Die Entwicklung geht auf jeden Fall weiter, auch wenn sich die diesjährige Auswahl der Perspektive nicht unter diesem Thema zusammenfassen lässt, denn viele Filme sind an Filmhochschulen entstanden. Selbständig produzierte Filme haben wir aber auch wieder im Programm, zum Beispiel LIEBMANN von Regisseurin Jules Hermann und Agonie von David Clay Diaz. Bei LIEBMANN ist Ester.Reglin.Film als Co-Produzent erst im Rohschnitt mit eingestiegen und Agonie hat Regisseur David Clay Diaz auch selbst produziert, mit finanzieller Unterstützung vom BR und der HFF München. Ein dritter Film, Lotte von Julius Schultheiß, lässt sich am ehesten dem German Mumblecore zuordnen, wenn man das beschriebene Phänomen so nennen will. Ein selbst produzierter Film, ohne allzu festes Drehbuch, mit viel Raum für Improvisation.
Wie manifestiert sich diese „freie“ Art zu arbeiten in der Formsprache dieser Filme?
Es ist nicht so, dass die Filme dann alle gleich aussehen. Auf keinen Fall. Man spürt den Esprit, das Herzblut und sieht die kurzen direkten Wege. Das, was diese Filme für den Zuschauer wahrscheinlich erkennbar macht, ist die weniger aufwendige Ausleuchtung und die weniger teure, aber sehr liebevolle Ausstattung. Die Filme sind nicht so glatt, man hört das Dialog-Papier nicht rascheln, und das kann sehr erfrischend sein.
Starke Vergangenheit und aufregende Zukunft
Die Retrospektive der 66. Berlinale widmet sich dem Jahr 1966 und damit einem Wendepunkt im deutschen Kino: Im Westen erfährt der Neue Deutsche Film vier Jahre nach Verkündung des Oberhausener Manifests, erstmals Anerkennung auf bedeutenden Festivals. Mit „Fogma“ von Jakob Lass und „Sehr gutes Manifest“ von Axel Ranisch haben zwei junge deutsche Filmemacher, die dem German Mumblecore zuzurechnen sind, ihrerseits ein Manifest verfasst. War die Zeit reif?
Wenn die Not am größten ist, werden die Leute erfinderisch. Das Oberhausener Manifest hat ja eigentlich eine Förderung für kleine Filme gefordert und begründet. Über Jahrzehnte hat sich daraus eine Struktur entwickelt, die immer wieder die schon bekannteren Filmemacher berücksichtigt, die schon Referenzen haben, auf die man sich verlassen will. Das macht ja auch Sinn, aber so kommen die unbekannteren Filmemacher dann wieder nicht zum Zuge. Natürlich würden viele der Leute, die heute ohne Geld drauf los drehen, auch lieber bezahlt werden, vor allem auch fürs Schreiben. Aber sie lassen sich nicht aufhalten, wenn sie von ihrem Projekt überzeugt sind.
In der Homebase Lounge werden wir zwei Gesprächsveranstaltungen „Made in Germany - Reden über Film“ zu den Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Filmfinanzierung machen. Als Gäste am 13. Februar habe ich die fünf Preisträger des „Made in Germany – Förderpreis Perspektive“ eingeladen, den wir seit fünf Jahren zusammen mit Glashütte Original für die Projekt-, Stoff- und Drehbuchentwicklung vergeben. Alle fünf Stipendiaten haben bisher keine Partner, um die Produktion ihrer Filme zu finanzieren. Darüber will ich reden.
Sind es in erster Linie die Produktionsbedingungen, die sich in den spielerischen Macharten der Filme spiegeln? Oder lassen sich weitere Einflüsse beispielweise anderer Kinematografien benennen?
Das Junge, Frische, Unverbrauchte erinnert mich an die Filme der Nouvelle Vague. Es zeigt sich diese gewisse Leichtfüßigkeit. Und es zeigen sich Parallelen zu den DDR-Filmen von 1965/66, die im Rahmen der Retrospektive präsentiert werden. In der Art, wie sie vom Alltag erzählen, korrespondieren sie mit der jungen Generation von heute. Die diesjährige Retrospektive zeigt die starke Vergangenheit des deutschen Films in Ost und West. Und die Perspektive verspricht eine aufregende Zukunft.
Ihr eröffnet das Festival mit einem Film zu einem politisch sehr aktuellen Thema. Wieso hast du Meteorstraße als Eröffnungsfilm ausgewählt?
Es gibt immer eine Vielzahl von Gründen, eine Arbeit als Eröffnungsfilm zu programmieren. Die Aktualität spielt da gewiss eine Rolle, wobei Meteorstraße eigentlich auf die heutige Situation vorgreift: Mohammed, der Protagonist in Aline Fischers Film ist bereits vor ca. zehn Jahren mit seiner Familie vor dem Krieg im Libanon nach Deutschland geflüchtet. Seine Eltern sind inzwischen zurückgegangen und haben den 18-jährigen Sohn und seinen älteren Bruder in Berlin zurückgelassen. Mohammed verspürt einerseits Sehnsucht nach den Eltern und versucht gleichzeitig hier seinen Platz zu finden. Dieses Thema beschäftigt die französische Regisseurin schon lange, nicht erst seit die Flüchtlingssituation in den Medien so allgegenwärtig ist.
Michael Klier, der übrigens seinen Kurzfilm Ferrari und seinen langen Spielfilm Katz und Maus im Rahmen der Retrospektive präsentiert, hat als Dozent an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf ein gemeinsames Projekt mit der Bauhaus Universität Weimar initiiert, in dessen Rahmen elf Filme zur aktuellen Flüchtlingssituation in Deutschland am Entstehen sind. Wir zeigen einen dieser Filme, Research Refugees: Meinungsaustausch, der nur vier Minuten lang ist, als Gast der Perspektive einmalig am Eröffnungsabend.
Titelgebende Figuren und sensible Portraits
Im letzten Jahr konnte man an den Filmtiteln die Auseinandersetzung mit Räumen und Orten ablesen. In diesem Jahr scheinen die Titel auf intime Einblicke in das Leben Einzelner hinzudeuten: Lotte, Wer ist Oda Jaune?, LIEBMANN, Valentina, TORO…
Ja, alles Geschichten, die von ihren starken Figuren getragen werden und doch etwas über sie hinaus erzählen. Lotte (Karin Hanczewski) ist im gleichnamigen Film eine junge Krankenschwester und verkörpert in ihrer Impulsivität durchaus ein gegenwärtiges Phänomen: Viele junge Leute wollen nicht erwachsen werden, sich nicht festlegen, alle Optionen offenhalten.
Regisseurin Kamilla Pfeffer versucht in Wer ist Oda Jaune? die Künstlerin hinter ihrem Werk zu ergründen. Keine einfache Aufgabe, denn Kunst im Entstehen zu zeigen, widerspricht sich eigentlich, wie Oda Jaune selbst sagt, und damit steht sie nicht allein. Liebmann wiederum versucht in Frankreich vergeblich vor seiner Vergangenheit zu flüchten und muss sich schließlich mit seinem Trauma konfrontieren, um weiterleben zu können. Es ist eine Geschichte, die auch exemplarisch für ein kollektives Trauma stehen kann.
Valentina, ein kleines Mädchen, das mit ihrer zwölfköpfigen Familie in einer Armensiedlung im Roma-Viertel der mazedonischen Hauptstadt Skopje lebt, ist eine wahre Titelheldin. Sie nimmt uns mit in ihr Leben, erzählt die Geschichte ihrer Familie und entwirft dabei auch ein Bild von sich selbst. Gleichzeitig verhandelt der Film die Frage, wie es möglich ist, Menschen, die mit ihrem Leben so fern von einem scheinen, doch nahe zu kommen. Die Kamera ist Valentinas streunender Kompagnon, immer auf Augenhöhe mit ihr.
Der junge Pole Toro, der eigentlich Piotr heißt, lebt seit zehn Jahren in Deutschland und verdient sein Geld als Escort von gutbürgerlichen Frauen. Sein Erspartes sammelt er in seinem Boxsack, um in Polen eine Boxschule zu eröffnen. Er hat ein klares Ziel vor Augen, während sein Freund Victor sich prostituiert, um seine Drogensucht zu finanzieren. In einer tragischen Geschichte erzählt Martin Hawie von dieser ungleichen Freundschaft. Wir zeigen den Film anlässlich des 50. Jubiläums der Hofer Filmtage und schlagen damit auch einen Bogen zur Retrospektive. In der diesjährigen Retro „Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West“ versammeln sich ja einige Regisseure, die in den 50 Jahren seit 1967 ihre Filme in Hof präsentiert haben. Der Gründer und langjährige Festivalleiter Heinz Badewitz gibt jungen Filmemachern bis heute immer wieder einen Platz und ich freue mich sehr, ihn als Gast begrüßen zu dürfen.
Universelle Fragen
Drei Filme verhandeln weniger den Weg des Einzelnen als abstraktere, universellere Themen. Ich denke an Agonie, Pallasseum – Unsichtbare Stadt und Las cuatro esquinas del círculo. Ist das eine Besonderheit im Nachwuchsfilm?
Agonie und Pallasseum fallen tatsächlich durch ihre besonderen Fragestellungen auf. Pallasseum geht der Frage nach, wie sich Architektur in die menschliche Biographie einschreibt und umgekehrt Menschen die Orte formen, an denen sie leben. Manuel Inacker verhandelt diese universelle Frage an einem konkreten Gebäude und seinen Bewohnern in Berlin-Schöneberg.
In Agonie erzählt David Clay Diaz wiederum zwei Biographien, deren Wege sich nie kreuzen, parallel. Während die eine möglicherweise in einem Selbstmord endet, wird der Protagonist der anderen am Ende einen Mord begangen haben. In beiden Fällen untersucht der Film die Motivation und geht möglichen Gründen nach.
Las cuatro esquinas del círculo von Katarina Stanković hingegen ist nicht abstrakt, sondern ganz im Gegenteil eher verbindend, essayistisch, assoziativ. Eine Geschichte zwischen Mexiko und Serbien, getragen von der Liebe zum Leben.
Inwiefern weist Wir sind die Flut von Sebastian Hilger Parallelen zu Jan Speckenbachs DIE VERMISSTEN auf, der 2012 in der Perspektive lief?
Wir sind die Flut ist der einzige explizite Genrefilm – Science-Fiction. Der Film spielt in der näheren Zukunft in Windholm, wo sich vor 15 Jahren das Meer zurückgezogen hat. Mit dem Rückgang des Meeres sind auch die Kinder des Ortes verschwunden und zwei junge Naturwissenschaftler wollen diesem Phänomen nun auf den Grund gehen. In DIE VERMISSTEN sind die Kinder freiwillig gegangen, haben einen eigenen Bund geschlossen. In Wir sind die Flut ist die erste Vermutung, dass die Kinder ertrunken sind, aber vielleicht gibt es viel mehr Verbindungen zwischen den beiden Filmen, als man im ersten Moment vermuten würde…
Der Dokumentarfilm Die Prüfung lässt den Zuschauer an einem Auswahlverfahren einer Schauspielschule teilhaben und konzentriert sich dabei auf die Seite der Prüfer. Für Dich als Sektionsleiterin eine vertraute Situation?
Ja, schrecklich. Ich habe mich lange gegen das Gefühl, das der Film in mir hervorgerufen hat, gewehrt. Als Teil eines Auswahlgremiums streitet man, ist emotional, kämpft für eine Sache, von der man überzeugt ist, lehnt auch ab, ist sicher auch mal ungerecht und das alles in einer Art, die nicht unbedingt für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Natürlich gibt es gewisse Kriterien, aber es ist eben auch eine subjektive Bewertung. Regisseur Till Harms lässt dem Zuschauer auf geschickte Weise die Möglichkeit, beide Seiten einzunehmen - die der sich präsentierenden Schauspieler und die der bewertenden Prüfer – und auf der anderen Seite Raum über den Prozess nachzudenken. Am Ende kann sich jeder selbst ein Urteil über die Entscheidungen bilden - genau wie über die Auswahl der Perspektive, in der ich immer auch versuche abzubilden, was sich in den 300 eingereichten Filmen, herauskristallisiert an Schwerpunkten und Tendenzen.