2017 | Retrospektive
„Die perfekte Zukunft ist das langweiligste, was man sich vorstellen kann“
Sektionsleiter Rainer Rother über das Positive an negativen Zukunftsentwürfen, ein interstellares Modell der Energiewende, Aliens in Seesternchen-Gestalt und weitere Überraschungen der diesjährigen Retrospektive.
Das Weltall verfügt über unendliche Weiten. Das tut die Berlinale nicht. In welchen notgedrungen begrenzten „Universen“ bewegt sich die Retrospektive?
Die Retrospektive der Berlinale steht ja in engem Zusammenhang mit unserer Ausstellung im Museum für Film und Fernsehen, „Things to Come“, zu Geschichte und Motiven des Science-Fiction-Films, die noch bis April 2017 zu sehen sein wird. Sie stellt dabei zwei für das Genre zentrale Themen in das Zentrum. Nämlich die „Begegnungen mit dem Fremden“ und Entwürfe für eine „Gesellschaft der Zukunft“. Auf den dritten klassischen Teil der Science-Fiction, die Weltraumerkundungen, haben wir zu Gunsten dieser beiden Themenstränge allerdings verzichtet. Space Operas werden in der Filmauswahl also nicht überwiegen.
Was macht diese beiden Schwerpunkte so interessant?
Wir gehen davon aus, dass Science-Fiction zwar eine Geschichte erzählt, die in der Zukunft angesiedelt ist, dass sie in dieser Zukunft aber Fragen und Situationen der Gegenwart verhandelt. Zu diesen gesellschaftlich relevanten Fragen gehören vor allem: „Wie werden wir in Zukunft leben?“ und „Welche Entwicklungen könnten unser Leben in der Zukunft bestimmen?“. Insofern betreibt Science-Fiction eine Fortschreibung oder Verschärfung von Tendenzen, die es in der Gegenwart bereits gibt. Beim Konzept des „Anderen“ wiederum ist interessant zu sehen, dass „das Andere“ ja nicht immer nur in Gestalt einer aggressiven Invasion daherkommt, wie es zum Beispiel der 50er-Jahre-Klassiker The War of the Worlds (Kampf der Welten, R: Byron Haskin, USA 1953) darstellt. Sondern am Fremden entscheidet sich auch, wie das Eigene definiert wird.
Was bedeutet das für die zeitlichen und geografischen Koordinaten der ausgewählten Filme?
Die Filme stammen aus dem Zeitraum zwischen 1918 und 1998, das hat sich aber eher zufällig so ergeben. Himmelskibet (Das Himmelsschiff, R: Holger-Madsen, Dänemark) von 1918 ist der älteste Film, den wir in der Auswahl haben, Dark City (R: Alex Proyas, USA / Australien) von 1998 ist der jüngste. Wir haben uns also nicht für eine bestimmte Periode entschieden, obwohl es beispielsweise einen starken Boom für Science-Fiction-Filme in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat, vor allem natürlich in den USA. Aber wir schauen darüber hinaus auch nach Osteuropa, wobei uns besonders interessierte, was dort in der Zeit des real existierenden Sozialismus an Zukunftsentwürfen entstand.
Und sind Sie in den Filmen des ehemaligen Ostblocks auf Besonderheiten gestoßen?
Ja, man sollte meinen, dass eine Gesellschaft, die sich von ihrem Selbstverständnis her auf dem Weg in eine „klassenlose“ befindet, kaum Bedarf an anderen Zukunftsbildern hat, weil die Zukunft deutlich vor ihr liegt. Das war nun in den osteuropäischen Staaten aber gerade nicht so. Sondern es sind dort erstaunlich viele dystopische Zukunftsentwürfe entstanden.
Der Titel der Retrospektive, „Future Imperfect“, deutet ja schon darauf hin, dass die Zukunft auf der Leinwand im Allgemeinen nicht besonders rosig aussieht. Sind skeptische Zukunftsentwürfe die besseren Filme?
Ja, natürlich! Weil das Narrativ der Dystopie viel produktiver anzuwenden ist, als das einer Erzählung, die in einer Zukunft spielt, in der alles „in Butter“ ist. In solch einer Zukunft tendiert das Konfliktpotenzial, das jede gute Erzählung braucht, gegen Null. Science-Fiction profitiert von der Qualität der Untergangsbedrohung, von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, von Katastrophen, die zu überstehen sind oder gerade überstanden wurden. Erst dann kann sich in einem populären Medium wie dem Film eine Geschichte entfalten, die das Publikum auch emotional packt. Die perfekte Zukunft ist erzählerisch das Langweiligste, was man sich vorstellen kann.
Gibt es gleichwohl Filme in der Auswahl, die ein positives Zukunftsbild entwerfen?
Ja, es gibt ja immer die erzählerische Möglichkeit des Happy-Ends, das einen positiv in die Zukunft schauen lässt. Zum Beispiel in Le cinquième élément (Das fünfte Element, Frankreich 1997) von Luc Besson. Dort steht nicht nur die Zukunft der Erde, sondern die gesamte Ordnung des Universums in Frage. Nun mag es kitschig sein, dass die Liebe diejenige Kraft ist, die den Weltuntergang abwendet, aber im Rahmen eines Science-Fiction-Spektakels mit Hollywood-Appeal ist dies absolut plausibel. Auch Himmelskibet, der dänische Film von 1918, zählt zu den positiven Entwürfen. Dort stoßen Menschen auf dem Mars auf eine friedliebende Kultur, und die Liebe bewirkt, dass eine Marsianerin den Protagonisten auf die Erde begleitet, um hier, noch während des Ersten Weltkriegs, eine Friedensbotschaft zu verbreiten. Interessant ist in dieser Hinsicht auch Close Encounters of the Third Kind (Unheimliche Begegnung der dritten Art, USA 1977), in dem Steven Spielberg eine Situation entwirft, die normalerweise auf eine gewalttätige Konfrontation zwischen den Menschen und den Aliens hinauslaufen würde. Doch hier eröffnet sich dem Helden am Ende die Aussicht auf eine Reise mit den Aliens zu deren Heimatplaneten.
Die Auswahl ermöglicht demnach auch Begegnungen einer im Kino ungewöhnlich friedfertigen Art?
Ja, zum Klischee, dass die Aliens immer nur kommen, um die Menschheit auszurotten und die Erde zu zerstören, haben wir einige Alternativen zu bieten, die sehr schön sind. Zum Beispiel der wunderhübsche japanische Spielfilm Uchūjin Tōkyō ni arawaru (Die Außerirdischen erscheinen in Tokyo, R: Kōji Shima) von 1956, in dem Außerirdische in Seesternchen-Gestalt die „Erdlinge“ vor dem drohenden Zusammenstoß mit einem anderen Planeten warnen wollen.
Science-Fiction-Filme sind ja meistens in die Zukunft projizierte Kostümfilme. Nun dienen „period pieces“ oft dazu, vor historischen Kulissen die eigene Gegenwart zu reflektieren. Ist das bei den Filmen der Retrospektive ebenfalls der Fall?
Ja, natürlich. Und manchmal braucht man dazu nicht einmal Kostüme, die futuristisch aussehen. Wir haben zwei, drei Filme in der Auswahl, deren Setting Science-Fiction ist, ohne dass Science-Fiction zum Kostümfilm wird. Welt am Draht (BRD 1973) ist ein gutes Beispiel. Hier zeichnet Fassbinder eine scheinbar nahe Zukunft der 1970er Jahre, die auf den ersten Blick ganz vertraut und gegenwärtig wirkt, ehe sie sich als elektronische Simulation erweist. Oder Na srebrnym globie (On the Silver Globe, Volksrepublik Polen 1978/89): Der Film von Andrzej Żuławski spielt zwar in der Zukunft, allerdings auf einem Planeten mit einer archaischen Stammeskultur, die mit ihrer entsprechend primitiven Kleidung eher der Vergangenheit angehört. Ihre totalitären Züge wirken aber gänzlich zeitlos, denn es werden hier allgemeine Verfallsformen des Menschlichen dargestellt.
Wenn sowohl Gegenwart wie Vergangenheit Science-Fiction sein können, dann sind technische Neuerungen wohl gar nicht so entscheidend für das Genre?
Für das Genre generell sind sie es schon. Spannend sind aber gerade jene Science-Fiction-Filme, die das Technische eher außen vor lassen. Das ist bei europäischen Autorenfilmen häufiger der Fall als bei großen Hollywood-Produktionen. Also bei Filmen wie dem deutschen Großstadtthriller Kamikaze 1989 (R: Wolf Gremm, BRD 1982) oder der polnischen Endzeitvision O bi, o ba: Koniec cywilizacji (O bi, o ba: Das Ende der Zivilisation, R: Piotr Szulkin, Volksrepublik Polen 1985). Es sind Filme, die eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Materialaufwand aufweisen, der sonst für die Ausmalung glaubwürdiger Zukunftsstädte betrieben wird, und stattdessen mehr auf die philosophischen Implikationen solcher Zukunftsszenarien eingehen. Solche Filme sind oft auch düstere Filme. Da reflektieren Gesellschaften Zukunftsängste, die aus der eigenen Entwicklung hervorgehen. Das ist besonders auffällig bei jenen Filmen, die eine atomare Apokalypse voraussetzen, also bei Stanley Kramers Romanverfilmung On the Beach (Das letzte Ufer, USA 1959) wie auch bei der sowjetischen Produktion Pisma mjortwowo tscheloweka (Briefe eines toten Mannes, R: Konstantin Lopuschanski, UdSSR 1986).
Wenn in den USA und in der UdSSR dieselben Ängste herrschten – wo lassen sich in den Filmen dann überhaupt Systemunterschiede ausmachen?
Ein Unterschied lässt sich auf jeden Fall in der DEFA-Produktion Eolomea (R: Herrmann Zschoche, DDR) aus dem Jahr 1972 beobachten: Hier steht eine Frau, gespielt von Cox Habbema, im Zentrum, die als Wissenschaftlerin die Hauptverantwortliche für sämtliches Geschehen ist. Darin kann man schon einen klaren Unterschied zwischen den beiden Gesellschaftsentwürfen erkennen. In Amerika dauerte es noch bis zum Ende des Jahrzehnts, bis Alien (Alien. Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt, R: Ridley Scott, USA 1979) mit der von Sigourney Weaver gespielten Astronautin Ripley eine Frau an den Schalthebeln eines Hollywood-Raumschiffes installierte.
Dann gibt es also auch Filme, die nicht nur Gegebenes reflektieren, sondern auch Diskurse anstoßen?
Was das betrifft, ist der zweite Stummfilm im Programm, Algol. Tragödie der Macht (R: Hans Werckmeister, Deutschland) von 1920, mit Emil Jannings in der Hauptrolle, unbedingt erwähnenswert. Bei dem ist wirklich faszinierend, wie aktuell die damals angesprochenen Themen gerade heutzutage sind – vor allem, was die Energieknappheit betrifft und die Abhängigkeit der Menschen von „konventionellen“ Energieträgern, nämlich Kohle, sowie die Befreiung davon durch eine neue Energiequelle, die von einem anderen Planeten stammt.
Das Genre zeichnete sich am Anfang ja durch eine große Technik-Begeisterung aus. In der Gesellschaft hat sich inzwischen eher Skepsis ausgebreitet. Ist dieser Wandel in den Filmen präsent?
Ja, Strange Days (USA 1995) von Kathryn Bigelow ist ein gutes Beispiel dafür, weil die 1995 prophezeite Entwicklung inzwischen mit „Virtual-Reality“-Brillen tatsächlich Wirklichkeit geworden ist. Das heißt, man schaut einer fremden Erfahrung zu, ja, man durchlebt diese Erfahrung. Dies wird im Film als sehr zweischneidig dargestellt. Zumal noch hinzukommt, dass Strange Days wahrscheinlich einer der ersten amerikanischen Filme ist, der Gewaltexzesse von Polizisten gegen Schwarze thematisiert hat, was heute wie eine Prophezeiung einer in der amerikanischen Gesellschaft inzwischen sehr viel stärker diskutierten Entwicklung wirkt.
Blade Runner (R: Ridley Scott, USA 1982) ist auf jeden Fall stilprägend gewesen als das Modell einer zukünftigen Stadt. Ridley Scott hat sich sicher von Metropolis inspirieren lassen, aber seinerseits selbst eine ganze Reihe von Filmen inspiriert. Vor allem in Hinsicht darauf, wie eine globale Welt in einer unperfekten Zukunft aussehen würde – mit der Vision einer zwar multikulturellen und manchmal auch von Mutanten bevölkerten Gesellschaft, die aber zugleich keine wirklich zivile Gesellschaft mehr ist, sondern eine, in der eine verdeckte Art des Bürgerkriegs herrscht und in der bestimmte Regeln außer Kraft gesetzt sind, die wir für unverzichtbar für ein zivilisatorisches Miteinander halten. Wenn man auf die Tricktechnik schaut, dann ist auch Dark City ein ganz besonderer Film, der in seiner Art und Weise, wie die Veränderung einer Stadt dargestellt wird, Pate gestanden haben könnte für den aktuellen Superhelden-Blockbuster Doctor Strange. Der repräsentiert den momentanen Höhepunkt der digitalen 3-D-Animation, indem sich die Welten und Gebäude unablässig wandeln. Das kommt in Dark City zum ersten Mal vor und ist in Doctor Strange geradezu ins Extrem getrieben.
Dark City, in dem es um verlorene Erinnerungen geht, galt 1998 auch als zukunftsweisend hinsichtlich seiner Thematisierung der menschlichen Identität.
Ja, Identitätsfragen sind ein ganz wichtiges Thema für das Genre. In der Dark City ist man jeden Tag ein anderer, alle 24 Stunden erhält man ein neues Programm, die ganze Persönlichkeit wandelt sich dadurch. Doch schon in John Frankenheimers Seconds (Der Mann, der zweimal lebte, USA) von 1966 reagiert jemand auf das Versprechen, er könne etwas ganz anderes werden – jünger nämlich. Er wird daraufhin mit einem anderen Körper ausgestattet, und das wird als Dystopie dann sehr schön düster durchgespielt. Auch für die Alien-Filme ist das Thema wichtig, insofern hier ja außerirdisches Leben von den angefallenen Astronauten körperlich „verinnerlicht“ wird. Alle diese Filme, ob sie nun von Außerirdischen oder technischen Manipulationen handeln, stellen irgendwann die ganz entscheidende Frage: Was ist am Menschen das genuin Menschliche?
Einige populäre Titel, mit denen man in dieser Retrospektive fest gerechnet hätte, fehlen in Ihrer Auswahl, Metropolis beispielsweise. Warum?
Auf einige Klassiker, darunter Metropolis und 2001: A Space Odyssey, haben wir bewusst verzichtet, weil sie in der Ausstellung schon ausführlich vorgestellt und analysiert worden sind. Uns schien es reizvoller, in weniger bekannte Galaxien vorzustoßen. So zeigen wir beispielsweise statt eines Films von Andrei Tarkowski mit Pisma mjortwowo tscheloweka ein weniger verbreitetes Werk seines ehemaligen Assistenten Konstantin Lopuschanski, der nicht weniger eindringlich als Tarkowski von einer post-apokalyptischen Welt erzählt.
Nun lebt das Genre nicht zuletzt auch davon, dass es unfassbar schlechte Filme gibt, die aber gerade deswegen ungeheuer beliebt sind. Sind solche „guilty pleasures“ auch in der Retrospektive zu finden?
In gewisser Weise schon. Das fünfte Element macht sich ja den Spaß, mit viel Geld das, was im billigen Film furchtbar peinlich aussieht, besonders hübsch aussehen zu lassen – denken Sie nur an die unterschiedlichen Verkörperungen der Aliens. Oder The War of the Worlds: Der Film hat zwar 1953 einen Oscar für die besten Spezialeffekte erhalten, wirkt heute aber an manchen Stellen unfreiwillig komisch, woraus er seinen hohen Unterhaltungswert bezieht. Insofern ist die Reflexion über diese Seite des Genres in der Auswahl durchaus vertreten.