2018 | Forum Expanded
Die Sinne revolutionieren
34 Filme und Videoarbeiten aller Längen und Genres sowie 15 Installationen aus insgesamt 27 Ländern gibt es im Forum Expanded 2018 zu sehen. Im Interview sprechen Sektionsleiterin Stefanie Schulte Strathaus und Kurator Uli Ziemons über die Politik des Kinos bei Maya Deren, ungewöhnliche Zeit- und Raumerfahrungen und die Bedeutung des Archivs für eine alternative Geschichtsschreibung.
Als eine der revolutionärsten Arbeiten der Berlinale 2018 empfinde ich Extended Sea von Nesrine Khodr, die bei Euch in der Ausstellung zu sehen ist. Mit einer Länge von 705 Minuten widerspricht sie im Kontext eines Filmfestivals grundlegend jeglichen Geboten von Akkumulation und Stress, schafft eine komplett andere Form der Wahrnehmung und des Zeitempfindens. Kann ich mir im Forum Expanded 2018 tatsächlich die Sinne revolutionieren lassen?
Stefanie Schulte Strathaus: Das ist schön, dass Du mit dieser Arbeit einsteigst. Wir kannten sie schon seit der Auswahlsaison des Vorjahres, aber für 2017 war es bereits zu spät. Als sich in diesem Jahr das Programm langsam formierte, hatten wir den Eindruck, dass etwas fehlte. Da fiel uns Extended Sea wieder ein, weil die Arbeit ein verändertes Zeit-Raum-Verhältnis herstellt, das einem erlaubt, den Fokus auf die eigenen Sinne zu richten, Erwartungshaltungen abzulegen und mit geöffnetem Blick in die Ausstellung – vielleicht sogar ins ganze Festival - einzusteigen. Deshalb haben wir sie an den Anfang der Ausstellung in der Akademie der Künste platziert.
Ihr bezieht Euch 2018 sehr konkret auf die Regisseurin und Filmtheoretikerin Maya Deren. Steht die Arbeit in diesem Kontext?
SSS: Sie berührt den Kern ihrer Kinotheorie. Für Deren ist Kino nur dann sinnvoll, wenn es neue Wahrnehmungsweisen hervorruft, die niemals endgültig sind. Die nächste Seherfahrung wird wieder alles verändern. Der Begriff der „Erfahrung“ ist bei ihr sehr wichtig, in ihm sieht sie das Politische des Kinos begründet. Wir versuchen, mit unseren Programmen dafür einen Möglichkeitsraum herzustellen, in dem sich das Kino und die Form unserer Wahrnehmung stets erweitern und verändern können.
Wie hängt das mit Eurem Schwerpunkt auf dokumentarische Arbeiten zusammen?
SSS: Die Wahrnehmung zu verändern ist Voraussetzung jeder dokumentarischen Arbeit. Erst einmal geht es nicht um Inhalte und Fakten, sondern darum, den Blick zu erweitern, Blickrichtungen zu verändern und die Sinne zu schärfen. Und das kann das Kino hervorragend, ganz besonders das experimentelle. Installative Arbeiten können sehr frei mit der Position des/der Betrachter*in spielen, während das Kinodispositiv eher festgelegt ist. Dadurch entsteht im Bereich des Dokumentarischen ein größeres Spektrum formalästhetischer Möglichkeiten.
Hinzu kommt, dass es im Moment eine große Themenvielfalt gibt, die sich überall durch besondere Dringlichkeit auszeichnet. An nahezu jedem Ort dieser Welt durchleben oder beobachten die Menschen derzeit krisenhafte Situationen, mit denen sich Künstler*innen und Filmemacher*innen auseinandersetzen. Deshalb sind viele unserer Arbeiten auf eine doppelte Art dokumentarisch: Die Künstler*innen präsentieren die aktuelle Bandbreite filmischer Möglichkeiten, die sie entwickelt haben, um konkrete politische Inhalte einzubringen.
Die Zukunft im Rückspiegel
Wie zentral ist der diesjährige Programmtitel „A Mechanism Capable of Changing Itself“?
SSS: Der Titel könnte eigentlich über allen Forum Expanded-Jahrgängen, auch über unserer ganzjährigen Arbeit im Arsenal stehen. Wandlungen des Kino lassen sich oft zunächst nicht verbalisieren, weil wir noch keine Begriffe haben. Ähnlich schwer beschreibbar ist die Zeit, in der wir gerade leben. Unsere Arbeit ist der Versuch, darin eine Struktur zu erkennen und sie sichtbar zu machen.
Maya Deren bezieht sich auf Marx und den Kommunismus, der eine eschatologische Denkbewegung ist. Viele Arbeiten im 2018er Programm scheinen jedoch die Vorstellung von Zeit als linearer, stringenter Abfolge zu negieren und eher im Rückspiegel in die Zukunft zu sehen...
SSS: In der Tat, und diese Beobachtung trifft übrigens auch stark auf das diesjährige Programm des Forums zu. Allerdings ist das nicht ganz neu. Als beispielsweise in Ägypten die Revolution zu bröckeln begann, breitete sich eine gewisse Hilflosigkeit angesichts der Beurteilung der Gegenwart und der Erwartungen an die Zukunft aus. In der Folge wandten einige ihren Blick rückwärts in die Geschichte. Die Reibung zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist immer Voraussetzung für ein Nachdenken über die Zukunft. Insofern würde ich Dir zustimmen, wir versuchen tatsächlich die Zeit als lineare Abfolge aus den Angeln zu heben, neue Zeitstrukturen zu etablieren.
Uli Ziemons: Clarissa Thiemes Today is 11th June 1993 fächert dieses Spiel mit verschiedenen Zeiten beispielhaft auf. Sie arbeitet mit dem Archiv aus Amateurvideoaufnahmen, das während der Belagerung Sarajevos in den 1990er Jahren entstanden ist. Thieme pickt einen kleinen Science-Fiction-Film heraus, in dem Jugendliche eine mögliche Flucht imaginieren. Es ist der 11. Juni 1993, der Krieg dauert schon lange an, es gibt keinen Ausweg mehr. Sie drehen ein Video, das so lange von Generation zu Generation weitergegeben werden soll, bis die Zeitmaschine erfunden ist und die Macher des Videos herausgeholt werden können. Der Plan geht auf, nur bleibt die Person, die die Zeitmaschine konstruiert hat, im Sarajevo der 1990er sitzen.
SSS: Die Überwindung von Zeit und Raum ist ein Thema, das das Programm durchzieht. In Aala kad al shawk - Le Voyage immobile (As Far As Yearning) verleihen Mohamed Soueid und Ghassan Salhab, in verschiedenen Städten lebend, ihrer Sehnsucht nach ihrer Freundschaft und der Stadt Beirut Ausdruck, indem sie Textzeilen aus populären Songs austauschen. Milad Amin kann in Ard al mahshar (Land of Doom) von Beirut aus nur noch über Skype und Telefon Kontakt zu seinem Freund Ghith aufnehmen. Ghith ist Aktivist und Fotograf, durch seine Kamera sehen wir die letzten Tage der Belagerung von Aleppo. Amin ist auf die Bilder und Beschreibungen seines Freundes angewiesen. Die mediale Vermittlung schafft eine andere Ebene der Wahrnehmung.
Contra-Internet: Jubilee 2033 von Zach Blas schickt Ayn Rand und ihr Kollektiv aus dem Jahr 1955 heraus in eine dystopische Zukunftsversion des Silicon Valley. Aus der Sicht des Jetzt bietet der Film zugleich eine Reise in die Vergangenheit und die Zukunft - das führt zu einem Verwirrspiel. Beides ist Fiktion - die Vergangenheit genau wie die Zukunft.
Über Derens Bezug auf Marx assoziiere ich auch die Figur des absterbenden Staates. Wird es irgendwann eine Zeit geben, in der das Kino nicht mehr gebraucht wird?
SSS: Das kommt auf die Definition von Kino an. Das Kino hat die Aufgabe, sich mit den Bildmedien kritisch auseinanderzusetzen. Wenn es das Kino nicht mehr gäbe, wären wir möglicherweise einer unkontrollierten Bilderflut ausgesetzt. Auch wenn es außerhalb des Kinos - z.B. in der Kunst und in der Theorie – noch zahlreiche andere Möglichkeiten gibt, Bildforschung und Bildkritik zu betreiben, hat das Kino eine Form dafür gefunden, die deutlich stärker in der Gesellschaft verankert ist. Deshalb kann ich mir eine Zukunft ohne das Kino nicht vorstellen. Gleichzeitig ist das Kino für mich ein sehr offenes Format. Wie es konkret eine neue Form gewinnt, ist eine andere Frage. Aber das Kino wird gebraucht.
24 Tage Kino
In Sachen Zeit ist Margaret Hondas 6144 x 1024 eine weitere ungewöhnliche Arbeit. Mit einer Laufzeit von über 36 Stunden übertrifft sie Extended Sea noch einmal um mehr als einen Tag…
SSS: Margaret Honda hält sich nicht an institutionelle oder technische Vorgaben. Sie nimmt dabei das Risiko in Kauf, dass ihre Arbeiten selten gezeigt werden können. Das ist eine radikale Entscheidung, mit der sie uns bereits zum zweiten Mal herausfordert. Spectrum Reverse Spectrum (Forum Expanded 2014) fächerte das Farbspektrum von analogem 70mm-Material auf. Kaum ein Kino kann heute noch 70mm-Filme zeigen, glücklicherweise haben wir in unserem Kino Arsenal die Möglichkeit. Ihre neue Arbeit 6144 x 1024 widmet sich nun dem Farbspektrum eines digitalen Kinoprojektors, der es deutlich erweitert. In der Ausstellung ließ sich ein solcher Projektor nicht aufbauen, und im Kino sprengt die dafür notwendige Vorführdauer von mehr als 36 Stunden jeden verfügbaren Slot. So mussten wir unser kleines Kino Arsenal dazu nehmen, das wir sonst während der Berlinale nicht bespielen.
UZ: Die Arbeit macht jede einzelne Kombination der drei Farben Rot, Grün und Blau in jeder Helligkeitsstufe sichtbar. Bei 24 Bildern pro Sekunde und in der 10-bit Farbtiefe unseres Projektors ergibt das eine Laufzeit von 36 Stunden, 22 Minuten und zwei Sekunden. Mit anderen Projektoren wäre es beim heutigen technischen Stand allerdings schon möglich, auf eine Laufzeit von bis zu 24 Tagen zu kommen.
SSS: Wenn der/die Zuschauer*in nur große Farbflächen sieht, entstehen auf der Leinwand Leerstellen, die nicht nur einen, sondern unendlich viele Möglichkeitsräume eröffnen. Damit setzt Honda Maya Derens Forderung nach einem Kino, das die Wahrnehmung verändert, auf eine sehr zeitgemäße Art um, indem sie den / die Betrachter*in zu ihren Grundlagen führt. Das ist meines Erachtens eine sehr politische Geste.
Habt Ihr die Arbeit in ihrer vollen Länge gesehen?
SSS: Nein - wir hätten das Kino nicht 36 Stunden blockieren können. Entscheidend ist auch nicht, den Film komplett zu sehen - obwohl wir zunächst mit der Idee gespielt haben, ihn über Nacht in seiner vollen Gänze zu zeigen und dafür Verpflegung für die Besucher*innen zu organisieren. Vor 30 Jahren hätte es dafür ein großes Publikum gegeben. Heute gehen die Zuschauer*innen lieber irgendwann in einen anderen Film, oder ins Bett, oder zu einer Party. Deshalb haben wir entschieden, ihn über die Festivaltage hinweg allabendlich in Teilen von jeweils einigen Stunden im kleinen Saal des Arsenals zu zeigen.
Arbeiten wie 6144 x 1024 sind nur schwer zu vertreiben. Gibt es dennoch einen „Markt“ für solche Werke?
SSS: Wir bieten allen ins Forum eingeladenen Künstler*innen und Filmemacher*innen an, ihre Arbeiten in unsere Sammlung und/oder in unseren Verleih zu übernehmen, allerdings nicht aus Marktinteresse. Uns geht es darum, über die Festivaldauer hinaus eine möglichst große Sichtbarkeit zu schaffen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, zumindest ein Stück weit Verantwortung zu übernehmen für die Arbeiten, die wir einladen, indem wir ihnen ein Zuhause bieten. Wir haben unter unseren Gästen ein großes Fachpublikum. Nicht nur Filmverleiher, sondern auch Galeristen, Kuratoren und andere Multiplikatoren. Die Erfahrungen, die sie während des Festivals machen, wirken oft lange nach, manche Arbeiten unseres Programms finden noch jahrelang Eingang in andere Projekte und Ausstellungen. Ich würde das nicht als „Markt“ bezeichnen, eher als Schnittstelle.
Detektive des Archivs
Evidence of the Evidence von Alexander Johnston und Watching the Detectives von Chris Kennedy sind inhaltlich sehr ähnlich. Lassen sich die beiden Filme auch in ihrer Methode vergleichen?
UZ: Beide analysieren gefundenes Material, in der Hinsicht sind sie vergleichbar. Der entscheidende Unterschied ist die jeweilige Herkunft des Materials. Evidence of the Evidence basiert auf dem Videomaterial, mit dem die Staatsmacht den brutal niedergeschlagenen Aufstand der Gefängnisinsassen in Attica 1971 aufgezeichnet hat, um die Anführer des Aufstandes zu identifizieren. In Watching the Detectives nutzen anonyme Internetuser auf reddit die Bilder, die Überwachungskameras während des Anschlags auf den Boston Marathon aufgezeichnet haben, um in einer Art Crowdsourcing die Täter zu identifizieren. Beide Filme wenden ein ähnliches Verfahren an und fragen nach der Evidenz des Bildes - ob Foto oder Video als Beweismittel dienen können.
Interessant fand ich die Kombination der beiden Filme vor allem in Hinblick auf eines Eurer Herzensthemen: das Archiv. Zwischen 1971 (Attica) und 2013 (Boston) muss sich die Quellenlage total verändert haben, Quantität und Verfügbarkeit sind exponentiell gestiegen. Erleichtert diese neue Materialflut die Möglichkeiten alternativer Geschichtsschreibung?
SSS: Die Quellenlage schafft Möglichkeitsräume. Allerdings hat die alternative Geschichtsschreibung, von der wir sprechen, nichts mit dem Unwort des Jahres 2017, den „alternativen Fakten“, zu tun. Wir meinen die Ermächtigung derjenigen, die Unterdrückung erlitten haben und die nun ihre Geschichten zu erzählen. Das betrifft auch die Filmgeschichte, die aus der Sicht des Westens geschrieben wurde.
Zu “Think Film No. 6: Archival Constellations” kommt in diesem Jahr erneut das ägyptische Kollektiv Mosireen. Sie haben Filmmaterial, das während der Aufstände in Kairo entstanden war, archiviert und unter Berücksichtigung vieler Kriterien eine Datenbank entwickelt, um es zugänglich zu machen. Gleichzeitig werden immer mehr Archive überhaupt erst erschlossen, wie z.B. das National Film, Video and Sound Archive in Nigeria. Im Forum ist die restaurierte Fassung des nigerianischen Spielfilms Shaihu Umar von Adamu Halilu aus dem Jahr 1976 zu sehen. Auch vor Nollywood gab es in Nigeria eine große Filmproduktion. Shaihu Umar von 1976 zu restaurieren und heute zur Aufführung zu bringen hat verändernden Einfluss auf die bereits geschriebene Filmgeschichte.