2018 | Berlinale Shorts
Dynamit der Zehntelsekunden
„Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung.“ – Walter Benjamin*
22 Filme aus 18 Ländern konkurrieren bei Berlinale Shorts 2018 um den Goldenen Bären für den Besten Kurzfilm. Im Interview spricht die Kuratorin Maike Mia Höhne über die Schwerpunkte im Programm, das besondere Vermögen des Kurzfilms und eine Sonderreihe zum 50. Jubiläum der 68er-Bewegung.
2018 – Was ist das, was kommt?
Kurzfilm ist das Barometer für das, was kommt. Die Berlinale ist das erste A-Filmfestival im Jahr und zeigt die Filme, über die 2018 gesprochen werden wird. Im Kurzfilm manifestiert sich die Handschrift der Regie. Wir freuen uns sehr über diesen besonderen und prägenden Moment in den Karrieren der Filmemacher*innen! Es ist großartig zu sehen, wie sie Fahrt aufnehmen und über sich hinauswachsen.
Was erzählt der Wettbewerb 2018?
2018 wird intensiv. Die Kurzfilmauswahl sprüht vor Energie. Es sind mutige, wilde Filme. Verspielt, ernsthaft und vor allem eigen. Die Gesamtheit der Auswahl erzählt von der großen Bandbreite der Sehnsüchte, die uns umgeben und leiten, von den Fragen, denen wir uns gesellschaftlich stellen müssen. Als große Stärke unseres Programms empfinden wir auch die vielen Stimmen aus sehr diversen Wirklichkeiten. Im Berlinale Shorts-Programm läuft das erste Mal ein Film aus Ruanda: Der 27-jährige Regisseur Samuel Ishimwe inszeniert in seinem hybriden Werk Imfura einen jungen Mann, der das erste Mal in das Dorf seiner Mutter reist. Sie ist während des Genozids verschwunden und er sucht nach der Erinnerung. Religiöse Rituale, ein Gerichtsprozess, Wiedertreffen mit Familienmitgliedern. Spannend und sehr dicht. Komplementär steht Imfura dem Film Babylon von Keith Deligero gegenüber. Zwei Frauen machen sich auf, einen Diktator zu töten. Ohne Angst, mit vielen Verbündeten und Blitzen auf der Brust. Blut fließt, es wird geballert und am Ende siegen die Guten – eine neue Stimme von den Philippinen, die für eine Kinotradition steht, die Arthouse und Telenovela nicht als Gegensatz versteht.
Die Filmemacher*innen bieten in ihren Werken Strategien der Selbstermächtigung an. In Onde o Verão Vai (episódios da juventude) von David Pinheiro Vicente ist es nichts weniger als die Schöpfungsgeschichte selbst, die der junge Regisseur aus Portugal neu erfindet. Queer und experimentierfreudig, mit Freunden, einfach ganz anders. Jayisha Patel hingegen hält in ihrem Dokumentarfilm Circle die Familie als Keimzelle für den Frauenhandel fest. In diesen Aufnahmen ist es die Großmutter, die ihre Enkeltochter für die Vergewaltigung verkauft. Patel hat sich ein großes Vertrauen innerhalb dieser Familienstrukturen erarbeitet, was es ihr ermöglicht, wie eine vierte, vertraute Person ganz dicht im engen Kreis dabei zu sein. Unvermittelt und direkt erzählt die Tochter von dem Missbrauch und klagt ihre Mutter an. Dadurch, dass sie Worte findet, verändert sie den Lauf der Dinge. In City of Tales von Arash Nassiri wird Los Angeles zu Teheran. Die Lichter glänzen wie von Ecstasy betäubt; und alles, was zu hören ist, sind persische Mundarten. Ein Wechsel der Sinne und Perspektiven!
Gleich zwei Filme konzentrieren sich auf die Lebensumstände von Tieren und interessanterweise sind beide, sowohl Le Tigre de Tasmanie von Vergine Keaton als auch Blau von David Jansen, Animationsfilme. In Blau reisen wir mit einer Walkuh und ihrem Kalb durch die unendlichen Weiten der Ozeane. Klingt nach Idylle, ist es aber nicht. Die Mutter wird vor den Augen ihres Kindes getötet und das Kalb ist auf sich selbst gestellt. Es versucht, die Welten zu verstehen. Zwischen abstrakter Kunst und konkreten Verhältnissen, wie die Verschmutzung der Meere, bewegt sich das Kalb durch das große Blau. In Le Tigre de Tasmanie ist es umgekehrt: Der Tiger lebt im Zoo und dreht dort seine Runden. Hospitalismus. Er ist einer der letzten seiner Art. In Russa erzählt das Regieduo João Salaviza und Ricardo Alves Jr. von den Folgen der Unmenschlichkeit der Immobilienbranche, dem Goldrausch des 21. Jahrhunderts. Was bedeutet es, wenn Menschen erneut und erneut aus ihrem Umfeld vertrieben werden, um denen Platz zu machen, die gesellschaftlich die Macht haben? In Alma Bandida von Marco Antônio Pereira sucht ein junger Mann in einer Grube nach Edelsteinen. Diese Kostbarkeiten sind Synonyme für ein anderes Leben – anders als jenes, das er am Rande des Urwaldes in Brasilien führt. Ja, Filme sind Edelsteine, Wünsche und Hoffnungen, die von der Leinwand leuchten!
Gibt es darüber hinaus Schwerpunkte bei Berlinale Shorts 2018?
Wir gedenken im Jahr 2018 dem 50-jährigen Jubiläum der 68er-Bewegung. Die Berlinale Shorts machen den Aufschlag mit einem aufregenden Sonderprogramm: „1968 – Rote Fahnen für alle“ verbindet unterschiedliche ästhetische Positionen – z.B. Expanded Cinema, Experimentalfilm und Essayfilm – und trägt die Filme entspannt in die Gegenwart. Ausgehend von der subjektiven Sicht und dem Erleben der Zeit, haben die Filme bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. VALIE EXPORT, Claudia von Alemann, Ula Stöckl, Peter Nestler, Wilhelm und Birgit Hein sowie weitere Künstler*innen haben zeitlose Kunstwerke geschaffen.
Gleich dreimal ist in den vergangenen sechs Jahren der Goldene Bär nach Portugal getragen worden. A life-changer?
Die dritte Generation an Regisseuren des zeitgenössischen portugiesischen Kinos hat die Fiktion als Möglichkeit verstanden, mit einer großen erzählerischen Freiheit die Gegenwart zu verhandeln. Filme verändern Leben und Bären geben den Glanz. Die Berlinale ist für die weltweite Kurzfilmszene ein Impulsgeber und ein Sprungbrett von enormer Tragweite. Die Vergabe des Goldenen Bären für den Besten Kurzfilm ist das Highlight der Preisverleihung! Dieser Preis ist die größte Zustimmung für das Autorinnenkino und Autorenkino der Zukunft. Ein Beispiel: 2014 gewannen Caroline Poggi und Jonathan Vinel mit Tant qu'il nous reste des fusils à pompe den Goldenen Bären. Die beiden haben in einem Interview mit Arte gesagt, dass der Gewinn des Bären für sie ein eindeutiges Zeichen war: Ihr radikal eingeschlagener, ästhetisch bemerkenswert konsequenter Weg ist richtig! 2016 zeigten wir bei Berlinale Shorts den unerreichten Film Notre Héritage der beiden, im letzten Jahr Martin Pleure von Jonathan Vinel. Nun wird ihr Spielfilmdebüt Jessica Forever bei chaosreigns unter den zehn meist erwarteten Filmen für 2018 gelistet – zwischen Weerasethakul und Lars von Trier.
Was kann der kurze Film, was der langen Form verwehrt bleibt?
Ich würde gar nicht zu stark abgrenzen wollen, denn beide Formen können vieles. Ich liebe den Kurzfilm für seine Prägnanz und Konzentration sowie für seine Möglichkeit, auf ein Umfeld schnell reagieren zu können. Die kurze Form ist ein großartiger Möglichkeitsraum!
Wie kann der Kurzfilm noch sichtbarer werden?
Ich denke derzeit über die Schaffung eines Archivs nach: eine Kinemathek der kurzen Form. Es gibt Vorbilder in Dänemark und Frankreich, und der Zuspruch dieser Archive, die Nachfrage nach den Filmen für verschiedenste Zusammenhänge – Unterricht, Recherche, Programmgestaltung – gibt der Initiative Recht. Es ist zeitgemäß, heute mit einem Online-Archiv die vielen Filme jenseits einer Festival-Präsentation zu nutzen. Europaweit arbeiten Kolleginnen und Kollegen mit ähnlichen Ideen. Zur Berlinale werden wir uns treffen, um die verschiedenen Anliegen zu koordinieren. Die Bundesregierung hat mit VISION KINO eine Initiative geschaffen, deren Hauptaugenmerk auf dem Kino als kultureller Ort liegt. Seit 2017 gibt es die Möglichkeit für Kinobetreiberinnen und Kinobetreiber, sich bei der Präsentation von Kurzfilmprogrammen finanziell unterstützen zu lassen. Ich denke an die Vielfalt der Form und möchte diese zugänglich machen – im Kino, in der Schule und Universität, für Museen und Kuratoren.
Walter Benjamin denkt in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“: „Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt [...]. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung.“ Das war 1935/36. Was kann der Film heute?
Film sprengt nach wie vor festgefahrene Vorstellungen und macht uns frei für einen neuen Blick. In The Men Behind the Wall von Ines Moldavsky interessiert sich die Regisseurin aus Tel Aviv für die Männer aus dem Westjordanland. Via Dating-Plattformen treffen sie sich. Das Überschreiten von Grenzen ist Thema dieses Künstlerinnenfilms. Auf technischer Seite unterstützt die Digitalisierung die Zukunft des Filmemachens. Sowohl im Kamera- als auch im Kinobereich erwarten uns Blendenbereiche jenseits der analogen Fotografie. Das heißt, es gibt neue Forschungsbereiche in den Farbverläufen, im Weiß, im Schwarz. Dazu kommen Orte und Zustände, die wir heute mit den Kameras erreichen, die noch in den 1990er Jahren undenkbar gewesen wären: Höhen, Tiefen, Verläufe. Es sind neue Dimensionen, die erzählt werden können. In Imperial Valley (cultivated run-off) von Lukas Marxt entstehen durch einen heute simplen Drohnenflug überwältigende Bilder.
Die Festivalfamilie, die oft besprochene Bindung von bestimmten Filmemacher*innen an bestimmte Festivals... Gibt es eine Solidarität zwischen den Kreativen und den Festivals?
Familien sind die Grundlage der griechischen Tragödien und begleiten uns allein deswegen schon ziemlich lange. Das Konfliktpotential in Familien ist sehr hoch und gleichzeitig sind Familien wunderbar bewegliche Systeme. Jenseits der Konkurrenzsituation, die ein Festival mit sich bringt, in dem es um große Preise geht, ist es unser erklärtes Anliegen, die Filmemacher*innen miteinander in Verbindung zu bringen. Durch diese sehr intime Arbeit während des Festivals haben sich schon viele Bande geknüpft. Es geht auch um eine Verwurzelung im Miteinander jenseits der Wettbewerbssituation. Eine Familie ist eine Familie, ein Festival ein Festival – das Beste aus beidem wird bei der Berlinale zu elf großen Tagen!
* Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – Die drei deutschen Fassungen in einem Band, Berlin 2015