2018 | Berlinale Talents
Geheimnisse teilen
Zu 25 öffentlichen Talks und fünf Filmvorführungen laden die Berlinale Talents das Berliner Publikum in diesem Jahr ein. Im Interview sprechen Programmleiter Florian Weghorn und Projektleiterin Christine Tröstrum über den diesjährigen Themenschwerpunkt, das besondere Gefühl, das die Sektion auszeichnet, und die #MeToo-Debatte.
Euer diesjähriges Thema lautet „Secrets“. Wie seid Ihr darauf gekommen?
FW: Themen entstehen bei uns aus dem Bauch. Und zwar nicht aus dem eigenen, sondern dem der Initiative und ihrer weltweiten Community. Sie stehen also für das, woran wir gerade arbeiten und an dem viele unserer Talente inhaltlich und praktisch zu knabbern haben. In diesem Jahr suchen wir speziell nach dem Geheimnisvollen des Films, den Dingen und Momenten, die erstmal nicht gleich offensichtlich sind. Wir wollen unser Wissen und die Faszination für das Geheimnisvolle im Film teilen und nach draußen tragen. Schaut man in die Filmbranche, sind manche Geheimnisse längst überfällig und müssen gelüftet werden. Aber was die Geschichten und Bilderwelten angeht, soll die Magie des Films bewahrt werden. Denn in einer Zeit, in der technisch alles überall und jederzeit verfügbar scheint, sind Geheimnisse ja fast schon etwas Schützenwertes.
CT: Die Jahresthemen entstehen zudem immer aus der Reflexion über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wie würden wir gerne arbeiten und leben? Wie könnte die Zukunft aussehen? Vor allem auch mit Blick auf den sozialen Zusammenhalt und die Nachhaltigkeit. Der Wandel und der Aufbau von Organisationen sind in diesem Kontext zentrale Faktoren. Wie wird zum Beispiel Wissen geteilt, wie wandert Wissen zwischen den Hierarchieebenen? Wir befördern transparente Prozesse und entwickeln ganz neue Vorstellungen, wie wir zukünftig gemeinsam arbeiten wollen. Deshalb sind „Sharing secrets“ und „Sharing knowledge“ wichtige Impulse sowohl für das diesjährige Thema als auch für unser gemeinsames Arbeiten bei der Berlinale im Ganzen.
Ein Netzwerk der gegenseitigen Sympathie
Mit 3191 Bewerbungen aus 133 Ländern habt Ihr einen neuen Rekord in diesem Jahr aufgestellt. Eure Alumni Community ist inzwischen auf 5400 Mitglieder angewachsen. Habt Ihr angesichts dieser Zahlen noch Ziele für die nächsten Jahre?
CT: Natürlich, wir ruhen uns niemals aus. Berlinale Talents ist „demanding“, unser Anspruch ist es, das Programm permanent an die Bedürfnisse sowohl der Filmemacher*innen als auch an die der Industrie anzupassen. Der Wandel ist schon im Programm inbegriffen. Viele unserer Alumni kehren als Expert*innen zurück, bieten eigene Programmschwerpunkte an, aus denen neue Initiative entstehen, und sorgen damit für weitere Veränderungen.
FW: Und wie überall bei der Berlinale bemessen wir Erfolg selten in Zahlen. Tiefgang und Nachhaltigkeit sind die entscheidenden Kriterien. Die Ur-Idee von Berlinale Talents ist keine Schule oder „Talentschmiede“, sondern ein Netzwerk der gegenseitigen Sympathie. Wer nach Berlin kommt, ist bereits ein Talent und trifft auf Talente. Vertrauen ist uns wichtig, wir wollen ermutigen, den eigenen Weg weiterzugehen. Diese Struktur ermöglicht es uns, viele unserer Teilnehmer*innen aus früheren Jahrgängen wieder als Expert*innen einzuladen. In diesem Jahr etwa den Regisseur David Zellner oder die Produzentin Bianca Balbuena, die beide mit ihren Filmen im Wettbewerb laufen. Es dauert meist nur eine halbe E-Mail, um das alte Family-Feeling wieder herzustellen – und damit auch eine neue Arbeitsbeziehung zu etablieren, die generell sehr gut zur Berlinale passt.
CT: Nur ein Beispiel: Mir hat ein südafrikanische Produzent Dylan Voogt geschrieben, er sei mit einer dänischen Produktion zu Berlinale Series eingeladen. Als letzter Satz stand da: „Happy to be back. Talents was a life changer and it works.“ Ich habe ihm gratuliert und gefragt, ob er nicht etwas bei Talents machen will. Seine Antwort: „Ja, wenn du mich brauchst, sag Bescheid.“
Und wie soll die Zukunft aussehen?
FW: Für die Zukunft wünschen wir uns eine Vertiefung dieser Beziehungsarbeit, die auch immer eine inhaltliche ist. Es geht nicht um „secret handshakes“, sondern um die Bereitschaft, sich zusammen über Themen zu verständigen und sich gegenseitig stärker zu machen. In diesem Sinne verändert sich das Programm gerade wieder und öffnet immer neue Räume für diese Art des Austauschs. An vielen Stellen haben wir uns von klassischen Panels verabschiedet zugunsten von kleinen, interaktiven Formaten, bei denen auch die großen Stars mit den Talenten und dem Publikum in einen echten Dialog treten können. Vieles ist wie immer öffentlich für alle Berlinalebesucher*innen. Aber wir glauben auch, dass es Schon- oder Schutzräume braucht, in denen Themen offen und nochmal kontroverser angesprochen werden können.
CT: Zudem begreifen wir unsere Initiative als einen Ort des lebenslangen Lernens. Jeder Tag bedeutet, Neues zu entdecken - und den Wert dieser neuen Erkenntnisse zu reflektieren. Deshalb richtet sich Berlinale Talents nicht nur an Filmschaffende, die am Anfang ihrer Karriere stehen, sondern ist eine Einladung an alle, sich zu beteiligen und ihr Wissen zu teilen bzw. zu vermehren.
Im Kontakt mit dem Publikum
Viele Eurer Veranstaltungen sind auch für ein öffentliches Publikum zugänglich. Was macht den besonderen Reiz aus?
FW: Wir können das Filmerlebnis der Festivalbesucher*innen vertiefen. Deshalb knüpfen wir oft bei Filmemacher*innen an, deren Werke die Zuschauer*innen im Festival vielleicht gesehen und die sie in Publikumsgesprächen kurz auf der Bühne erlebt haben. Bei Talents besteht dann die Möglichkeit, in die Produktionsprozesse oder in das jeweilige Verständnis von Film einzutauchen. Mit Wes Anderson haben wir vereinbart, dass sein Storyboard-Artist Jay Clarke zu uns kommt. Für Grand Budapest Hotel und den wunderbaren diesjährigen Berlinale-Eröffnungsfilm Isle of Dogs haben Clarke und Anderson schon in den ganz frühen Phasen der Produktion zusammenarbeitet – da, wo die Ideen geboren werden. Bei uns wird Jay Clarke in einer tierisch guten Veranstaltung ins Zeichnen kommen. Das ist uns wichtig: Dass unsere Gäste nicht nur reden, sondern praktisch agieren und interagieren.
CT: Von Beginn an war einzigartig bei Berlinale Talents, dass wir nicht nur Regie, Produktion, Schauspiel und Drehbuch in den Fokus stellen, sondern alle Gewerke - bis hin zur Filmkritik. Im öffentlichen Programm spiegelt sich das sehr gut wider, zum Beispiel in einer Veranstaltung zum Lichtdesign von Blade Runner 2049 oder einem für alle zugänglichen Schauspielworkshop mit Josephine Decker.
„I‘ve been called a woman cameraman.“
Die Gleichberechtigung in der Filmbranche ist mit der #MeToo-Debatte stark ins öffentliche Bewusstsein gerückt. In diesem Jahr habt Ihr 128 Frauen und 122 Männer an Bord. Ist Euch diese Gleichstellung ein Anliegen?
CT: Berlinale Talents war von Anbeginn eine fifty-fifty Veranstaltung. Das ist uns tatsächlich ein Anliegen und zur Selbstverständlichkeit geworden. Es gibt immer noch viel zu tun, aber wir achten darauf, dass wir auch die tieferen Strukturen der Filmproduktion angehen – vor allem in den Gewerken. Denn wenn es um Gleichberechtigung im Austausch zwischen unterschiedlichen Menschen geht, dann betrifft das immer das Filmteam als Ganzes. Mit den legendären Kamerafrauen Nancy Schreiber und Agnès Godard verorten wir das Thema im Herzen des diesjährigen Programms. Unser erster Berührungspunkt mit Nancy war ein Interview, in dem sie sagte: „I‘ve been called a woman cameraman.“ Obwohl es zum Glück immer mehr erfolgreiche Kamerafrauen gibt, hat sich selbst in der Google-Suche das einfache Wort „camerawoman“ oder neutral „cinematographer“ nicht durchgesetzt. Wir werden mit Nancy und Agnès vor allem über ihre tolle Kameraarbeit sprechen, aber das öffentliche Panel im HAU1 darf auch gern die Debatte um Frauen in den sogenannten „technischen Gewerken“ ein Stück voranbringen. Wir hoffen auf rege Beteiligung der Zuschauer*innen.
FW: Vielleicht noch ein Gedanke zur #MeToo-Debatte. Wir als Festival haben großen Respekt für die vielen Menschen, die sich jetzt trauen, oft unsägliche Geheimnisse zu lüften. Und wir sind der Meinung, dass man das System verändern muss. Vieles von dem, was das Festival als Ganzes zu dieser Debatte beitragen möchte, findet daher in den Industry-Initativen statt – nicht zuletzt im European Film Market oder bei uns, die wir Veränderungen in den Tiefenschichten anstoßen können. Wir fragen, wie sich Formen der Zusammenarbeit im Film so gestalten lassen, dass Hierarchien und Machtverhältnisse bewusster werden, so dass die Chance besteht, sie im nächsten Schritt zu verändern. Talents ist für solche Prozesse wie gemacht: Die 250 Talente plus die Expert*innen warten nur darauf, sich solche Fragen zu stellen – und sie haben sehr gute Ideen.
Diversity und Vielfältigkeit ist ja auch ein generelles Grundprinzip der Talents...
CT: Ja. Und das zu erleben, überwältigt uns immer wieder. Wenn ein Palästinenser und ein Israeli einen Workshop zusammen machen und erst am Ende der Woche feststellen, woher sie eigentlich kommen. Grenzen und kulturelle Befindlichkeiten gibt es nicht, Berlinale Talents ist in diesem Sinne ein ganz eigener, friedlicher Planet.
Die Filmemacher*innen begleiten
Mit dem Kompagnon-Förderpreis habt Ihr gemeinsam mit der Perspektive Deutsches Kino im letzten Jahr zum ersten Mal einen sehr besonderen Preis verliehen. Hat sich Euer Ansatz bewährt?
CT: Das Besondere des Preises ist, dass er über das hinausgeht, was viele andere Preise tun, nämlich den Leuten Geld in die Hand drücken und sagen: „Du machst das schon.“ Das ist auch schön und sehr wichtig, aber der Kompagnon will mehr. Er will wortwörtlich ein Begleiter sein, der für ein Jahr an der Seite der Gewinner*innen steht, hilft und unterstützt. Nora Fingscheidt, die letztes Jahr den Preis für ihr Projekt Systemsprenger gewonnen hat, hat sich relativ früh mit uns zusammengesetzt und überlegt, was sie eigentlich braucht. Und sich dafür entschieden, sich verschiedene Leute zu holen, die wie ein Notfalltelefon für sie funktioniert haben, wenn sie jemanden mit Erfahrung brauchte. So hat sie juristische Hilfe, Beratung bei der Drehbucharbeit und in der Vorbereitung der Produktion bekommen. Sie hat ein Netzwerk um ihr Netzwerk gesponnen. Und das ist unheimlich beglückend für uns zu sehen, denn genau dafür ist der Kompagnon gedacht.