2018 | Perspektive Deutsches Kino
Rückenwind von vorn
14 Filme, darunter sechs abendfüllende Spiel- und vier Dokumentarfilme sind 2018 im Wettbewerb der Perspektive Deutsches Kino zu sehen. Im Interview spricht Sektionsleiterin Linda Söffker über Rückenwind von vorn, starke Frauen vor und hinter der Kamera und den Aufschwung des deutschen Films.
In Eurer ersten Pressemitteilung zum diesjährigen Programm heißt es: „Wenn starker Wind von vorne bläst, muss man selbst noch stärker werden, um sein Ziel zu erreichen.“ Passt dieses Zitat auch auf die aktuellen Diskussionen um die Berlinale als Ganzes?
Ja, das kann man so sehen. „Rückenwind von vorn“ bedeutet ja eigentlich Gegenwind. Und Gegenwind haben wir vor zwei Monaten ganz schön bekommen - von der Presse, aber auch von einzelnen Regisseur*innen. Zuerst war ich geschockt, wie heftig die Angriffe und Diskussionen waren. Dann hat die Situation mich aber eher befeuert, weiterzumachen und mein Bestes zu geben. Nach einer Zeit der Selbstreflektion, in der ich mich und unsere Arbeit auf den Prüfstand gestellt habe, konnte ich gut einordnen, welche Kritikpunkte legitim und welche komplett an den Haaren herbeigezogen waren. In diesem Sinne wurde die Kritik selbst zum „Rückenwind von vorn“ – weil sie mich letztendlich bestärkt hat. Den Gegenwind für sich zu nutzen, könnte auch ein Motto für die Perspektive insgesamt sein. Der jeweilige Jahrgang, die jeweilige Generation von Regisseur*innen zeigt bei uns ihren ersten, zweiten oder dritten Film. Die jungen Filmemacher*innen sind unheimlich aufgeregt und müssen stark sein, wenn sie sich mit ihren Arbeiten das erste Mal vor 500 Leuten im Premierenkino auf einer großen Bühne präsentieren. Sie müssen zu ihrem Werk stehen und zusammen mit ihrem Team das Publikumsgespräch meistern. Viele von ihnen sind Anfänger*innen in der Branche, und ich wollte zum Ausdruck bringen, dass der Gegenwind – sollte er denn aufkommen - als „Rückenwind von vorne“ auch ein aktivierender und bestärkender sein kann.
Euer Eröffnungsfilm trägt ja auch diesen Titel: Rückenwind von vorn. Philipp Eichholtz erzählt von einer jungen Lehrerin, die unter den Erwartungen ihres Umfelds den Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen verliert. Dahinter steckt die Frage: Lebe ich das Leben, das ich leben möchte? Hat diese Sinnfrage heute eine besondere Bedeutung oder warum hast Du diesen Film als Eröffnungsfilm gewählt?
Ein Eröffnungsfilm muss verschiedene Dinge erfüllen. Er muss für das Profil der Reihe stehen und etwas ganz Besonderes sein - auch wenn jeder Film unserer Reihe natürlich etwas Besonderes ist. In Rückenwind von vorn beeindruckt mich tatsächlich vor allem die junge Lehrerin, die sich fragt, ob ihr Leben so ist, wie sie es sich vorgestellt hat. Sie will auf Reisen gehen, aber ihr Mann will unbedingt Kinder haben. Er plant minutiös, wann der Eisprung ist und wann sie miteinander ins Bett gehen müssen - auch wenn dabei das Essen unterbrochen werden muss. Das ist für mich eine verkehrte Welt, denn der Mann hat die klischeehaften Frauenprobleme und die Frau träumt von der Freiheit. Die Hauptfigur Charlie fragt sich immer wieder, ob sie ausreichend gesettelt für all das ist oder eben aus ihren Strukturen ausbrechen muss.
Die Themen der Nachwuchsgeneration
Viele Filme im diesjährigen Programm handeln vom Motiv des freien Willens, sie drehen sich um Liebe und Abschied, den Verlust einer geliebten Person oder eines geliebten Gegenstands. Wie variieren die Filme diese Themen und sagen sie damit etwas über den aktuellen Zustand einer bestimmten Generation aus oder sind es Filme, die zu jeder Zeit ihre Gültigkeit besitzen?
Ich glaube eher, dass es die Themen von Abschied, erster Liebe und Familie immer in der Nachwuchsgeneration gibt. Die Filmemacher*innen bewegen sich gerne in dem Umfeld, das sie gut kennen und wollen sich in ihren ersten Werken künstlerisch damit auseinandersetzen. Also mit Dingen, die sie lange mit sich herumgetragen haben. In Feierabendbier von Ben Brummer ist das allerdings anders. Hier geht es um Statussymbole, konkret um ein Auto. Statussymbole sind ja Dinge, mit denen man sich identifiziert, schmückt und ausweist. Wenn sie plötzlich weg sind, fragt man sich: Wer und was bin ich eigentlich? So ergeht es der Hauptfigur Magnus, sie projiziert all ihre Kraft und Verlustängste in ihren schicken Youngtimer. Sein Auto ist das Größte und Beste, das er hat. Als es abhandenkommt, bricht seine Welt zusammen.
Starke Frauen
Gibt es in diesem Zusammenhang weitere Themen, die sich stärker in den Vordergrund drängen als in den Jahrgängen zuvor?
Wirklich aufgefallen in diesem Jahr sind mir die vielen Frauenfiguren und dass sich der Trend, mittellange Filme zu drehen, weiter fortsetzt. Aus diesem Grund haben wir ein mittellanges Filmprogramm zusammengestellt, das wir mit der Überschrift „Heldinnen“ versehen haben und in dem jeweils junge Mädchen in der Hauptrolle zu sehen sind.
Im Film Rå von Sophia Bösch wird ein 16-jähriges Mädchen zum ersten Mal von seinem Vater mit auf die Jagd genommen. Zunächst wird sie von allen sehr geachtet und bewundert, doch als sie einen vermeintlichen Fehler begeht, betrachten sie alle als die Kleine und von oben herab – nach dem Motto: „Sie ist eben eine Frau.“ Am Ende kann sie beweisen, dass ihr „Fehler“ gar kein Fehler war und die Jagdgesellschaft sich geirrt hat. Das muss sie vor allem sich selbst beweisen. Sie muss lernen, ihren „Mann“ zu stehen, um sich gegenüber der tradierten Männergesellschaft zu behaupten.
In Kineski zid (Chinesische Mauer) erzählt Aleksandra Odić von einem kleinen Mädchen, das mit seiner Familie in Bosnien lebt. Der ganze Film wird durch die Augen des Mädchens erzählt, zeigt wie sie mit ihrer Lieblingstante Ljilja zusammen singt oder im Garten herumtollt. Sie ist die einzige im Familiengefüge, die versteht, dass ihre Tante weggehen will, nach Deutschland. Und dass sie das auch noch am gleichen Tag tun wird. Das Mädchen hat den Durchblick, alle anderen merken es nicht.
Der dritte Film, Kein sicherer Ort von Antje Beine, handelt von einem zehnjährigen Mädchen namens Marie, das bei seinen Eltern den Haushalt und die Familie managt, weil die Mutter an Depressionen leidet. Die Mutter konfrontiert Marie mit vielen ihrer Ängste. Diese Umstände lassen sie unweigerlich schnell erwachsen werden. Sie findet keinen Ort im Haus, an dem sie wirklich Kind sein und sich zurückziehen kann. Ein trauriger Plot, aber auch eine Geschichte, in der man das Mädchen bewundert.
Momentan ist das Thema Frauen in der Filmbranche sehr präsent. Wie stark sind Regisseurinnen in Eurem Programm vertreten?
Sehr, sehr stark. Von den 14 Filmen im Programm sind acht von Frauen gemacht. Aber in der Nachwuchsreihe hatten wir eh noch nie Probleme, interessante Arbeiten von Frauen zu präsentieren. Trotzdem: 60 Prozent waren es noch nie.
Alle vier Dokumentarfilme, die in diesem Jahr gezeigt werden, sind von Frauen…
Auffällig ist, dass die Männer eher im Spielfilmbereich dominieren und die Frauen sich oft dem dokumentarischen Film widmen, besonders den emotionalen und familiären Themen. In diesem Jahr sind sogar zwei der Arbeiten in unserem Programm für den Glashütte Original – Dokumentarfilmpreis nominiert.
In draußen porträtieren Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht vier Obdachlose, die in der Gegend um und in Köln aus unterschiedlichen Gründen auf der Straße leben. Ihr Schicksal ist auch selbstgewählt, weil ihnen ihre individuelle Freiheit viel bedeutet. Der Film reflektiert die Themen Ungleichheit und Ausgrenzung bzw. Integration – ganz egal, ob diese Folge einer persönlichen Entscheidung oder von außen aufgezwungen sind. Im Laufe der Jahre habe ich mehrere Filme gesehen, die von Obdachlosen handelten, aber dass es einen Film gibt, der dieses Thema so angeht, dass man am Ende mit den vier Leuten auf die Straße ziehen will, und nicht so sehr das Gefühl hat, ihnen helfen zu müssen, das finde ich besonders. Im zweiten Dokumentarfilm, The Best Thing You Can Do With Your Life, besucht die junge Filmemacherin Zita Erffa ihren Bruder, der seit acht Jahren sein Leben als Legionär Christi in einer Ordensgemeinschaft bestreitet. In dieser Zeit haben sie kaum miteinander kommuniziert. Nun hat die Schwester die Möglichkeit, ihren schmerzlich vermissten Bruder mit der Kamera im Kloster zu besuchen und ihn mit all ihren Fragen zu konfrontieren, um so vielleicht seine Entscheidung zu verstehen.
Ein ungewöhnlicher Gastbeitrag und der Aufschwung des deutschen Films
2018 habt Ihr einen sehr spannenden Gastbeitrag. Die Dok-Serie Film Wanderungen ist ein Format, das es so bei der Berlinale noch nicht gegeben hat...
Ja. Ein sehr interessantes Nachbarschaftsprojekt am Rosa-Luxemburg-Platz. Eine Gruppe von 27 jüngeren Leuten hat sich dafür zusammengefunden und Interviews mit den Anwohner*innen rund um die Volksbühne geführt. Dabei sind ungefähr 140 Interviews entstanden - mit Männern und Frauen, Jungen und Älteren, frisch Hinzugezogenen aber auch solchen, die schon seit 40 Jahren dort wohnen. Sie alle beantworteten die Fragen: Was bedeutet Heimat? Wie sind die Nachbarschaftsverhältnisse? Wie hat sich der Kiez verändert? Wie haben sich die Mieten entwickelt? Was ist mit den Läden, die es früher hier gab, passiert? Die Anwohner*innen sind ein gutes Sinnbild dafür, was gerade insgesamt mit Berlin passiert. Aus den gesammelten Interviews sind 31 Folgen a 15 Minuten entstanden. In jeder Episode kommen drei bis sechs Interviewpartner*innen zu Wort. Einige der Episoden werden am letzten Wochenende der Berlinale in den Wohnungen der Anwohner*innen gezeigt. Die Besucher*innen haben so die Möglichkeit, aufgeteilt in Gruppen, von Wohnung zu Wohnung zu gehen, sich die Folgen anzuschauen und mit den Anwohner*innen ins Gespräch zu kommen. Eine schöne Sache, wie ich finde. Ein kleiner Perspektivwechsel, zu dem wir vor allem die Berliner Berlinale-Besucher*innen herzlich einladen.
Deutsches Kino ist seit zwei Jahren im Aufschwung. Maren Ades Toni Erdmann und Valeska Grisebachs Western sind in Cannes ausgezeichnet worden, Fatih Akins Aus dem Nichts hat einen Golden Globe gewonnen. Geht es mit dem deutschen Film international wieder aufwärts?
Hoffentlich! Jahrelang hat der deutsche Film international nicht so viel Aufmerksamkeit erregt. Mit Maren Ade, Nicolette Krebitz, Valeska Grisebach und vielen anderen war der deutsche Film wieder auf verschiedenen internationalen Festivals vertreten und hat dort Preise gewonnen. Und es sieht so aus, als würde sich dieser Trend fortsetzen. Im Wettbewerb der Berlinale haben wir in diesem Jahr vier herausragende deutsche Filme. Was mir besonders gut gefällt, ist, dass sowohl junge als auch ältere, etablierte Filmemacher*innen im Wettbewerbsprogramm zu finden sind. Christian Petzold kehrt nach Barbara (2012) zurück, Thomas Stuber, den man fast noch zum Nachwuchs zählen muss, ist mit seinem zweiten langen Film In den Gängen ebenfalls im Wettbewerb vertreten. 2008 war er übrigens schon einmal bei der Berlinale – sein Erstling Teenage Angst war bei uns in der Perspektive zu sehen.