2018 | Generation
Sehnsüchte in einer widersprüchlichen Welt
Märchenhafte Wirklichkeiten, poetische Dialoge und formale Grenzerfahrungen. Die Filme der Sektion Generation führen die Zuschauer*innen auf vielseitige Weise in das Innenleben ihrer Protagonist*innen. Im Interview gibt Sektionsleiterin Maryanne Redpath einen Ausblick auf ein diverses Programm und freut sich auf mannigfaltige Publikumsrückmeldungen.
In diesem Jahr geht es im Generation-Programm um junge Menschen, die ihre eigenen Wirklichkeiten kreieren und die Widersprüche einer fragilen Erwachsenenrealität sichtbar machen. Wie werden ihre unterschiedlichen Lebenswelten inszeniert?
El día que resistía (Der endlose Tag) von Alessia Chiesa ist so ein Beispiel aus dem Programm von Kplus, das den Kontrast zwischen Erwachsenen- und Kinderwelt beeindruckend darstellt und zudem von besonders märchenhafter Qualität ist. Es geht um ein neunjähriges Mädchen, das mit seinen beiden jüngeren Geschwistern ganz allein in einem Haus im Wald wohnt. Als große Schwester übernimmt sie Verantwortung für die Kleinen, versorgt sie und liest ihnen Märchen vor, die sie in fantastische Welten eintauchen lassen. Die Kinder sind im düsteren Wald komplett auf sich allein gestellt und die Zuschauer*innen können sie auf wunderbare Weise begleiten, wie sie sich in einer Welt ganz ohne Erwachsene zurechtfinden. Als Zuschauer*in kommt man mit ganz vielen Fragen aus dem Film und ich bin mir sicher, dass der Film auch Kinder dazu einlädt, sich mit den Figuren zu identifizieren und mit ihren Problemen auf Augenhöhe auseinanderzusetzen.
Gibt es weitere Beispiele im Programm für diese Differenz zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt?
Ja. Etwa im deutsch-kenianischen Langfilm Supa Modo (R: Likarion Wainaina, Kplus), in dem ein leukämiekrankes Mädchen davon träumt eine Superheldin zu sein. Das Mädchen ist wahnsinnig stark und überträgt ihre Stärke auf die Erwachsenen um sie herum. So gibt sie ihnen den Mut, mit der Tatsache zurechtzukommen, dass das Mädchen sterbenskrank ist.
Ein anderer Film aus dem Kplus Wettbewerb, der die Unterschiede der beiden Lebenswelten beeindruckend inszeniert, ist Allons enfants (Cléo & Paul) von Stéphane Demoustier. Zwei Kinder sind allein in Paris unterwegs und die Zuschauer*innen erleben die Welt durch deren Augen. Sie beobachten die mit sich selbst beschäftigten Erwachsenen, eine Welt, die sich immer auf einer räumlich höheren Ebene abspielt als die der Kinder. Wie El día que resistía kommt auch Allons enfants ohne „moralische Keule“ aus. Es existiert kein erwachsener Blick auf die Kinder nach dem Motto „Oh Gott, die Kinder sind ganz allein“. Mich faszinieren Filme, in denen es spürbar gelingt, auf Augenhöhe mit den Kindern mit zu erleben. Durch die Sicht des Kindes können wir in ihre märchenhafte, fantastische Welt eintauchen; und unsere, aus Kinderaugen häufig verrückte oder dysfunktionale Welt, kurzzeitig verlassen.
In welche Welten können wir denn gemeinsam mit den Protagonist*innen aus dem Kplus-Wettbewerb noch eintauchen?
Wir stranden zum Beispiel auf der japanischen Insel Sado. In Blue Wind Blows (Küstennebel) von Tetsuya Tomina begleiten wir die verträumten Kinder Ao und Kii in einem industriell geprägten Küstendorf an geheimnisvolle Orte. Es geht um Träume, Verlust, Monster und um Parallelwelten, die vielleicht die Kinder in diesen Kulturen stärker spüren als wir hier in Berlin. Ich denke da auch an den belgisch-niederländischen Dokumentarfilm , der vier Kinder, die auf Bauernhöfen in den Niederlanden aufwachsen und arbeiten, proträtiert. Poetisch und einfühlsam zeigt der Film, was die Höfe ihrer Familien und die Natur ihnen bedeuten. Janet van den Brand folgt ihren Protagonist*innen durch alle Jahreszeiten und zeichnet ein Bild von Leben und Arbeit in der Landwirtschaft ohne falsche Romantik. Es geht buchstäblich um Leben und Tod – vor laufender Kamera werden Tiere geboren und geschlachtet. Das wird natürlich sehr respektvoll gezeigt. Vor allem für Stadtkinder ein sehr wichtiger Film. Die Zuschauer*innen erleben die Abläufe hautnah und wissen am Ende des Filmes, wo das Fleisch sowie das Obst und Gemüse, das sie im Supermarkt kaufen, herkommen. Ein sehr wichtiges Statement.
In vielen Filmen aus dem 14plus-Wettbewerb, die für ein Publikum ab 14 Jahren empfohlen werden, geht es um Definitionen von Verbindlichkeit, besonders im Hinblick auf familiäre Strukturen...
Dazu fallen mir zwei starke Figuren ein. Cobain aus der gleichnamigen Mutter-Sohn-Geschichte ist zerrissen zwischen der Aussicht auf ein neues Leben in einer Pflegefamilie - ein Zuhause, vielleicht sogar Geborgenheit - und der Sorge um seine drogenabhängige Mutter, die alle außer ihm bereits aufgegeben haben. Der Film zeigt drastisch und gleichzeitig sympathisch, wie viel Kraft Cobain aufwendet, um seine Mutter aus dem Drogenmilieu herauszukriegen. Nanouk Leopold erzählt uns in Cobain die Geschichte eines modernen Helden, der sehr früh erwachsen werden muss.
Und dann denke ich da noch an den Protagonisten aus Adam (R: Maria Solrun). Adam ist gehörlos und die Welten des jungen Mannes und seiner Mutter, einer Technomusikerin, haben nicht viel gemeinsam. Nur durch die heftigen Bässe fühlt er sich mit ihr verbunden. Adam sehnt sich nach einem normalen Leben, das ihm aber nicht vergönnt ist. Seine schwerkranke Mutter will aus dem Krankenhaus fliehen, damit sie sich selbst das Leben nehmen kann – und verlangt seine Mithilfe. Der Anspruch auf Verantwortlichkeiten, den eine Generation an eine andere stellt, wird in beiden Filmen vollkommen auf den Kopf gestellt. Zudem werfen beide Filme - wie auch andere Filme im Wettbewerb 14plus - in verschiedensten Konstellationen die Frage auf, wonach sich ein junger Mensch sehnt.
Viele Seins- und Sehnsuchtsfragen stellen sich auch Jule und Jan, die Protagonist*innen aus Hans Weingartners 303, dem diesjährigen Eröffnungsfilm des 14plus-Wettbewerbs. Sie führen einen Diskurs über die Liebe und zeigen diesbezüglich ganz unterschiedliche Facetten.
Ja, das besonders Schöne an 303 ist, wie vorsichtig und langsam sich die beiden jungen Erwachsenen einander nähern. Ein gemeinsamer Road-Trip im Wohnmobil durch Westeuropa führt sie zusammen. Bis zum ersten Kuss dauert es ewig, in der Zwischenzeit diskutieren sie über die Liebe aus allen Perspektiven, über Mono- und Polygamie, über das Konzept der klassischen Familie, den Einfluss von Hormonen bis hin zu den Zwängen des Kapitalismus. Der Film ist voller feiner Details und alles spielt sich auf den Straßen quer durch Europa ab. Das Genre Roadmovie ist übrigens eine richtig gute Bezeichnung für Filme, die vom Coming-of-Age handeln. Erwachsenwerden ist schließlich auch eine Reise.
Ein weiterer interessanter Diskurs über Liebe findet sich im Langfilm Les faux tatouages (Fake Tattoos; R: Pascal Plante) aus Kanada. Eine wahre Punk-Romanze, in der die beiden Protagonist*innen in der Musik ihre Form der Kommunikation finden. Die Liebe zwischen Théo und Mag hat allerdings ein „Ablaufdatum“ und ist auf eine Dauer von zwei Wochen begrenzt. Obwohl Mag bemerkt, dass Théo etwas belastet, fragt sie nicht nach und nimmt die Umstände, wie sie eben sind. Da liegt viel Leichtigkeit und Reife in ihrer Haltung und so erzählt der Film auch von der Liebe. Mag und viele andere tolle Protagonist*innen in diesem Jahr erforschen neue Arten der Verbindlichkeit.
In vielen Filmen aus dem 14plus-Programm geht es auch um die Entdeckung der eigenen Sexualität. Gab es in den letzten Jahren in Bezug auf dieses Thema eine Entwicklung?
Hier kommt mir Para Aduma (Red Cow; R: Tsivia Barkai Yacov) in den Sinn. Ein Mädchen wächst mit ihrem patriarchalischen Vater in einer israelischen Siedlung auf. In einem sehr fundamentalen Setting verliebt sie sich in eine Frau und beginnt, gegen ihren Glauben und die Überzeugungen ihres Vaters, eine sehr leidenschaftliche Beziehung mit ihr. Die Beobachtung dessen, wie sich die junge Frau aus dem engen Korsett ihrer Umgebung befreit und welche Konsequenzen ihr Widerstand mit sich bringt, hat uns an diesem Film interessiert.
Zum Thema Entdeckung der eigenen Sexualität oder auch zu Genderfragen stelle ich in unserer Filmauswahl aber keine lineare Entwicklung fest. Diese Themen ergeben sich immer wieder und einfach zufällig, denn insbesondere bei 14plus haben wir natürlich viele Coming-of-Age-Filme, die immer auch von der Entdeckung der Sexualität handeln. Genauso zufällig ist, dass 51% der Regisseur*innen Frauen sind. Dass es sich dabei jedoch um ein positives Zeichen handelt, ist mir bewusst. Und dabei geht es mir nicht um eine einzuhaltende Quote. Die Frauenquote könnte sogar noch höher sein.
Sind Dir bei der Programmauswahl neue spannende filmische Ansätze aufgefallen, in denen du vielleicht auch eine Herausforderung für junge Zuschauer*innen siehst?
Auf alle Fälle, da lassen sich diverse Beispiele anführen. Mit Danmark (Denmark; R: Kasper Rune Larsen) haben wir zum Beispiel einen hochmodernen Film im 14plus-Programm. Einen sogenannten „Slacker-Film“, bei dem die Zuschauer*innen einer Gruppe orientierungsloser junger Menschen quasi beim Nichtstun zusehen. Das ist filmisch sehr intelligent umgesetzt und diese neuen filmischen Impulse aus Dänemark finde ich spannend. Es gibt viele junge Filmemacher*innen, die sich nicht scheuen, neue Sachen auszuprobieren.
Aus einer anderen neuen Welle stammt ein weiterer Schlüsselfilm in unserem Programm: der südafrikanische Film High Fantasy. Die Regisseurin Jenna Bass hat stilistisch, formal, aber auch inhaltlich ein wahres Kunstwerk geschaffen. Gefilmt wurde fast ausschließlich auf Smartphones, dadurch werden die Figuren selbst zu Kinematographen, die sich gegenseitig dokumentieren. Im Film gibt es einen mysteriösen Körpertausch, der Identitätsfragen aufwirft und auch die Frage danach, wer ist wer und wer filmt jetzt. Die Regisseurin erforscht die Grenzen der digitalen Welt und testet aus, wie weit wir diesbezüglich im Kino und im Film gehen können. Dabei ist High Fantasy ein hochpolitischer Film, der sich zur Post-Apartheid in Südafrika äußert und Fragen zum Thema Body Politics aufwirft.
Von Body Politics jenseits jeglicher Klischees handelt auch der Kurzfilm Juck von Olivia Kastebring, Julia Gumpert und Ulrika Bandeira in 14plus. Er porträtiert auf geniale Weise die gleichnamige schwedische Performancegruppe, die experimentell und kontrovers die Begriffe Weiblichkeit und Feminismus konfrontiert.
Die Kurzfilm-Wettbewerbe mit insgesamt 35 Kurzfilmen aus 25 Ländern sind ohnehin eine echte Achterbahnfahrt, sowohl stilistisch als auch inhaltlich. Bei Kplus gibt es in diesem Jahr viele Animationen auch untypischer Art im Programm, etwa den Kurzfilm Fire in Cardboard City (In Pappstadt brennt´s) von Phil Brough, der eine dreidimensionale Welt aus Pappe erschafft. Mit Lost & Found (Fundgrube) von Andrew Goldsmith und Bradley Slabe haben wir ein wahrhaftiges Liebes-Drama mit zwei gehäkelten Stofftieren im Programm. Die Weltpremieren dieser Kurzfilme werden wieder etwas ganz besonders - für uns, aber auch für die ganz jungen Zuschauer*innen. Die Kinder sind aufgeregt, denn oft ist es ihre erste Kinoerfahrung.
Im Anschluss an die Filmvorführungen von Generation haben die jungen Zuschauer*innen wieder die Möglichkeit, via Fragebögen ihre Meinung zu den Filmen loszuwerden. Wie geht Ihr mit den Rückmeldungen um?
Das Feedback des Publikums ist uns bei Generation sehr wichtig und eine reichhaltige Quelle. Die Fragebögen, über die Zuschauer*innen nach der Filmvorführung ihr Feedback abgeben können, sollen zum Reflektieren einladen. Das darf auch gerne nur ein Satz, eine Frage oder ein Gefühl sein. Eine weitere Form des Feedbacks ergibt sich über die im Anschluss an die Filmvorführungen stattfindenden Q&As. Die Fragen und Kommentare der Generation-Zuschauer*innen haben übrigens mittlerweile einen besonderen Ruf. Filmemacher*innen aus der ganzen Welt kommen mitunter auf mich zu und sagen: „Ich habe ein bisschen Angst vor eurem Publikum, die bohren immer so nach und sind ganz direkt“. Besonders die ganz Kleinen haben viele Fragen und erforschen auf diesem Weg auch die Grenze zwischen Kino und ihrer eigenen Realität. Als erwachsene Person ist es wichtig, den jungen Menschen gut zuzuhören. Ich empfinde es als Privileg, mir dieses Feedback abholen zu können und in meine Arbeit einfließen zu lassen. Am Ende machen natürlich wir Erwachsenen die Berlinale, aber nur mit dem Feedback unserer Besucher*innen kommen wir weiter. Nicht nur bei der Filmauswahl und im Kino, sondern auch im Leben.