2020 | Artistic Director's Blog
Die sanfte Rebellion: David Cronenberg
Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.
Der erste Film von David Cronenberg, den ich sah, war The Fly (1986). Im Nachhinein ist es schwer zu sagen, ob ich damals bereits die schrille Stimme des Autors vernahm, in einem Werk, das sich an einer konventionellen Vorlage abarbeitet. Etwas von dieser modernen Metamorphose muss jedenfalls bei mir hängen geblieben sein, da ich seinen nächsten Film, Dead Ringers (1988), gleich in den ersten Tagen nach dem Erscheinen sehen wollte. Naked Lunch (1991) war dann der Film, der mich gänzlich in das Universum eines Regisseurs hineinzog, der fähig ist, Kopfgeburten in eine physische, triviale, greifbare Form zu bringen. Während der Trip von William S. Burroughs den Geschmack von etwas Verdorbenem hat und seine Worte glatt wie eine Nadel unter die Haut gehen, kann man die Albträume von Cronenberg berühren: Sie sind aus Fleisch, aus Plastik…
1986 bis 1991: Innerhalb dieser fünf Jahre wandelte sich mein Verhältnis zum Kino. Aus dem in meiner Generation üblichen Vergnügen am Kino wurde mehr. Noch war es keine Obsession, aber es war bereits eine Alternative zur Schulbildung, ein neues Werkzeug, um die Welt zu verstehen. In diesem Konzept nahm David Cronenberg eine zentrale Stellung ein. Seine Filme erlauben es, über enge kulturelle und geografische Grenzen hinauszugehen. Von der (vermeintlichen) Linearität in The Fly bis zum Schreibstil Burroughs’ ist es ein weiter Weg, trotzdem gibt es einen gemeinsamen Nenner: der Körper als Landkarte, auf dem Cronenberg Geschichten skizziert, seine Obsessionen und Albträume niederschreibt und mit der Zukunft, die zur Gegenwart wird, experimentiert.
Als eXistenZ (1999) herauskam, hatte ich Scanners (1981), Videodrome (1983) und The Dead Zone (1983) wieder und wieder angeschaut und auch M. Butterfly (1993) und Crash (1996) gesehen und geliebt. David Cronenberg wurde ein zentraler Autor für mich. Heute stehen mir feinere Werkzeuge der Kritik zur Verfügung, aber ich bin weiterhin fasziniert, wie der Regisseur aus Toronto von Film zu Film das Potenzial von Realitätsdeformationen als zentrales Element nutzt, um die Banalität des Alltäglichen in Angriff zu nehmen. Dort, wo sich der Genrefilm darauf beschränkt, den/die Zuschauer*in an die Hand zu nehmen und auf verbotenes und gefährliches Terrain zu führen, schafft Cronenberg ein Paradigma, mit dem alles das erkennbar wird, was die Realität zu verdecken scheint. Obwohl der Killer in Videodrome ebenso wie das Experiment in The Fly – das Remake eines gleichnamigen B-Movies – die Genrenormen vollständig einhalten, treffen die Folgen, die die Protagonisten physisch erleiden, einen Nerv. Die Mutation, Symbol der Diversität, ist eine Quelle von Schmerz und Freude, Abstoßung und Verführung. Einer Generation, die der allgegenwärtige Filter des Bildschirms für Leid und Traumata unempfindlich gemacht hatte, aufgewachsen – um es anders auszudrücken – in der kulturellen Friedhofsatmosphäre des (italienischen) Fernsehens der 1980er-Jahre. Die Filmkunst Cronenbergs bot nicht die lauten Revolten und den Diskurs politischer Aktion, die unsere großen Brüder am Kino so schätzten, sondern vielmehr die Möglichkeit einer inneren Reise. Sie zeigte uns, dass, obwohl die Gesellschaft überall Watte ausgelegt hat, die Revolution in unserem Körper beginnen kann, oder besser: bereits begonnen hat.
eXistenZ markiert eine abschließende Etappe auf einer Reise, die mit dem darauf folgenden Film Spider eine andere Richtung nehmen sollte. eXistenZ verweist direkt auf Videodrome, das (Video-)Spiel tritt an die Stelle des Fernsehers. In dem Jahr, in dem The Matrix in die Kinos kam, transportierte die Garagenästhetik von eXistenZ etwas anderes. Der Film wurde von der Kritik als unbedeutenderes Werk abgeurteilt, für mich ist er ein faszinierender Vorstoß in eine heute sehr populäre Welt. Cronenberg hat den Vorteil, dieses Territorium bereits abgeschritten zu haben, er braucht daher weder großartige Spezialeffekte noch die Musik als Hilfsmittel. Vielmehr fügt Howard Shore der Erzählung einen melodischen Kontrapunkt hinzu, mit einem sakralen Charakter, wie er schon in seiner Musik zu M. Butterfly anklingt. Trotz der Realitätssprünge, des Suspense und des finalen Überraschungseffekts ist der Film quasi im Flüsterton erzählt, er folgt dem Erzählprinzip des Genrefilms und bestätigt, dass Cronenberg, trotz des Inhalts, kein postmoderner Regisseur ist. Ganz im Gegenteil. Da, wo andere vor dem Verschwinden der Realität kapitulieren, zeichnet er filigran das Bild einer kleinen Gemeinschaft von Widerständigen. Seine Figuren gehören zu denen, die gegen das System rebellieren und es in Frage stellen. So lässt sich dieser „kleinere“ Film (im Grunde ist das gesamte Werk Cronenbergs eine Hommage an Randbereiche und Randgruppen) auch als eine Reflexion über die Traumfabrik Hollywood lesen, die zu Beginn eines neuen Millenniums feine Risse aufzuzeigen begann.
Carlo Chatrian