2020 | Artistic Director's Blog
Über Jacques Rivette, Sandrine Bonnaire und Jeanne la pucelle, der 1994 im Panorama zu sehen war
Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.
Persönlich begegnet bin ich Jacques Rivette nur ein einziges Mal – in einer Seitenstraße der Champs-Élysées. Wir kamen beide aus dem Kino und hatten La haine (1995) von Mathieu Kassovitz gesehen. Ich traute mich nicht, ihn zu fragen, wie er den Film, der so denkbar weit entfernt war von seinen eigenen Filmen, fand. Stattdessen sprachen wir über sein irrwitzigstes und unbekümmertstes Projekt: Out 1: Noli me tangere (1971). Ich erinnere mich noch genau an Rivettes breites und ansteckendes Lächeln, das für viele Menschen seinen Charakter ausmachte. Ich hatte Out 1, der damals schwer aufzutreiben war, viele Jahre nach der ersten Vorführung in Le Havre, die wenige Monate vor meiner Geburt stattfand, und auch erst nach der denkwürdigen Vorführung 1991 in Berlin auf VHS gesehen. Als ich das Werk mit seiner Laufzeit von mehr als 700 Minuten sah oder vielmehr durchlebte, tauchte ich wohlig in das Treiben der Schauspieler*innen und Figuren ein und entwickelte eine gewisse Vertrautheit mit den Akteur*innen. Rivettes Filme waren (und sind) aus meinem Leben als Zuschauer nicht wegzudenken. Es sind Filme, die ich nicht beurteilen will, sondern mit Spannung erwarte, so wie man die Rückkehr eines Freundes oder einer Freundin erwartet in dem Wissen, dass diese*r nach einem ersten Moment der Verlegenheit von seinen oder ihren letzten Reisen erzählen wird.
Ob ich zu diesem Zeitpunkt Jeanne la pucelle (1994) schon gesehen hatte, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich nicht, denn sonst wäre mir mit Sicherheit die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Rivettes Lächeln und dem Lächeln Sandrine Bonnaires aufgefallen. In ihrer Rolle als „heilige Kriegerin“ kommt die Schauspielerin dem Regisseur so nahe wie niemand vor oder nach ihr. In der Mischung aus Unnachgiebigkeit und Naivität, Dickköpfigkeit und Improvisation, Mystizismus und Sinn fürs Praktische vereint die Figur der Jeanne d’Arc lauter Eigenschaften, die auch diesen scheusten und geheimnisvollsten Regisseur der Nouvelle Vague auszeichnen. Anders als Truffaut oder Godard ging es Rivette nie darum, sich selbst zu porträtieren; sein eigenes Leben hinterließ kaum sichtbare Spuren in seinen Filmen. Sie sind wie Kollektiverzählungen angelegt, an denen mehrere Menschen mitgeschrieben haben. Bei den Dreharbeiten wurden Schauspieler*innen und Techniker*innen oftmals zu Kompliz*innen und bildeten eine „Clique“ mit eigenen Regeln, die darauf aufbauten, dass die Beteiligten sich kannten und schätzten.
Als Filmkritiker gehörte Rivette zu den scharfsinnigsten und urteilssichersten Vertretern seiner Zunft, aber wenn er hinter die Kamera wechselte, schlug er eine konträre Richtung ein. Seine Filme entstanden nicht „unter seiner Regie“, sondern es heißt einfach nur „mise-en-scène par“. Die Mise en Scène kommt ursprünglich aus dem Theater. Sie meint natürlich die Umsetzung einer (mündlichen) Erzählung in eine Raum-Zeit innerhalb einer Einstellung. Aber sie bedeutet auch, den Schauspieler*innen innerhalb einer Einstellung genügend Ausdrucksfreiheit zu geben, so dass sie nicht zu Modellen im Bresson’schen Sinne werden - oder zu aus dem Raum herausgelösten Gesichtern, wie es im US-amerikanischen Kino der Fall ist. Großaufnahmen sind bei Rivette eine Seltenheit und werden häufig von einer Kamerabewegung begleitet. In Jeanne la pucelle gibt es wunderschöne Großaufnahmen, sowohl von vorne als auch von der Seite, die an die Ikonografie des Mittelalters erinnern. Als Gegenbild kommt La passion de Jeanne d’Arc (1928) von Carl Theodor Dreyer in den Sinn; wer Jacques Rivettes Filmschaffen kennt und weiß, wie er den Raum mit Linien gestaltet, die die Blickachsen verbinden wie von unsichtbaren Pfeilen hinterlassene Leuchtspuren, der weiß auch, dass es ihm nicht darum geht, sich von anderen abzuheben. Jeanne la pucelle ist eine Charakterstudie über eine Figur, die sich allen Aneignungsversuchen ihrer Umgebung konsequent entzieht. So gesehen ist Jeanne die ältere Schwester vieler anderer Figuren, etwa Anne in L’amour fou (1969) oder Marianne in La belle noiseuse (1991) – die Ähnlichkeit der Namen ist kurios. Rivettes Frauenfiguren sind starke Persönlichkeiten und nicht nur von ihren Männern, sondern auch von der Filmkamera unabhängig. Sie sind Sirenen, die eher mit ihrem Schweigen als mit ihren Worten verzaubern.
Die gemeinsam mit Pascal Bonitzer und Christine Laurent entwickelte Erzählstruktur hebt diesen Aspekt hervor. In die Geschichte von Jeannes Aufstieg zur Heerführerin, die Frankreich nicht nur von den Engländern befreit, sondern auch die innere Erstarrung dieses von kleinmütigen weltlichen und geistlichen Führern beherrschten Frankreichs aufbricht und genau deshalb zum Problem wird, das es aus dem Weg zu räumen gilt, werden immer wieder Zeugenaussagen eingestreut. Diese Aussagen sind so gefilmt, dass es den Anschein hat, diese Zeug*innen stünden vor einem imaginären Tribunal. Da Rivette die Worte, mit denen Jeanne zu ihrer Mission berufen wurde, aussparen muss, lässt er die Menschen aus ihrem Umfeld zu Wort kommen. Durch diese Erzählweise gerät die Geschichte der Heiligen zu einer Chronik. Dem Bild der Asketin, das frühere Interpretationen von Jeanne d’Arc zeichneten, setzt Rivette eine Figur entgegen, die ganz und gar mit ihrem Land verwachsen ist. In der ersten Einstellung des Films, eingeführt von einem krähenden Hahn, ist Jeanne, die noch keine Rüstung trägt, in das gleiche Dunkelgrün gekleidet wie das des nassen Grases der Felder, über die sie alsbald reiten wird; im zweiten Teil trägt sie einen Gambeson in einer erdigen Farbe. Mit ihrem Gesicht, das sowohl sanft als auch streng ist, mit der kantigen Kieferpartie und dem offenen Lächeln, verleiht Sandrine Bonnaire der Figur etwas ganz Eigenes. Beim Vergleich mit Agnès Vardas Sans toit ni loi (1985) fallen die Ähnlichkeiten auf: Jeanne ist zwar keine Vagabundin, sondern hat ein klares Ziel vor Augen, aber ebenso wie die Landstreicherin Mona hat sie die Haltung einer Frau, die mit ihrem Leben und ihren Entscheidungen die Welt, in der sie lebt, herausfordert, um sie zu verbessern. Sie hat etwas an und in sich, das einem vertraut ist.
Ob auf den Dächern von Paris, in den Gängen eines Klosters, im Theater und außerhalb des Theaters oder als fahrende Gaukler - Rivettes Figuren sind Ritter, die stets auf dem Weg sind und immer starrsinnig dem Wind trotzen. Wie Don Quixote haben sie die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die nur für sie existieren. Ob seine Figuren auf Pferden reiten oder Moped fahren, ob sie mit einem Buch als Stadtplan durch die Straßen streifen oder einen surrealen Ringelreihen aufführen - in ihre Hände legt Rivette die eigene Vision der Welt und seinen Wunsch, diese Welt zu verändern. Zumindest im Kino.
Carlo Chatrian