2020 | Artistic Director's Blog
Über Terrence Malicks The Thin Red Line, Gewinner des Goldenen Bären 1999
Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.
Für diejenigen, die in den 1970er-Jahren in Westeuropa geboren wurden, ist Krieg etwas rein Gedankliches – eine Erinnerung, die sich aus Erzählungen der Großeltern oder den Nachrichtenbildern von israelischen Leuchtspurgeschossen speist. Krieg, das sind Schützengrabenparodien in italienischen Komödien oder die Schlachtfelder, die sich im Genrekino in festgefrorene Frontlinien verwandeln. Krieg ist etwas, das sich weit entfernt abspielt. Als hätte die Gesellschaft es sich zur Pflicht gemacht, die Jugend zu schützen. Dieses Gefühl hatte ich jedenfalls, als ich mir Jahre später Gedanken darüber machte, was meine Altersgenossinnen und Altersgenossen auf der anderen Seite der Adria wohl erlebt hatten. Viel stärker als das Fernsehen war das Kino bemüht, den Krieg in das Blickfeld des westlichen Publikums zu rücken – und zwar aus politischen und technologischen Gründen. Zwei Fronten, die sich gegenüberstehen – das ist das Ausgangsmaterial des Genres, das die typische Schwarzweißmalerei des klassischen Hollywood-Kinos perfekt bedient und der moralischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine übergeordnete Logik liefert. Während der Western seinen Feindbegriff überdenken musste, hatte der Kriegsfilm - mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen - dieses Problem nicht: Der Feind blieb der Feind. Zudem ist das Gewehr, das das Blickfeld auf einen einzigen Gegenstand, ein Ziel verengt, dem Objektiv der Filmkamera sehr ähnlich; der Feind hat, anders als in der Duellsituation, kein erkennbares Gesicht, keine genaue Position. Er ist ein ideales dramaturgisches Sujet, weil er Spannung erzeugt und sie mit einem ideologischen Mehrwert auflädt. All das gilt auch für Terrence Malicks The Thin Red Line (1998) und doch macht der Film etwas ganz anderes. Er behandelt den Krieg nicht als dramaturgisches, sondern als existenzielles Geschehen. Der Kriegsfilm stellt die Frage, wie aus einem normalen Bürger ein Soldat werden kann; diese Verwandlung interessiert Malick nicht. Er bemüht sich unter den tragischsten Bedingungen den Menschen im Soldaten zu finden. Malick legt die Gedanken seiner Figuren offen, macht uns mit ihren Sehnsüchten und Ängsten vertraut – ganz gleich, wie banal und langweilig diese sein mögen. Im Vergleich zu Steven Spielbergs Saving Private Ryan (1998), der in Mimikry abgleitet, wenn er die Landung der Alliierten nachstellt und uns direkt neben den gefallenen Soldaten absetzt, taucht Malick nicht weniger tief ins Geschehen ein, wahrt aber immer eine entschiedene Distanz zwischen Zuschauer*in und Soldat.
Dass er seine Geschichte mehrstimmig erzählt, verleiht dem Projekt zusätzliches Gewicht. Malick spielt mit der Pluralität der Blickwinkel: Mit einem ebenso simplen wie genialen Einfall, den er in seinen späteren Filmen auf die Spitze treibt: Er setzt Voice-Over als Mittel der Montage ein. In Gedankenschnelle wechselt der Fluss der Bilder von einer Seite des Ozeans auf die andere, denn unter Stress ist einem Soldaten das eigene Zuhause genauso gegenwärtig wie das Gras, in dem er sich gerade versteckt. Die flüchtige Schönheit mancher Einstellungen, etwa wenn wie ein sanfter Wind ein Lichtstrahl über die grünen Weiten streicht, bekommt in diesem Zusammenhang einen unvergleichlichen Wert.
Ich durchschritt die Tür, die der Film für mich aufgestoßen hatte, und schaute mir Malicks ältere Filme an. In Badlands (1973) entdeckte ich seine Vorliebe für die Flucht, die sich in The Thin Red Line wie einer von vielen unterdrückten Impulsen anfühlt. Zudem lernte ich eine ganze Reihe von Filmen kennen, in denen der Krieg ein Vorwand ist, um sich mit dem Thema des Sich-Begegnens auseinanderzusetzen. Als vielleicht noch menschlicheres und mutigeres Pendant zu The Thin Red Line sah ich später auf einem kleinen Bildschirm King Vidors The Big Parade (1925). Auch in diesem Film ist der Feind unsichtbar und - wie alles Unbekannte - zum Fürchten, bis er sich unversehens als zartestes menschliches Wesen überhaupt entpuppt. Der entscheidende Unterschied ist, dass für Vidor der Krieg nicht nur eine Begegnung im philosophischen Sinn, als Entdeckung der/s Andere*n bedeutet, sondern auch im nüchterneren Sinn der Romanze. The Thin Red Line hingegen ist ein Film über die Einsamkeit, in dem selbst die Natur dem Menschen und seinen aberwitzigen Unternehmungen fremd bleibt. Malicks Figuren sind wie Pilgermönche, die vollkommen ungebunden den Raum und die Zeit (ihrer Lebensspanne) durchwandern. Dieser Widerspruch ist beabsichtigt, denn sie sind Teil einer organisierten Armee.
Ich erinnere mich noch: Als ich an einem Spätnachmittag Ende Februar nach dem Film aus dem Kino kam, hatte ich das Bedürfnis, allein durch die Straßen zu laufen. Nachdem ich mich von meinen Kinogefährten verabschiedet hatte, begleitete mich nicht nur die Dunkelheit des Turiner Winters, sondern auch die flüsternden Stimme und das Atmen der Soldaten. Mit den Geräuschen kamen die Bilder des Films wieder an die Oberfläche – Schritt für Schritt. Das Bild des Indigenen, der in die entgegengesetzte Richtung der Truppen läuft und dem der Krieg und seine Gründe egal sind, berührte mich am stärksten. Vielleicht habe ich in dieser Fremdheit etwas gespürt, nach dem ich mich sehnte, ohne es mir einzugestehen – etwas, an das ich mich klammern konnte. Als wäre es möglich, eine verlorene Unschuld zurückgewinnen. Malicks Stärke besteht darin, dass er verschiedene Gedanken und Positionen nebeneinanderstellt, ohne sie einer Hierarchie zu unterwerfen. In seinem Film gibt es keine Held*innen, keine Haupt- und Nebenfiguren. Im sinnlosen Chaos des Krieges – und des Lebens, das stärker ist als der Konflikt – hat jede Stimme ein Recht gehört und jedes Gesicht erinnert zu werden.
Carlo Chatrian