Forum & Forum Expanded
17.05.2021
Forum-Zusatzprogramm: „Fiktionsbescheinigung. 16 filmische Perspektiven auf Deutschland”
Wie Kultur im Allgemeinen, Kino im Besonderen, Gesellschaft und Rassismus zusammenhängen, ist gegenwärtig Gegenstand kontroverser Diskussionen. Das Berlinale Forum greift in die Debatte ein, indem es die Film- und Diskussionsreihe „Fiktionsbescheinigung. 16 filmische Perspektiven auf Deutschland“ präsentiert: ein Experiment in geteilter kuratorischer Verantwortung und ein Schlaglicht auf ein zu Unrecht unbekanntes Kapitel deutscher Filmproduktion.
Das Berlinale Forum hegt ein großes Interesse an den kaum ausgeleuchteten Bereichen der Filmgeschichte und sucht stets nach Wegen, über das Zusammenspiel von Kino und Gesellschaft nachzudenken. Im diesjährigen Zusatzprogramm „Fiktionsbescheinigung. 16 filmische Perspektiven auf Deutschland” vereinen sich beide Interessen. Die Film- und Diskussionsreihe, die in Kooperation mit dem Berliner SİNEMA TRANSTOPIA ausgerichtet wird, widmet sich dem Schaffen von Schwarzen Regisseur*innen und Regisseur*innen of Color in Deutschland.
Die Kurator*innen Enoka Ayemba, Karina Griffith, Jacqueline Nsiah, Biene Pilavci und Can Sungu haben die Filmauswahl getroffen. Acht Programme aus Lang- und Kurzfilmen vereinen Arbeiten aus vier Jahrzehnten, etwa Auslandstournee von Ayşe Polat (1999), Gölge von Sofoklis Adamidis und Sema Poyraz (1980) oder In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teheran von Narges Kalhor (2019). Manche der Filme greifen die Erfahrung von Migration auf, thematisieren sie mal direkt, mal vermittelt, andere nehmen sich die Freiheit, sie gar nicht weiter wichtig zu nehmen. Während Mala Reinhardts Der zweite Anschlag (2018) sich schonungslos mit dem strukturellen Rassismus der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzt und das Versagen der Behörden im Fall des NSU-Terrors anklagt, interessiert sich Visar Morina in Exil (2020) vor allem für die subkutanen Wirkungen, die die Erfahrung von Rassismus für ein Individuum bedeutet. Sheri Hagens Auf den zweiten Blick (2012) lässt spezifische Schwarze Erfahrungen sichtbar werden, aber nicht als solche, die ein Individuum determinieren.
Die fünf Kurator*innen erläutern ihre Auswahl in einem Statement: „Die Reihe versteht sich als Momentaufnahme in einem selbstbestimmten und fortlaufenden Prozess der Einmischung und des Widerspruchs. Jeder Film ist ein Vorschlag, den weißen deutschen Blick mit vielfältigen, intersektionalen Perspektiven zu parieren, und allen gemein ist eine eigene visuelle und textuelle Praxis der Zeugenschaft von innen, nicht vom Rand.“
Zu sehen sind die Filme zunächst vom 9. bis zum 30. Juni auf der Streamingplattform des Arsenals – Institut für Film und Videokunst (https://www.arsenal-3-berlin.de). Auch das diskursive Programm – Gespräche mit den Filmemacher*innen, eine experimentelle, interaktive Diskussionsrunde, Panels mit Wissenschaftler*innen, Festivalmacher*innen, Schauspielerinnen und den Kurator*innen, eine Keynote mit Wissenschaftler Kevin B. Lee und eine Lecture mit Filmemacherin Biene Pilavci – findet digital statt. Das Filmprogramm wird im August im Open-Air-Kino des SİNEMA TRANSTOPIA (https://bi-bak.de/bi-bakino) auf der Leinwand zu sehen sein.
Kurator*innen und Programm
Die folgenden Kurator*innen haben das Zusatzprogramm des Forums „Fiktionsbescheinigung. 16 filmische Perspektiven auf Deutschland” gestaltet:
Enoka Ayemba ist Filmkurator und Filmkritiker mit Fokus auf afrikanische Kinematografien, die nigerianische Videoindustrie und antikoloniale Bewegungen. Seit 2019 ist er als Berater für das Berlinale Forum tätig.
Karina Griffiths Arbeiten wurden international in Galerien, Theatern und auf Festivals gezeigt. Sie kuratierte Film- und interdisziplinäre Programme u.a. für das Goethe-Institut und am Ballhaus Naunynstraße. Sie lehrt am Institut für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin und ist Doktorandin an der University of Toronto, wo sie Forschung zu Schwarzer Autor*innenschaft im deutschen Kino mit Theorien zu Affekt und Intersektionalität verknüpft.
Jacqueline Nsiah ist freiberufliche Filmfestival-, Kunst- und Kulturberaterin. Akzente setzte sie u.a. als Ko-Direktorin für das Cambridge African Film Festival 2008 sowie als Produzentin des Real Life Documentary Film Festivals in Accra. Gegenwärtig ist Nsiah als Kuratorin für das Berlinale Forum tätig und betreut als Projektreferentin die afrikanische Filmplattform des Goethe-Instituts cinidb.africa.
Biene Pilavci begann 2005 ihr Regiestudium an der DFFB und realisierte hier zahlreiche Kurzfilme. Mit ihrem Drittjahresfilm Alleine tanzen über die Kraft der Familie schloss Pilavci ihr Studium 2012 ab. 2013 entstand mit dem ZDF und ARTE und gemeinsam mit Ayla Gottschlich Chronik einer Revolte – Ein Jahr Istanbul. Pilavci ist Mitgründerin der filmpolitischen Initiative NichtmeinTatort und des Filmnetzwerks Neue Deutsche Filmemacher*innen.
Can Sungu ist freier Künstler, Kurator und Forscher. Er unterrichtete Film- und Videoproduktion und kuratierte verschiedene Reihen zu Film und Migration. Er nahm an zahlreichen Ausstellungen teil, u.a. am Künstlerhaus Wien und am REDCAT Los Angeles. 2014 war er Mitgründer von bi’bak in Berlin, wo er als künstlerischer Leiter arbeitet. Seit 2020 betreibt er das Kinoexperiment SİNEMA TRANSTOPIA im Haus der Statistik in Berlin.
Programm 1
Die Türhüter
BRD 1988, 17'
von Sema Poyraz
mit Semra Uysal
1988 bietet sich in Kreuzberg den türkischen Anwohner*innen nicht nur der Anblick der einen, physischen Mauer. Erfahrungsberichte über gesellschaftliche Schranken treffen auf Kafkas „Vor dem Gesetz“: West-Berlin aus Sicht der Einwander*innen.
Bruderland ist abgebrannt
Deutschland 1992, 28'
von Angelika Nguyen
mit Pham Quoc Bao, Le Duy Trung u.v.a.
Durch die Wiedervereinigung verloren zehntausende vietnamesische Vertragsarbeiter*innen der DDR ihre Anstellungen. Angelika Nguyens wichtiges Zeitdokument fragt, was aus der beschworenen Solidarität und Brüderlichkeit geworden ist.
Sorge 87
Deutschland 2018, 10'
von Thanh Nguyen Phuong
mit Wolfgang Neubert, Gisela Neubert, Hoan Nguyen Duc
Im sächsischen Werdau lässt man für die Textilfabrik in den 1980er Jahren vietnamesische Vertragsarbeiter*innen kommen, die Leben in die Kleinstadt bringen. In animierten Stoffdruckbildern lässt Thanh Nguyen Phuong Erinnerungen an die Zeit wiederaufleben.
Programm 2
Octavia’s Visions**
Deutschland 2021, 18'
von Zara Zandieh
mit Sandra Bello, Mandhla Ndubiwa, Nancy Andler
Ein Blick von 2056 auf die Herausforderungen der 2020er, Umweltzerstörung, Nationalismus und die Nachwirkungen des Kolonialrassismus. Zara Zandieh fragt mit der Schwarzen Science-Fiction-Autorin Octavia Butler: Wie lassen sie sich überwinden?
In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teheran
Deutschland 2019, 76'
von Narges Kalhor
mit Ali Abusaiedi, Tahmineh Dokhani, Faezeh Nikoozad
Zügellos verbindet Kalhor die eigene Biografie mit der Figur Scheherazade, bayrische Traditionen mit dem Iran der Gegenwart, Dokumentarisches mit Schichten von Fiktionen. Ein humorvolles Formenspiel über kulturelle Ignoranz und das Erzählen selber.
Programm 3
Exil**
Deutschland / Belgien / Kosovo 2020, 121'
von Visar Morina
mit Mišel Matičević, Sandra Hüller, Rainer Bock
Pharmaingenieur Xhafer wird am Arbeitsplatz schikaniert, auch die Beziehung zu seiner Frau verschlechtert sich zusehends. Ein Hochsommer in einer undefinierten deutschen Stadt. Emotionen kochen hoch und die ständige Frage: Ist das Rassismus oder Paranoia?
Programm 4
Der zweite Anschlag
Deutschland 2018, 62'
von Mala Reinhardt
mit Mai Phuong Kollath, Ibrahim Arslan, Osman Taşköprü
Deutschland ist voller Tatorte rassistisch motivierter Morde. Nach dem Verlust der Menschen ist der zweite Anschlag der einer Gesellschaft, die strukturelle Probleme leugnet, Täter*innen deckt. Reinhardt erzählt konsequent aus der Sicht der Angehörigen.
Programm 5
Gölge
BRD 1980, 92'
von Sofoklis Adamidis, Sema Poyraz
mit Semra Uysal, Yüksel Topçugürler, Birgül Topçugürler
Die 18-jährige Gölge entflieht der Enge ihres Familienalltags durch Tagträume. Sie will Schauspielerin werden, gleichberechtigte Beziehungen führen, sich ausprobieren. Eine Coming-of-Age-Geschichte im Vor-Wende-Kreuzberg.
Programm 6
Riss
Deutschland 2010, 9'
von Biene Pilavci
mit Klaas Heufer-Umlauf, Aylin Tezel, Friedhelm Ptok
Ein Paar kommt auf dem Nachhauseweg mit einem provozierenden Autofahrer in einen Konflikt. Sie lassen sich aus der Reserve locken – für einen kurzen Moment entsteht ein Riss zwischen ihnen. Finden sie trotzdem wieder zusammen?
Auf den zweiten Blick
Deutschland 2012, 95'
von Sheri Hagen
mit Anita Olatunji, Michael Klammer, Ella-Sade Hagen-Janson
Im winterlichen Berlin finden sechs einsame Menschen zueinander: ein Witwer und eine erblindete Jazzmusikerin, ein Klavierstimmer und ein Kunsthändler, der mit seiner Sexualität hadert, ein Patient und seine Therapeutin, die ihr Augenlicht verliert.
Programm 7
Fake Soldiers
Deutschland 1 24'
von Idrissou Mora-Kpai
mit Francis Codjoe, Mizrajim Komi Togbonou, Dean Burke
Ende der 1990er sind in Deutschland Basketball, Hip-Hop und Breakdance in Mode und damit auch Afro-Amerikaner. Weniger Coolness hingegen strahlen Tamu und Obi aus – der Erfolg bei den Frauen kommt erst, als sie sich als US-Soldaten ausgeben.
Auslandstournee
Deutschland 1999, 91'
von Ayşe Polat
mit Hilmi Sözer, Özlem Blume, Martin Glade
Als ein Jugendfreund des Sängers Zeki stirbt, soll er mit dessen Tochter Şenay die Mutter des Kinds finden. Es entspinnt sich ein Roadtrip durch die türkische Nachtclubszene Europas, der behutsam von Lebensträumen, Familie und Wahlheimat erzählt.
Programm 8
18 Minuten Zivilcourage
Deutschland 1991, 20'
von Rahim Shirmahd
1987 wurde Kiomar Javadi in Tübingen in einem Supermarkt des Diebstahls beschuldigt und anschließend von einem Angestellten 18 Minuten lang zu Tode gewürgt. Ein Teil der Kleinstadt schreit auf, ein größerer will partout kein rassistisches Motiv erkennen.
Black in the Western World*
Deutschland 1992, 23'
von Wanjiru Kinyanjui
mit Natalie Asfaha, Tsitsi Dangarembga, Paul Ford
Anfang der 1990er beschäftigt sich die kenianische DFFB-Studentin Wanjiru Kinyanjui damit, wie sich Schwarzsein in Deutschland anfühlt. Rassistisches Material aus der deutschen Alltagskultur trifft auf Gespräche mit Schwarzen Menschen in Europa.
Jordmannen (The Earthmen)
Schweden 1980, 27'
von Muammer Özer
mit Lâle Kaplanoğlu, Munibe Akdağ, Sergio Buchman
In Özers hybridem Film steht eine Knetfigur sinnbildlich für das Schicksal von Arbeitsmigrant*innen in einer Wohlstandsgesellschaft. Die Hoffnung auf ein besseres Leben weicht langsam der Erkenntnis, dass Ausbeutung und Entfremdung den Alltag bestimmen.
ziyaret, Besuch*
Deutschland 2019, 13'
von Aykan Safoğlu
mit Gülşen Aktaş, Nurşen Aktaş
Safoğlus Essayfilm streift in Fotografien mit der kurdischen Feministin Gülşen Aktaş über einen Berliner Friedhof und erzählt von dort ruhenden Aktivist*innen. Ein filmisches Gedenken, das Überlegungen zum Verhältnis von Fotografie und Erinnerung anstellt.
* Diese Filme sind Teil der kuratorischen Auswahl, können aber nicht online gezeigt werden.
** Diese Filme können aus lizenzrechtlichen Gründen nur in Deutschland (Octavia’s Visions) bzw. nur in Deutschland und Österreich (Exil) abgerufen werden.
Aktuelle Informationen zum Programm „Fiktionsbescheinigung. 16 filmische Perspektiven auf Deutschland” finden Sie unter: https://www.arsenal-berlin.de/berlinale-forum/news.html.
Presseabteilung
17. Mai 2021