2021 | Berlinale Series
Das Spiel mit den Erwartungen
Die Pandemiezeit bedeutet die Hoch-Zeit des Streamings und damit ganz besonders diejenige der Serien, die 2021 auch bei der Berlinale und dem European Film Market ganz besonders in den Fokus rücken. Im Interview spricht Sektionsleiterin Julia Fidel über einen starken Jahrgang, die Lust an der Körperlichkeit des Erzählens in einer Zeit der Isolation, die Eroberung neuer geografischer und narrativer Regionen und die Rückkehr alter Bekannter in die Auswahl.
Als Anfang 2020 die Welt mehr und mehr zum Stillstand kam, ist der Hunger nach Streamingangeboten immer größer geworden. Wie habt ihr den Serienmarkt in dieser Zeit wahrgenommen?
Im Serienbereich gab es tatsächlich einen ganz anderen Druck, weiter zu produzieren. Im Gegensatz zum Film, mit geschlossenen Kinos und Ungewissheit darüber, wann die neuen Produktionen starten können, wurde hier plötzlich noch mehr geguckt. Die Streamingportale und Sender haben weltweit nach neuem Material gesucht, viel eingekauft und versucht, schnell wieder zu produzieren.
Natürlich haben wir bemerkt, dass es einen bestimmten Zeitraum gab, in dem nicht gedreht wurde und der dann für Verzögerungen sorgte, so dass Serien, die für November, Dezember angekündigt waren, doch erst Anfang Januar kamen. Dadurch mussten wir bei unseren ursprünglichen Deadlines sehr viele Augen zudrücken, aber das sind ja wirklich marginale Probleme bei einer so existenziellen Veränderung wie einer Pandemie. Am Ende war die Anzahl der Einreichungen gleich.
Die Synergien zwischen Markt und Festival sind in Sachen Serien besonders stark. 2021 habt ihr beim EFM das neue Programm „Berlinale Series Market Selects“ eingeführt. Welche neuen Möglichkeiten bieten sich dadurch für das serielle Erzählen bei der Berlinale?
Im Markt können Serien, genau wie Filme, Marktvorführungen buchen, um sie potentiellen Käufern zu zeigen. Da das bisher physisch, mit Kinobuchungen im Zoo Palast, stattfand, war der Platz begrenzt und wir mussten ein wenig filtern. Das war als Zwischenlösung nicht ideal, weshalb wir nun, durch die Möglichkeit mehrerer Online-Kanäle im Markt, sowohl frei buchbare Markt-Slots anbieten können, es uns aber gleichzeitig nicht nehmen lassen wollten, aus diesem Angebot einige Serien, die wir für kommerziell vielversprechend halten, mit dem neu geschaffenen Label hervorzuheben.
Was mir dadurch besonders gefällt, ist auch das Nebeneinander einer konsequenten Berlinale Series-Festivalauswahl und eines Labels für Produktionen, die wir als marktrelevant einschätzen.
Bei der Masse an Material, das Tag für Tag produziert wird, wird die Notwendigkeit einer klaren kuratorischen Handschrift immer wichtiger. Nach welchen Kriterien wählt ihr die Serien aus?
In der Auswahl ist es mir wichtig, neue Entwicklungen, Erweiterungen der Erzählformen, Wagnisse und auch extreme Auslegungen von Genre oder Format zu zeigen. Es geht um künstlerische Visionen und auch Experimente, die auch nicht immer perfekt sein müssen oder die meistgesehene Serie bei einem Streamingdienst. Es muss uns interessieren und überraschen oder etwas Neues erschließen. Das gilt in gewisser Weise ja auch für die anderen Sektionen, die weniger Interesse an Blockbustern als an neuen Erzählformen und Geschichten haben.
Os últimos dias de Gilda und Entre hombres bieten nicht nur dieses Überraschende in ihrer narrativen und visuellen Form, mit ihnen stoßt Ihr auch in neue geografische Regionen vor...
Ja, wir haben in diesem Jahr, zu unserer großen Freude, zum ersten Mal zwei Serien aus Lateinamerika in der Auswahl – und die sind in vielerlei Hinsicht extrem; sowohl in ihrer Bildsprache als auch in ihrer Ästhetik und den Themen, die sie ansprechen. Die brasilianische Serie Os últimos dias de Gilda ist eine vierteilige Serie, die sich beim Schauen eigentlich wie ein Film anfühlt. Sie folgt sehr konsequent ihrer Hauptfigur, was wir im Seriellen nicht so gewöhnt sind. weil wir ja inzwischen darauf konditioniert wurden, mehrere verflochtene Handlungsstränge zu erwarten. Diese Protagonistin, Gilda, habe ich noch nie zuvor gesehen. Sie ist eine völlig freie Frauenfigur und wird mit einer umwerfenden Sinnlichkeit, in einer geradezu zu uns herüberwabernden Wärme und Körperlichkeit inszeniert, dass es uns die Sprache verschlagen hat. Es geht in dieser Serie auch um Erotik, aber mit dieser Kategorie will ich die Lebenskraft und Schönheit dieser Figur gar nicht begrenzen. Ich glaube, gerade auch in unserer momentanen Entkörperlichung und Nicht-Berührung war Os últimos dias de Gilda auch nochmal ein besonderes, geradezu taktiles Erlebnis für uns in der Auswahl. Und dann ist die Serie natürlich unheimlich politisch, spielt mit einer konstanten, unterschwelligen Bedrohung, die sich immer weiter aufbaut - das ist schon sehr bewegend.
Die zweite lateinamerikanische Serie, Entre hombres, ist auch ein sehr somatisches Erlebnis, allerdings ging es mir da so, dass ich kaum hinsehen konnte, so sehr fühlte ich mich von der Brutalität und Härte getroffen. Für mich ist das ein Instant Classic, der mit der Ästhetik, Erzählkonventionen und Geschlechterbildern der 90er Jahre spielt und diese gleichzeitig hinterfragt.
Hier baut sich die Geschichte immer komplexer auf, wir springen zwischen Figuren und Schauplätzen und werden als Zuschauer*in ständig in unserer narrativen Hypothesenbildung vorgeführt. Der Schnitt gibt der Serie einen unwiderstehlichen Rhythmus und hat mich immer wieder in Staunen versetzt oder zum Lachen gebracht, das ist jetzt auch kein Serien-Alltagserlebnis. Dann steht Entre hombres in der Serientradition der Unlikeable Protagonists, konzentriert sich dabei aber weniger auf das Psychogramm eines toxischen Mannes, sondern eines ganzen Mikrokosmos aus widerwärtigen, korrupten, brutalen Männerbildern, die gleichzeitig ausgestellt und hinterfragt werden. Und auch der Humor, den die Serie absolut hat, wird immer dann gebrochen, wenn wir uns als Zuschauer*in gerade wieder drohen, darin einzurichten - dann sehen wir wieder einen Ekelmoment, der uns komplett hinauskatapultiert. Will man jetzt sofort ansehen, oder?
Entre Hombres spielt im Argentinien der 1990er Jahre. Ein weiterer Blick in die Vergangenheit, der eine fast schon unheimliche Aktualität gewonnen hat, ist It's a Sin. Die Serie zeigt das schwule Leben der frühen 1980er Jahre vor dem Hintergrund des Ausbruchs der AIDS-Pandemie. Wie stark sind die Auswirkungen von Corona präsent, wenn man die Serie sieht?
Das ist wahrscheinlich persönlich sehr unterschiedlich, aber ja, ich habe zu Beginn von Corona viel über die AIDS-Pandemie nachgedacht und den unerträglich schlechten Umgang damit. wie stark Vorurteile und Verurteilungen bestimmter Gesellschaftsgruppen dazu beigetragen haben, dass nicht adäquat reagiert, die Leute einfach sich selbst überlassen und stigmatisiert wurden. Wenn man dann die doch sehr schnellen und weitreichenden Reaktionen in der aktuellen Situation vergleicht, macht das nachhaltig wütend.
Allerdings hat Russell T Davies diese Serie natürlich vor dem Ausbruch von Corona geschrieben und gedreht, und selbstverständlich steht It’s A Sin - genau wie die Kritik und Trauer über die Reaktionen auf AIDS - für sich.
Die Serien Snöänglar (Snow Angels) und Ich und die Anderen kommen beide von Creators, die bereits zum zweiten Mal bei Berlinale Series eingeladen sind. Mette Heeno war 2016 mit Splitting up together im Programm und David Schalko 2019 mit M - Eine Stadt sucht einen Mörder. Hatten sie einen Vertrauensvorschuss?
Ha, das wäre schön, oder? Nein, wir waren tatsächlich ganz von Neuem überzeugt und haben uns um so mehr gefreut, dass wir hier Berlinale Series-Vertraute erneut bei uns begrüßen können. Und nicht zuletzt freut es mich natürlich, dass es eine gewisse Kontinuität der Arbeit von Berlinale Series-Erfinderin Solmaz Azizi und mir gibt.
Bei Snöänglar haben wir ein eigentlich klassisches Genre wie den Kriminalfall um ein verschwundenes Kind, das aber aufregend neu ausgelegt wird von Creator Mette Heeno, sie nutzt das Setting als Hintergrund, vor dem sie hochinteressante, vielschichtige Figuren etablieren kann und ihren Lebens- und Gefühlswelten nachgeht. Dabei verhandelt sie Fragen zu unseren Vorstellungen von Mutterschaft, Weiblichkeit, Familie, es geht um unseren Blick auf Menschen in anderen Lebensumständen, Vorurteile und überzogene Erwartungen und das Leid, das daraus entsteht. Das ist alles sehr spannend erzählt, sehr ehrlich und direkt.
Und David Schalko hat uns einen wilden Ritt durch Über-Ich, Ego und zweihundert Metaebenen geschickt, den wir sehr genossen haben. Das ist ein echter Schalko mit Dialogen zum Ausschneiden und einem lustvoll aufspielenden Ensemble der Theatertiere - und dann sieht das auch noch toll aus, hat eine klare ästhetische Linie und, nennen wir es “Humor in der Architektur”. Die Serie traut sich etwas, macht riesigen Spaß und ist von sehr klugen Menschen gemacht, das war keine schwierige Entscheidung.
Snöänglar und Ich und die Anderen sorgen in gewisser Weise für Kontinuität, mit Philly D.A. betretet ihr 2021 noch einmal Neuland und habt die erste dokumentarische Serie in der Auswahl. Was interessiert euch an der dokumentarischen Form im seriellen Erzählen besonders?
Dokumentarserien finden wir schon eine Weile hochinteressant, gerade weil hier auch so viel mit Narration, Dramaturgie experimentiert wird. Wir haben immer wieder Dokumentarserienmacher dazu eingeladen, bei uns einzureichen, weil wir es spannend finden was passiert, wenn zum Beispiel mit fiktionalen Erzählmustern dokumentarisches Material inszeniert wird. Philly D.A. könnte in den ersten zwanzig Minuten ein Hollywoodfilm sein: Der unermüdliche Kämpfer gegen das System ändert spektakulär seine Strategie, lässt sich in das Amt wählen, gegen das er jahrzehntelang gearbeitet hat und gewinnt triumphal. Danach allerdings zeigen die Creators, was nach der Fairy-Tale-Victory passiert: Harte, langwierige, kleinteilige Arbeit, die oft wehtut. Die Serie ist hochaktuell, es geht um das amerikanische Strafverfolgungssystem, um Gefängnisreformen und Polizeigewalt.
Beeindruckt hat uns, wie zurückgenommen die Creators dabei waren uns als Zuschauer*innen da durchzuleiten, uns die Möglichkeit zu geben, zu beobachten und von selbst auf bestimmte Schlüsse zu kommen. Und als Choreografin war ich natürlich hingerissen von den Szenen, in denen die Motorradformationen einer Polizeiparade zu sehen sind, diese wenig graziösen Körper, auf ihren Pedalen in abstrusen Haltungen verharrend… Ich fand es wundervoll, dass sie solchen Bildern auch Platz geben in der Serie. Es zeugt von einer großen Lust am Erzählen in Bildern - und darum geht es uns am Ende.