Forum & Forum Expanded

13.01.2022
Geschichtsbewusst. Zu den neun Filmprogrammen im Forum Special

This Makes Me Want to Predict the Past von Cana Bilir-Meier

In diesem Jahr flankiert ein Forum Special mit insgesamt neun Filmprogrammen das Hauptprogramm der unabhängigen Berlinale-Sektion. Den wesentlichen Teil davon machen elf Kurz- und Langfilme aus. Sie setzen die Filmreihe „Fiktionsbescheinigung“ fort, nachdem diese 2021 zum Berlinale Summer Special erstmals online lanciert und später im SİNEMA TRANSTOPIA auf der Leinwand gezeigt worden ist.

Die Reihe wirft die Frage auf, wie Kultur im Allgemeinen, Kino im Besonderen, Gesellschaft und Rassismus zusammenhängen. Sie widmet sich dem Schaffen von Schwarzen Regisseur*innen und Regisseur*innen of Color in Deutschland und versteht sich als ein Experiment in geteilter kuratorischer Verantwortung. Dabei wirft sie auch ein Schlaglicht auf ein zu Unrecht zu wenig bekanntes Kapitel deutscher Filmproduktion.

Diesmal haben die Kurator*innen Enoka Ayemba und Biene Pilavci die Filmauswahl getroffen. Unterstützt haben sie dabei Karina Griffith, Jacqueline Nsiah, Can Sungu sowie das Auswahlkomitee des Berlinale Forums. Sechs Programme aus Lang- und Kurzfilmen vereinen Arbeiten aus vier Jahrzehnten, unter ihnen Fremd. Yaban. (2007) von Hakan Savaş Mican mit der wunderbaren Sema Poyraz in einer tragenden Rolle, In der Wüste (1987), ein Spielfilm von Rafael Fuster Pardo über zwei brotlose Künstler im Vorwende-Berlin, Dreckfresser (2000) von Branwen Okpako, ein Dokumentarfilm über einen Schwarzen Polizisten im Sachsen der Nachwendezeit, die Essayfilme Die leere Mitte (1998) und Normalität 1-10 (2001), beide von Hito Steyerl, sowie ein Film aus der Studienzeit von Raoul Peck, Merry Christmas Deutschland oder Vorlesung zur Geschichtstheorie II (1985).

Die Kurator*innen erläutern ihre Auswahl in einem Statement: „Die Reihe versteht sich als Momentaufnahme in einem selbstbestimmten und fortlaufenden Prozess der Einmischung und des Widerspruchs. Jeder Film ist ein Vorschlag, den weißen deutschen Blick mit vielfältigen, intersektionalen Perspektiven zu parieren, und allen gemein ist eine eigene visuelle und textuelle Praxis der Zeugenschaft von innen, nicht vom Rand.“

Zu den elf „Fiktionsbescheinigungs“-Filmen gesellen sich drei weitere Arbeiten, die entweder selbst schon historisch sind und in neu restaurierten Fassungen vorliegen oder die Geschichte des Berlinale Forums reflektieren. Med Hondos West Indies ou les nègres marrons de la Liberté (West Indies) aus dem Jahr 1979 widmet sich in reduzierter Kulisse, dafür mit umso größerem Ideenreichtum dem transatlantischen Sklavenhandel, der Lage auf den französischen Antillen und der Einwanderungspolitik der Grande Nation. Eine Ästhetik der Sparsamkeit begegnet der Flamboyanz eines Musicals, und aus dem Zusammenprall entsteht eine Groteske, die nichts an bitterer Aktualität verloren hat.

Nicht minder aktuell ist Borhane Alaouiés Spielfilm Beirut al lika (Beirut the Encounter), obwohl er aus dem Jahr 1981 stammt. Eine junge Frau ist im Begriff, die vom Bürgerkrieg versehrte Stadt Richtung Amerika zu verlassen, für sechs Monate oder für immer, so genau weiß sie es nicht, und ein junger Mann würde sie gerne noch einmal sehen, wären da nicht die Straßensperren, die gekappten Telefonverbindungen und Verkehrsstaus. Alaouié zeichnet die wehmütige Skizze eines Abschieds. Hätte er ahnen können, dass sich 41 Jahre später viele Libanes*innen in der gleichen Lage befinden?

Schließlich schaut das Forum auf seine eigene Geschichte. Alice Agneskirchner widmet Ulrich und Erika Gregor das Filmporträt Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors. Mit Filmausschnitten, Archivmaterial, nachgestellten Szenen und Interviews gibt die Berliner Regisseurin einen tiefen Einblick in die Vita und das Wirken dieser beiden legendären Filmvermittler*innen, ohne die es das Berlinale Forum nicht gäbe.

Forum Special

„Fiktionsbescheinigung“

77sqm_9:26min
Vereinigtes Königreich 2017
von Forensic Architecture
Am Nachmittag des 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel vom NSU ermordet. Verfassungsschützer Andreas Temme war während oder kurz vor den Schüssen vor Ort. Eine architektonische Untersuchung seiner Aussagen gegenüber der Polizei.

Dilim dönmüyor – Meine Zunge dreht sich nicht
Deutschland 2013
von Serpil Turhan
Serpil Turhans Großeltern gaben das Kurdische für das Türkische, das Dorf für die Großstadt auf. Ihre Mutter dann das Türkische für das Deutsche und Istanbul für Berlin. Behutsam sammelt die Regisseurin Fragmente einer von Migration geprägten Familie.

Dreckfresser
Deutschland 2000 (Forum 2001)
von Branwen Okpako
Der sächsische Afrodeutsche Sam Meffire ist in seinem Leben schon Vieles gewesen. Anfang der 1990er sollte sein Gesicht zum Symbol für ein weltoffenes Bundesland werden. Zugleich war er Polizist, Freund des damaligen Innenministers und später: Verbrecher.

Fremd. Yaban.
Deutschland 2007
von Hakan Savaş Mican
mit İsmail Şahin, Sema Poyraz
Meryem kommt aus der Türkei zu Besuch nach Berlin. Adem kommt das sichtlich ungelegen, er will lieber an seinem Architekturmodell arbeiten. Eine feinsinnige Beobachtung der Dynamiken zwischen Gastarbeiter- und zweiter Generation, zwischen Mutter und Sohn.

In der Wüste
Bundesrepublik Deutschland 1987
von Rafael Fuster Pardo
mit Claudio Caceres Molina, Mustafa Saygili, Adriana Altaras
Der Chilene Fernando und der Türke Timur sind Künstler, leben arbeits- und mittellos in Kreuzberg. Auf der Suche nach Geld und Ablenkung streifen sie durch die Stadt. Voll schelmischem Charme zeichnet Fuster Pardo eine Freundschaft in der Großstadtwüste.

Die leere Mitte
Deutschland 1998
von Hito Steyerl
Berlin Potsdamer Platz: Der ehemalige Todesstreifen wird in den 1990ern Baugrund für repräsentative Großprojekte und ein neues Zentrum der Macht. Steyerls scharfe Analyse zeigt es als Zentrum politischer Gewalt, das auf Ausgrenzung und Verdrängung beruht.

The Maji-Maji Readings
Deutschland 2006
von Ricardo Bacallao
mit Philippa Ébené, Grada Kilomba
Eine Theaterlesung über den Maji-Maji-Aufstand im damaligen Deutsch-Ostafrika wird für Bacallao zum Anlass, in Deutschland immer noch vorherrschende koloniale, rassistische Denkmuster aufzuzeigen. Zu Wort kommen u.a. Philippa Ébené und Grada Kilomba.

Merry Christmas Deutschland oder Vorlesung zur Geschichtstheorie II
Bundesrepublik Deutschland 1985
von Raoul Peck
Der Studentenfilm aus Raoul Pecks Zeit an der DFFB erfasst die Stimmung in Deutschland 1984. Graue Stadtbilder, Gedanken über Demokratie, Menschen in Weihnachtsstimmung und Ausschnitte aus dem Fernsehprogramm der BRD erschaffen einen atmosphärischen Sog.

Normalität 1–10
Österreich/Deutschland 1999-2001
von Hito Steyerl
Um die Jahrtausendwende gehören Schändungen jüdischer Gräber, Neonazi-Aufmärsche und rassistische Angriffe zum Alltag in Deutschland und Österreich. Steyerls Serie kurzer essayistischer Videos berichtet von der Gewalt, die mit Normalität verwechselt wird.

Der schöne Tag
Deutschland 2001 (Forum 2001)
von Thomas Arslan
mit Serpil Turhan, Bilge Bingül, Florian Stetter
Ein langer Sommertag in Berlin: Eine junge Frau, angehende Schauspielerin, streift durch die Stadt. Sie trennt sich von ihrem Freund, trifft einen Mann, macht sich Gedanken über die Liebe. Zurückgenommen erzählt Arslan von Zielstrebigkeit und Suche.

This Makes Me Want to Predict the Past
Deutschland/Österreich 2019
von Cana Bilir-Meier
mit Sosuna Yıldız, Aleyna Osmanoğlu, Berfin Ünsal
Ein Besuch in einer Mall, Fotoabzüge, eine Bombendrohung, ein Anschlag: Verbindungslinien und Brüche zwischen migrantischem Alltag damals und heute, zwischen jugendlicher Unbeschwertheit und den Kontinuitäten rassistischer Gewalt in Deutschland.

Weitere Filme

Beirut al lika (Beirut the Encounter)
Libanon /Tunesien / Belgien 1981
von Borhane Alaouié
mit Haytham Al Amine, Nadine Acoury
Ein Schiit aus West-Beirut und eine Christin aus dem Osten der Stadt versuchen sich inmitten des Bürgerkriegs nach Jahren der Trennung noch einmal zu sehen, bevor sie in die USA emigriert. Ein Film, neu restauriert, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors
Deutschland 2022
von Alice Agneskirchner
mit Erika Gregor, Ulrich Gregor
Erika und Ulrich Gregor brachten seit den 1950ern Meilensteine der Filmgeschichte nach Berlin und prägten den Diskurs um Film im Nachkriegsdeutschland. Das Porträt schaut auf Leben und Wirken des Paares, ohne das es Arsenal und Forum nicht gegeben hätte.

West Indies ou les nègres marrons de la Liberté (West Indies)
Frankreich/Algerien/Mauretanien 1979
von Med Hondo
mit Robert Liensol, Hélène Vincent, Toto Bissainthe, Cyril Aventurin, Theo Légetimus
Med Hondos furioses Musical von 1979 umfasst 400 Jahre französischer Präsenz auf den Kleinen Antillen: Eine Theaterbühne wird zum Sklavenschiff, auf der Afrika, Europa und die Karibik zusammentreffen. Restauriert kommt der Film zurück auf die Leinwand.


Presseabteilung
13. Januar 2021