Panorama
18.01.2022
Panorama 2022: Achtung! Hochspannung.
Den Anfang beim Panorama 2022 macht ein verehrter Autor des europäischen Kinos: Alain Guiraudie wird mit seiner Politsatire Viens je t’emmène (Nobody’s Hero) das Panorama eröffnen und damit zum ersten Mal mit einem Film bei der Berlinale vertreten sein. Guiraudies liebestolle Meute an Mittelklassebürger*innen jagt nach einem Terroranschlag durch die Straßen von Clermont-Ferrand. Liebe, Paranoia und Misstrauen peitschen sein Figurenkabinett durch diese Satire, die trotz aller gesellschaftlichen Kritik voll von Empathie für ihre fehlerhaften Held*innen ist.
Wenn Blicke töten + verführen
Gesellschaftliche Umwälzungen inszenieren einige Regisseur*innen im diesjährigen Programm mit visueller Verve und Lust an der dramatischen Geste. Sie setzen damit ein klares Zeichen für ein angriffslustiges Genrekino, welches gesellschaftliche Codes auf den Kopf stellt.
Blickfelder und Sichtachsen werden zu Boten des Umbruchs, wenn die mexikanische Regisseurin Alejandra Márquez Abella in ihrem dritten Spielfilm El norte sobre el vacío (Northern Skies Over Empty Space) den Machtverfall der Elite episch in Szene setzt. Flávia Neves verknüpft in ihrem brasilianischen Debüt Fogaréu Familienhorror surreal und virtuos mit der Kolonial- und Sklavereigeschichte ihres Landes. In Una femmina (Una Femmina - The Code of Silence) inszeniert Francesco Costabile mit dramatischer Wucht den Emanzipationsprozess einer jungen Frau inmitten ihrer in düstere Machenschaften verstrickten Familie. Der Blick antizipiert die Auseinandersetzung, das Duell um Macht, die mit roher Gewalt durchgesetzt wird.
Regisseurin Isabelle Stever filmt Blickachsen, die kompromisslos das herkömmliche Familiendrama und seine verkrusteten Konventionen in tausend Einzelteile zerschlagen. Grand Jeté lässt uns Zeug*innen eines aufblühenden Begehrens zwischen einer Mutter und ihrem entfremdeten Sohn werden. Durchtränkt von einer beispiellosen körperlichen Intensität, fordert Grand Jeté mit gnadenloser Konsequenz und meisterhafter Mise en Scène unsere Sehgewohnheiten und Moralvorstellungen heraus.
In die Tiefen gesellschaftlicher und familiärer Strukturen der Gewalt blicken Produkty 24 (Convenience Store) des usbekischen Regisseurs Michael Borodin und Baqyt (Happiness) von Askar Uzabayev aus Kasachstan. Beide liefern enorm wichtige, fiktionale Beiträge über die moderne Sklaverei in Russland und häusliche Gewalt gegen Frauen, welche nicht nur in Kasachstan zur traurigen Tagesordnung gehört.
Die Sichtbarkeit der Lebenslinien
Zehn dokumentarische Arbeiten bereichern das diesjährige Programm mit ihren Geschichten und heterogenen Perspektiven. Viele von ihnen verbinden Historie und Gegenwart um neue Sichtweisen zu öffnen, Lebensläufe sichtbar zu machen und bisher verborgene Subkulturen aufleben zu lassen. In Cem Kayas dokumentarischem Essay Aşk, Mark ve Ölüm (Liebe, D-Mark und Tod) orchestriert der Regisseur Material aus 60 Jahren alternativer deutscher Nachkriegs- und türkisch-deutscher Kulturgeschichte. Im Mittelpunkt des Portraits Bettina steht die Berliner Liedermacherin Bettina Wegner. Darin erzählt Lutz Pehnert nicht nur eine Künstlerinnenbiographie, sondern durch das akribisch recherchierte und eingesetzte Archivmaterial auch die Geschichte des geteilten Deutschlands.
Im legendären New Yorker Chelsea Hotel begegnen wir so illustren Bewohner*innen wie der neugierigen Choreographin Merle oder der exzentrisch-eremitischen Fotografin Bettina. Sie sind Teil jener, die trotz Kernsanierung geblieben sind und auf ihr Wohnrecht beharren. In Dreaming Walls inszenieren Amélie van Elmbt und Maya Duverdier ein kaleidoskopisches Portrait der Widerständigen und der Räume, die sie bewohnen und durchstreifen.
Migration, Revolution, Zukunft. Dokumentarische Formen aus Subsahara-Afrika
Die Kamera als Werkzeug zur Selbstreflektion und Spurensuche ist ein wiederkehrendes Sujet in den folgenden Filmen: Im nigerianischen Beitrag No U-Turn begeben wir uns mit dem Regisseur Ike Nnaebue auf eine filmische Spurensuche von Lagos nach Tanger, der kontinentalen Route, die er bereits als Teenager in der Hoffnung auf ein besseres Leben bereist hat. Dabei zeichnet er ein multinationales und -linguistisches Portrait afrikanischer Migration. In No Simple Way Home von Akuol de Mabior aus dem Südsudan setzt sich die Regisseurin mit ihrer Familiengeschichte auseinander, die eng mit der Geschichte des jungen ostafrikanischen Staates verbunden ist. Rafiki Fariala stellt in Nous, étudiants ! (We, Students!) ebenso Fragen nach einer besseren Zukunft, diesmal in der Zentralafrikanischen Republik. Seine Kamera begleitet ihn und seine loyale Clique in allen Lebenslagen und visualisiert ein poetisches Plädoyer einer zukunftsorientierten Generation. Beide Länder sind erstmals mit einem Film bei der Berlinale vertreten.
Das Panorama bietet 2022 einen wilden Ritt durch das Gegenwartskino. Filme, die korrupte Eliten anprangern, verkrustete und toxische Familienstrukturen sezieren und an Orte der Widerständigkeit und Versöhnung führen. Sie vermitteln zwischen Vergangenheit und Gegenwart und blicken auf Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Sie zeigen ästhetischen Gestaltungswillen, Lust an der dramatischen Geste und Sinn für satirische Töne. Entwaffnend, grausam, humorvoll und liebevoll zugleich, sind sie vor allem eines: für die große Leinwand gemacht.
Im Folgenden finden Sie die Filme des Programms.
Die bereits gemeldeten Filme finden Sie in der Pressemitteilung vom 15. Dezember 2021.
Aşk, Mark ve Ölüm (Liebe, D-Mark und Tod)
Deutschland
von Cem Kaya
Weltpremiere / Panorama Dokumente
Cem Kayas dichter Dokumentarfilmessay feiert 60 Jahre türkische Musik in Deutschland. Eine alternative Nachkriegsgeschichte und zugleich ein musikalisches Who-Is-Who, von Yüksel Özkasap über Derdiyoklar bis Muhabbet.
Baqyt (Happiness)
Kasachstan
von Askar Uzabayev
mit Laura Myrzakhmetova, Yerbolat Alkozha
Weltpremiere
Für ihren Job als Influencerin trägt sie Orange und strahlt. Die Produktlinie „Happiness“ ist ihr Programm. Doch zu Hause ist es finster. Dort herrscht seit Jahren rohe Gewalt. Was es kostet, der Falle Misogynie zu entkommen, zeigt dieser Film.
Berdreymi (Beautiful Beings)
Island / Dänemark / Schweden / Niederlande / Tschechische Republik
von Guðmundur Arnar Guðmundsson
mit Birgir Dagur Bjarkason, Áskell Einar Pálmason, Viktor Benóný Benediktsson, Snorri Rafn Frímannsson
Weltpremiere
Der 14-jährige Balli ist Außenseiter. Doch dann lernt er drei gleichaltrige Jungen kennen. Das Coming-of-Age-Drama findet poetische Bilder für eine vorsichtig beginnende Freundschaft, die an gendernormierten Verhaltensregeln und Gewalt zu scheitern droht.
Bettina
Deutschland
von Lutz Pehnert
Weltpremiere / Panorama Dokumente
Eine Berliner Biografie zwischen Ost und West. Liedermacherin Bettina Wegner, Jahrgang 1947, singt über das Leben in der DDR und die Entwurzelung in Westberlin und blickt in diesem Film humorvoll und aufrecht auf ein widerständiges Leben zurück.
Cinco lobitos (Lullaby)
Spanien
von Alauda Ruiz de Azúa
mit Laia Costa, Susi Sánchez, Ramón Barea, Mikel Bustamante
Weltpremiere / Debütfilm
Amaia und Javi sind frischgebackene Eltern. Als er wochenlang zum Arbeiten verschwindet, sucht sie Unterstützung bei ihren Eltern. Doch Amaias Mutter wird unerwartet krank. Sensibel erzählt der Film von der generationsübergreifenden Fürsorgerolle von Frauen.
Concerned Citizen
Israel
von Idan Haguel
mit Ariel Wolf, Shlomi Bertonov
Weltpremiere
Ben und Raz verfolgen akribisch ihren Kinderwunsch und der migrantisch geprägte Stadtteil, in dem das schwule Paar seine neue Wohnung eingerichtet hat, ist im Aufwind. Doch ein Konflikt um einen neu gepflanzten Stadtbaum fördert tiefliegende Vorurteile zutage.
Una femmina (Una Femmina - The Code of Silence)
Italien
von Francesco Costabile
mit Lina Siciliano, Fabrizio Ferracane, Anna Maria De Luca, Simona Malato, Luca Massaro
Weltpremiere
In Rosas Heimat, der widerspenstigen Landschaft Kalabriens, liegen Härte und Schönheit nah beieinander. Als sie die mafiöse Verstrickung ihrer Familie durchschaut, muss Rosa entscheiden, was sie riskieren will, um aus der ’Ndrangheta auszubrechen.
Fogaréu
Brasilien / Frankreich
von Flávia Neves
mit Bárbara Colen, Eucir de Souza, Nena Inoue, Fernanda Vianna, Vilminha Chaves, Timothy Wilson, Typyire Ãwa
Weltpremiere / Debütfilm
Nach Jahren kehrt Fernanda auf die Ranch ihres Onkels in Goiás, im mittleren Westen Brasiliens zurück. Ihr Erscheinen und ihre unbequemen Fragen legen ableistische und koloniale Strukturen offen und bringen die Fassade der bürgerlichen Familie ins Wanken.
Grand Jeté
Deutschland
von Isabelle Stever
mit Sarah Nevada Grether, Emil von Schönfels, Susanne Bredehöft
Weltpremiere
Nadja ist Tanzlehrerin und Mutter. Ihren Sohn Mario hat sie früh bei seiner Oma abgegeben. Jetzt steht sie wieder vor seiner Tür. Sie sucht eine Nähe zu ihm, die immer weniger Grenzen kennt. Ein kompromissloser Film über Familienbeziehungen.
Heroji radničke klase (Working Class Heroes)
Serbien
von Miloš Pušić
mit Jasna Djuričić, Boris Isaković, Predrag Momčilović, Stefan Beronja, Aleksandar Djurica, Bojana Milanović
Weltpremiere
Lidija arbeitet für eine dubiose Immobilienfirma. Nach außen kontrolliert sie das Image der Baustelle und verwischt die dreckigen Spuren des serbischen Turbokapitalismus. Als die Arbeiter rebellieren, wird ihre Mittäterschaft auf die Probe gestellt.
Kdyby radši hořelo (Somewhere Over the Chemtrails)
Tschechische Republik
von Adam Koloman Rybanský
mit Miroslav Krobot, Michal Isteník, Anna Polívková
Weltpremiere / Debütfilm
Als bei einer Feier ein Dorfbewohner verletzt wird, weiß Feuerwehrmann Bronya sofort, dass es sich um ein Attentat handelt, verübt von einem „Araber“. Doch Kollege Standa sieht das anders. Ein lakonisches Debüt über die Ursachen von Rassismus und Ausgrenzung.
No Simple Way Home
Kenia / Südsudan / Südafrika
von Akuol de Mabior
Weltpremiere / Debütfilm / Panorama Dokumente
Akuol de Mabior ist die Tochter eines Märtyrers der Revolution im Südsudan. Während ihre Mutter als Vizepräsidentin vereidigt wird, versucht die junge Frau herauszufinden, ob das bürgerkriegsgeschüttelte Land jemals ihr Zuhause werden kann.
No U-Turn
Nigeria / Südafrika / Frankreich / Deutschland
von Ike Nnaebue
Weltpremiere / Panorama Dokumente
Als junger Mann versuchte Ike Nnaebue nach Europa zu fliehen. 20 Jahre später besucht er die Stationen seiner damaligen Reise erneut, um zu erfahren, was junge Menschen heute bewegt, sich den Gefahren einer Reise in eine ungewisse Zukunft auszusetzen.
El norte sobre el vacío (Northern Skies Over Empty Space)
Mexiko
von Alejandra Márquez Abella
mit Gerardo Trejoluna, Paloma Petra, Dolores Heredia, Juan Daniel García Treviño, Mayra Hermosillo
Weltpremiere
Mit großartigem Gespür für den Einsatz von Vorzeichen, die Wandel ankündigen, zeigt Alejandra Márquez Abella einen Epochenwechsel im ländlichen Mexiko – aus der Perspektive derer, denen sonst die Rollen der passiven Nebendarsteller*innen vorbehalten sind.
Produkty 24 (Convenience Store)
Russische Föderation / Slowenien / Türkei
von Michael Borodin
mit Zukhara Sanzysbay, Lyudmila Vasilyeva, Tolibzhon Suleimanov, Nargiz Abdullaeva
Weltpremiere / Debütfilm
Ein Supermarkt in einem Moskauer Vorort. Herz der Finsternis. Die usbekischen „Angestellten“ arbeiten rund um die Uhr, werden bedroht, misshandelt, eingesperrt. Mukhabbat flieht und enthüllt den Teufelskreis moderner Sklaverei. Ein wahrer Fall als surrealer Trip.
Viens je t'emmène (Nobody's Hero)
Frankreich
von Alain Guiraudie
mit Jean-Charles Clichet, Noémie Lvovsky, Iliès Kadri, Renaud Rutten, Doria Tillier
Weltpremiere
Nach einem Terroranschlag im französischen Clermont-Ferrand treibt ein ungewöhnlicher Figurenreigen um einen sympathischen Mittdreißiger, eine ältere, verheiratete Sexarbeiterin und einen jungen, arabischstämmigen Obdachlosen die Ereignisse voran.
Presseabteilung
18. Januar 2022