2022 | Berlinale Talents
„Vom Ansatz sind wir Berlinale pur“
In diesem Jahr feiert Berlinale Talents ihr zwanzigstes Jubiläum. Im Interview erklären die Leiter*innen Christine Tröstrum und Florian Weghorn, was den Geist der Talentförderinitiative ausmacht und wie sie es schaffen, sich immer wieder zu erneuern und auch widrigen Realitäten anzupassen.
Was genau ist die Mission von Berlinale Talents?
Christine Tröstrum: Wir möchten Menschen miteinander in Kontakt bringen, die sich gegenseitig inspirieren und die Leidenschaft des Filmschaffens teilen. Weil wir nachhaltig wirken wollen, setzen wir beim Aufbau einer Community und deren Ideen und Ressourcen an. Wir stellen uns und der Gruppe immer wieder die Frage, was in fünf Jahren oder zehn Jahren sein wird, gehen auf diese Zukunftsbedürfnisse ein und richten unser Angebot daran aus. Das permanente Verändern im Abgleich mit der Realität ist unser Auftrag.
Und wie hat sich dieser Auftrag über die Jahre verändert?
Florian Weghorn: Der Talent Campus von 2003 war eine Pionierpflanze, Talentförderung im Filmsektor war rar, der große Aufschlag mit 500 Teilnehmenden sehr mutig! In der Frühphase haben die Kolleg*innen die bis heute gültigen Schlüsselfaktoren Anerkennung, Augenhöhe und Zugänglichkeit etabliert, und erstmal vergleichsweise jungen Filmschaffenden die Türen geöffnet. Von dieser Urenergie berichten Talente der ersten Tage bis heute: “Für mich hat alles dort angefangen. Ich bin das erste Mal wahrgenommen worden und habe mich selbst als professioneller Filmschaffender fühlen dürfen.“
Ist das heute anders?
CT: Heute ist die Anerkennung gewissermaßen die Voraussetzung für eine Teilnahme an Berlinale Talents. Das heißt, man ist schon ein Talent mit vielen Qualifikationen und Qualitäten, wenn man eingeladen wird. Wir bestärken dies, begleiten die Teilnehmenden in eine nächste Phase und helfen ihnen, die Branche, die eigene Arbeit, ihr Team, oder auch sich selbst aktiv zu verändern. So unterschiedlich alle zum Glück sind, der „Berlin-Effekt“ ist für viele recht ähnlich: Die Teilnehmenden werden darin bestärkt, dass sie einen Wert für andere und die Branche haben, und nicht mehr nur andere einen Wert für sie. Das ist ja nochmal ein Unterschied.
Wie setzen sich die Talente heute zusammen? Achtet Ihr auf Quoten?
CT: Es gibt ein paar grundsätzliche Regeln bei Berlinale Talents. Zum Beispiel ist seit 20 Jahren unsere Genderverteilung mindestens 50/50, heute sind wir natürlich wesentlich diverser. Wir erhalten Bewerbungen aus 130 Ländern und landen meist bei Teilnehmenden aus ungefähr 70 Ländern. Quoten vermeiden wir bewusst, weil wir die Freiheit behalten möchten, sowohl ästhetischen als auch mal der Begeisterung unserer Gremien folgen zu dürfen. Aber was klar ist: Die Branche hat auch Nachholbedarf z.B. für mehr Vielfalt in den sogenannten technischen Berufen und natürlich der Regie und Autor*innenschaft. Kamerafrauen gibt es immer noch zu wenig, und da fördern wir bewusst.
Lasst uns auf 20 Jahre Berlinale Talents zurückblicken. Wie habt Ihr Euch entwickelt und welche Erfahrungen waren dabei besonders prägend?
FW: Zurückblicken? Wir tragen eigentlich nicht den schweren Rucksack an Erinnerungen mit uns herum. In 20 Jahren haben wir aber gelernt und sind auch besser darin geworden, Veränderungen in der Branche bei uns selbst umzusetzen. In der ersten Dekade von Berlinale Talents ging es noch viel um die Erfahrungsschätze: Wir haben die besten Gäste von Wenders bis Binoche begrüßt, um ihre Erfahrungen gebeten und diese der nächsten Generation vermittelt. So lässt sich das Kino feiern, und unser Berliner Publikum und wir lieben das bis heute! Aber da geht noch mehr, denn die Berlinale trägt Teilhabe ihrem Genpool. Und das heißt für uns Begegnung auf Augenhöhe, auch mit den berühmtesten „Kolleg*innen“ der Branche, und wo nötig auch mal gemeinsam Glaubenssätze überwinden.
Wie macht sich das in Eurem Format bemerkbar?
Wir schauen natürlich schon, was geschaffen wurde – und vor allem wie! Heute fragen wir die Gäste und uns selbst aber dabei: Was kommt uns als Nächstes aus der Zukunft entgegen und wie gehen wir mit Gelernten um? Die Talente, die wir einladen, entscheiden ja über die Zukunft mit und sollen dafür ihr Rüstzeug bekommen.
Momentan ist ja die größte Veränderung, dass der physische Event komplett online stattfinden wird...
FW: Vom Ansatz sind wir natürlich „Berlinale pur“, es gilt also auch das Prinzip vom kulturellen Fest der größeren Natur, inklusive der Herausforderung durch die schiere Anzahl an Menschen, die Besonderheit des feierlichen Moments, die Zufälle – unsere Aufgabe aber ist, die Realitäten und das, was die Menschen daraus machen, in der „Welt da draußen“ zu spüren und in unsere Form zu bringen. Und wenn die Realität nun mal so aussieht, wie sie gerade aussieht, dann schauen wir uns halt jedes Format an, finden heraus, was dessen Essenz ist, und gießen diese dann in neue Fläschchen.
Wie sind Eure Erfahrungswerte aus dem letzten Jahr, in dem Berlinale Talents bereits komplett online stattfand?
CT: Wir haben die 200 Talente im letzten Jahr gleich in der ersten Session auf eine digitale Traumreise ins Jahr 2024 geschickt. Das hat die Gruppe verbunden, aber auch überrascht – gerade weil digital und emotional in unseren Köpfen so selten zusammengebracht wird. Wir arbeiten mit großer Sorgfalt daran, die Inhalte so umzusetzen, dass unsere Teilnehmenden in über 70 Ländern sie gut annehmen können und sich beteiligt fühlen. Wenn die Talente nicht nach Berlin kommen können, reisen wir eben zu ihnen.
In diesem Jubiläumsjahr und dem zweiten Jahr der Pandemie habt Ihr den Fokus auf die Arbeit an sich gelegt. Wie kam es dazu?
FW: Inmitten der Pandemie wollten wir die Handarbeit in den Mittelpunkt zu stellen, ganz klar auch aus Sehnsucht nach etwas Anfassbarem. Mit dem Thema „Labours of Cinema“ schauen wir auf die filmische Arbeit in ihren greifbaren und künstlerischen Dimensionen, angefangen beim Modellbau bei Wes Anderson bis hin zu Schreiben eines Drehbuchs, das ja auch längst nicht nur Kopfarbeit ist. Uns ist wichtig, diese vielen Handwerkskünstler*innen, die oft im Verborgenen werkeln, einmal in den Fokus zu stellen. Gleichwohl ist Arbeit, und deswegen sagen wir im Englischen auch „Labour“ statt „Work“, nicht nur im Schaffen zu verstehen, sondern auch als der politische und gesellschaftliche Kampfbegriff. Da ist also etwas, das sich gerade stark verändert, neu organisiert werden muss und für das Bedingungen geschaffen werden, die mehr oder leider weniger verträglich sind. Wir befragen in Kooperation mit einer Universität unsere Talente erstmals streng anonym, wie viel sie eigentlich verdienen. Auch das ist ja ein wichtiger Aspekt der Arbeit: Anerkennung und Einkommen!
Talents Tanks, ist das ein neues Format?
CT: Ja, wir haben aus der Dream Journey und den früheren Talents Circles ein neues Angebot geschmiedet: Nun stehen vier Themen im Raum, und wir haben methodische Ansätze aus der Organisationsentwicklung auf unsere Bedürfnisse angepasst. Ausgehend vom „Labours“-Thema öffnen wir uns den Ideenwelten dieser diversen Gruppe an 200 Talenten und entwickeln mit ihnen zusammen Zukunftsmodelle für ihre faire, ressourcenschonende und freie kreative Arbeitswelt. Dieses Forum hat auch keinen Selbstzweck: Durch Beteiligung unserer Partner, vom Auswärtigen Amt, über Telefilm Canada, Medienboard Berlin-Brandenburg und Netflix, geht es auch darum, Rückkanäle zu schaffen und Ideen schnell Wirklichkeit werden zu lassen. Viel Arbeit, aber es lohnt sich!
Habt ihr euer Hauptquartier mit Bühne und Studio wieder im HAU Hebbel am Ufer Theater und macht von da aus jeden Tag Streams?
FW: Genau, wir sind eigentlich ein Event, das wie immer sehr stark im Festival und in Berlin verankert ist. 116 Alumni kehren mit 75 Filmen in die diesjährige Berlinale zurück: Da wollen wir natürlich mitfeiern.
Zum Abschluss hätte ich gerne noch eine Anekdote zur Geschichte von Berlinale Talents. Gibt es einen Moment oder bestimmte Persönlichkeiten, die Ihr hervorheben möchtet?
CT: Ja, die besonderen Momente und Wegbegleiter*innen ziehen sich natürlich durch unsere ganze Geschichte. Das fängt für mich auch an dieser Stelle mit Dieter Kosslick an, der damals hingehört hat, was die Branche braucht, und dann diese große Experimentierfläche im Festival etabliert hat. Und man kann über die vielen Begegnungen reden, in denen auch Florian und ich mit Gänsehaut hinter der Bühne stehen und uns einfach freuen, dass da gerade Ryūichi Sakamoto am Klavier improvisiert oder Céline Sciamma gar nicht mehr weg will. Aber ganz ehrlich, unsere größten Persönlichkeiten sind die Talente und ein Magic Moment ist die (Wieder-) Begegnung mit einem Alumnus in einem Bus irgendwo in Mexiko: „You probably don’t remember me“ - und dann erinnert man sich doch!