Forum & Forum Expanded

13.01.2023
Auf dem Weg zu den Retrospektiven der Zukunft: die Filme im Forum Special

Still aus Man Sa Yay von Safi Faye, A Rainha Diaba (The Devil Queen) von Antonio Carlos da Fontoura © José Medeiros, I Heard It through the Grapevine von Dick Fontaine © Dick Fontaine, Eigentum der Dick Fontaine Collection, Harvard Film Archive

Auch in diesem Jahr flankiert ein Forum Special das Hauptprogramm der unabhängigen Berlinale-Sektion. Zwei neu restaurierte Langfilme erkunden unterschiedliche Bereiche Schwarzer Kultur. Das Harvard Film Archive hat I Heard It through the Grapevine restauriert, einen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1982 von Dick Fontaine. An der Seite von James Baldwin reist der Filmemacher durch die Südstaaten der USA, um in Erfahrung zu bringen, was aus den Versprechen der Bürgerrechtsbewegung geworden ist. A Rainha Diaba (The Devil Queen) von Antonio Carlos da Fontoura aus dem Jahr 1974 ist queeres Genrekino aus Brasilien. Obwohl er während der Militärdiktatur entstand, ist der Film erstaunlich freimütig und flamboyant. In der Hauptrolle besticht der Schwarze Star Milton Gonçalves, der im Mai verstarb.

Zehn Kurz- und Langfilme setzen die Filmreihe „Fiktionsbescheinigung“ fort, nachdem diese das Berlinale Forum schon 2021 und 2022 bereichert hat. Die zentrale Frage lautet, wie Kultur im Allgemeinen, Kino im Besonderen, Gesellschaft und Rassismus zusammenhängen. „Fiktionsbescheinigung“ widmet sich dem Schaffen von Schwarzen Regisseur*innen und Regisseur*innen of Color in Deutschland und erweitert die deutsche Filmgeschichtsschreibung um intersektionale Perspektiven.

Diesmal haben die Kurator*innen Jacqueline Nsiah und Can Sungu bei ihren Recherchen ganz besonders kostbare Funde gemacht, etwa Oyoyo, den Diplomfilm von Chetna Vora aus dem Jahr 1980. Er entstand in der DDR, genauer: an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg, und feiert das Zusammenleben von Studierenden aus afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Ländern in einem Wohnheim. Bei einer anderen Regisseurin hätte sich das vielleicht zu internationalistischer Ideologie verhärtet, bei der aus Indien kommenden Vora bleibt es fluide. Ähnlich charmant geht ihr Landsmann und Kommilitone Gautam Bora in Ein Herbst im Ländchen Bärwalde (1983) vor. Indem er eine Familie von Bauern im südlichen Brandenburg besucht, sie nach ihren Lebenswegen, Arbeitsweisen und Besitzverhältnissen fragt, lotet er die Möglichkeiten umgekehrter Ethnographie aus. Ein von der Kuratorin und Künstlerin Karina Griffith zusammengestelltes Programm widmet sich zudem der kenianischen Regisseurin Wanjiru Kinyanjui, die vor drei Jahrzehnten an der Berliner dffb studierte. Der Kampf um den heiligen Baum, ihr Abschlussfilm aus dem Jahr 1995, ist eine einfalls- und fintenreiche Version dessen, was Ngũgĩ wa Thiong’o, der große alte Mann der kenianischen Literatur, einst „Dekolonialisierung des Denkens“ nannte.

Korhan Yurtsevers in Deutschland gedrehter Spielfilm Kara Kafa (Black Head) aus dem Jahr 1979 war in der Türkei lange verboten. Die Zensurbehörde fand, er verletze „die Ehre Deutschlands, der befreundeten Nation“. Nun erlebt die restaurierte Fassung ihre Premiere. Yurtsever schaut den Eheleuten Cafer und Hacer aus der Türkei dabei zu, wie sie, kaum in Deutschland, unterschiedliche Interessen entwickeln. Während Cafer nach und nach die Orientierung verliert, engagiert sich Hacer in der migrantischen Frauengruppe und erprobt die Versprechen der Intersektionalität lange bevor der Begriff sich durchsetzen wird. Auch in Sohrab Shahid Saless‘ Schwarz-Weiß-Film Ordnung (1980) verliert ein Mann die Orientierung. Der Unterschied ist, dass es Saless um die Versteinerungen und Neurosen der Herkunftsdeutschen geht. Der aus dem Iran kommende Regisseur zeichnet für ein Oeuvre verantwortlich, das zum radikalsten gehört, was das deutsche Kino in den 1970er und 1980er Jahren hervorbrachte; Ordnung ist eine Vivisektion, die Kamera das Skalpell.

Trotz sorgfältiger Recherche war es nicht in jedem Fall möglich, Kopien in gutem oder sehr gutem Zustand zu finden. Ordnung etwa wurde auf 35mm gedreht; ausleih- und vorführbar ist im Augenblick nur eine 16mm-Kopie. Auch bei Oyoyo handelt es sich um die Vorführung einer Arbeitskopie. Die unfreiwillige Randstellung, in die die Arbeiten von Filmemacher*innen of Color gedrängt wurden, spiegelt sich im Zustand der Kopien. Umso schöner, dass das Shahid Saless Archive und die Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF aufwendige Restaurierungsprojekte begonnen haben. Zukünftigen Retrospektiven steht nichts im Wege.

Übersicht der Filme im Forum Special.


Presseabteilung
13. Januar 2023