2023 | Artistic Director's Blog

Der Traumbändiger

Gabriel LaBelle als Samuel Fabelman und Judd Hirsch als Boris Podgorny

Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.

Es hat den Anschein, dass das unabhängige Kino sich immer stärker auf die Aktualität bezieht. Vielleicht ist das eine natürliche Reaktion darauf, dass die sozialen Medien einen Erosionsprozess zulasten der Nachrichten in Gang gesetzt haben, sodass Filme uns heute jene Portion Wirklichkeit liefern, die uns entzogen wurde. Das hat zwei Effekte: Zum einen entwickeln sich Filmfestivals zu Seismografen für die Unterströmungen und Verwerfungen, die unseren Planeten erschüttern. Zum anderen fehlt es merklich an Filmen, denen es gelingt, den Diskurs auf eine andere Ebene zu verlagern. Ein Film von Steven Spielberg liefert hier einen wohltuenden Gegenentwurf. Wir wissen: Er wird uns aus der harten, bedrückenden Wirklichkeit entführen an einen Ort, an dem unseren Träumen Flügel wachsen. Wir wissen: Die Musik von John Williams wird die Crescendi und die innigen Momente so modulieren, dass wir das Gefühl haben, genau im richtigen Rhythmus zu atmen, und unseren Herzschlag mit dem Herzschlag der Geschichte synchronisieren. Und Janusz Kaminskis Kameraführung mit ihrer unwirklichen Geschmeidigkeit und dem spielerischen Wechsel zwischen Großaufnahmen und Totalen wird uns die Illusion geben, wir wären unsichtbare Zuschauer einer Szene, die nur wenige zu sehen bekommen.

Szene aus The Fabelmans

So ist es aber nicht. Oder vielmehr nicht nur: Steven Spielbergs neuester Film, der von der Familie Fabelman erzählt, entfaltet nicht nur die gewohnten magischen Schwingungen, sondern ist auch verdammt lebensecht. Der American Dream, der im Coming-of-Age-Genre seine kongeniale Entsprechung findet, birgt immer eine dunkle Seite – die Seite des Schmerzes, der Mühsal und des Verzichts, die jeder Traum voraussetzt und verlangt. So erfolgreich, sicher und vergnügt Sammys Familie in The Fabelmans auch scheinen mag – aus der Innensicht stellt sie sich anders dar. Komplizierter, aber auch wahrhaftiger. Die Handlung dieses Films, entgegen allem Anschein Spielberg bisher wohl gehaltvollstes und komplexestes Werk, verteilt sich zweigleisig auf das reale Leben und auf die Welt des Kinos.

Mateo Zoryan als Samuel „Sammy“ Fabelman

Den kleinen Sammy versetzen die riesigen Bilder, die seine Eltern ihm als unterhaltsames und unvergessliches Schauspiel vorführen, in Angst. Der Junge findet nur eine Möglichkeit, das Spektakel des Unglücks zu akzeptieren: Er muss das Unglück nachstellen, um seine innere Mechanik zu verstehen. Die (Re-)Konstruktion wird zum wertvollen Filter zwischen Vision und Emotionen. Dass er weiß, wie man bewegte Bilder herstellt und anschaut, eröffnet dem jugendlichen Sammy andere Möglichkeiten, durch die er zu einem robusteren, aber auch zerbrechlicheren Mann heranreift. Die bewegten Bilder – das beteuert Spielberg seit eh und je – zeigen uns das, was wir nicht sehen wollen, und bringen uns dorthin, wo wir nicht sein möchten. Angst und Sehnsucht. Weil die Bilder des Kinos in der zweidimensionalen Leinwand eingesperrt sind, können sie uns die Illusion geben, dass sie weit weg sind, aber wie von Zauberhand bahnen sie sich immer ihren Weg zu unserem gemütlichen Kinosessel. Und wenn sie es in unseren Sessel geschafft haben, müssen wir mit ihnen zurechtkommen.

Michelle Williams als Mitzi Schildkraut-Fabelman

Der Traum vom Kino beginnt als Alptraum – als Vision, die wir mit weit aufgerissenen Augen anstarren; und genau das tun wir auch seit geraumer Zeit: mit weit geöffneten Augen starren wir auf das, was in Europas Osten passiert. Die Heftigkeit, mit der das Kino in das Leben des kleinen Sammy hereinbricht, hat etwas Gewaltsames und Unwiderrufliches. Der Junge versucht mit allen Mitteln, die gigantischen Bilder zu bändigen. Dass er den Mechanismus dahinter versteht und herausfindet, wie man die Illusion des Echten erzeugt, hilft ihm allerdings nicht, wenn es darum geht, sich vor den Schlägen zu schützen, die er im realen Leben einstecken muss und die das Kino auch noch verherrlicht. Für Spielberg ist das Kino ein Augenöffner. Es ermöglicht den Blick durch die Patina der Dinge und unter die Oberfläche eines Lebens und macht das Erwachsenwerden zum Melodrama. Aus dem Gefühl, dass die Welt uns gehört, entsteht die Erkenntnis, dass sich im Leben nicht alles reparieren lässt. Dass die binäre Sprache der Informatik und der Filmschnitt nicht dasselbe sind wie die Sprache der Empfindungen. Die Welt hat keine Logik, und Filmemachen heißt nicht nur, eine Technik zu beherrschen, sondern auch, von diesem absurden und unzusammenhängenden Stoff namens Welt Zeugnis abzulegen. Alle, die Kino machen, wissen: Genau wie der Tierbändiger, der den Kopf ins Maul des Löwen steckt, liefern sie sich schutzlos aus.


Carlo Chatrian