2023 | Berlinale Series
Zurück in die Zukunft
Nach Jahren des unbegrenzten Wachstums sieht die Leiterin der Berlinale Series, Julia Fidel, den Serienmarkt nun in eine Phase der Konsolidierung eintreten. Im Interview spricht sie außerdem über die extreme Bandbreite des 2023er-Programms, Auffälligkeiten im diesjährigen Sichtungsprozess und den neuen Berlinale Series Award.
Das Programm 2023 liest sich auf den ersten Blick wie ein Spiegel des globalen Serienschaffens. Mit Indien, China und Rumänien sind gleich drei neue Produktionsländer in diesem Jahr dabei. Das Programm scheint sich von High-End bis Low-Budget weltweit aufzufächern. Stimmt dieser Eindruck?
Das kann man so sagen, ja. Wir richten unseren Blick in diesem Jahr verstärkt nach Osten, nachdem wir in den vergangenen zwei Jahren tolle lateinamerikanische Beiträge hatten. Eine Beobachtung, die sich aufdrängt, ist die Verbindung von Streamern mit Ländern, die uns noch nicht so oft in der Auswahl begegnet sind - hier werden die enormen Investments der vergangenen Jahre in die lokalen Märkte mit internationalem Anspruch deutlich.
Wir sind, was die Serienproduktion international angeht, definitiv an einem Wendepunkt. Nach Jahren schwindelerregender Produktionssteigerungen und immer neuen Verkündungen von exklusiven Deals und neuen Originals wird für dieses Jahr erstmals kein neuer Produktionsrekord erwartet. Im Programm zeigt sich das einerseits an nun fertiggestellten internationalen Koproduktionen, die nur durch den Mut zu großen Budgets und auch den Anspruch, international auf hohem Niveau zu erzählen, entstehen konnten. Gleichzeitig sehen wir Serien, die auf sehr guten Ideen basieren und durch Talent-Initiativen entdeckt wurden, die kein großes Budget brauchen, um überzeugend zu erzählen.
Sind die neuen Produktionsländer auch ein Zeichen für immer stärkere lokale Märkte?
Es ist definitiv ein Zeichen dafür, dass eine gute Serie überall entstehen kann. Wir sehen, dass es bei den Streamern die Erkenntnis gibt, dass neuen Produktionsstätten keine internationale Maske übergestülpt werden muss. Stattdessen ist es erfolgversprechend, lokale Serien mit wiedererkennbaren, genuin länderspezifischen Geschichten zu suchen, diese mit einem professionellen Blick von außen realistisch einzuschätzen und dann mit lokalen Expert*innen und dem Wissen von innen umzusetzen.
Welche inhaltlichen und ästhetischen Tendenzen sind Euch im Sichtungsprozess aufgefallen?
Trends waren in jedem Fall Serien mit meist düsteren Zukunftsszenarien, die Klimakrise ist ein wichtiges Thema und weibliche Twists in bekannten Genres. Außerdem haben wir viele Mysteryplots gesehen und übersinnliche Phänomene. Und in den Gestaltungsmitteln… junge Menschen, die zielstrebig auf die Kamera zulaufen, mit dem Blick die vierte Wand durchbrechen und dabei Ansagen an die ältere Generation machen; außerdem Establishing shots unterlegt mit abstraktem Frauengesang - so „Aahs“ in verschiedenen Tonlagen, choral-klerikal. Dialekte werden auch gerne genommen. Es fallen einem schon überraschende Dinge auf, wenn man in sehr kurzer Zeit sehr viele Serien schaut.
Ihr eröffnet mit der mit Spannung erwarteten Serie Der Schwarm, die schon im Vorfeld mit Superlativen überschüttet wurde. Der gleichnamige Bestseller ist von 2004, die vielen gescheiterten Versuche, ihn umzusetzen, Legende. Der Autor Frank Schätzing spricht in Interviews von einer „Modernisierung“ des Romans für die Adaption. Welchen Schwerpunkt legt die Serie?
Die Serie zeigt einen multinationalen Cast in mehreren Handlungssträngen und wechselnden Sprachen, das fanden wir sehr ansprechend. Die Bilder auf und unter dem Wasser haben eine intensive Bedrohlichkeit und bauen viel Spannung auf - wir sind sehr gespannt auf die finale Version der vielen visuellen Effekte auf der großen Leinwand. Und natürlich hat sich die Welt, in der wir jetzt die Serie sehen, seit dem Erscheinen des Buches extrem verändert und wir nehmen die geschilderten Bedrohungen ganz anders wahr, von der sich wie eine Pandemie verbreitenden Krankheit bis zu einer Natur, die zurückzuschlagen scheint.
Letztes Jahr hast Du in einem Interview mit „list23“ gesagt: „I think there is a little less experimentation but a lot of really strong, classic storytelling. Creators are building themselves a certain framework, say within detective or hospital shows, and then pushing those boundaries“. Ist der Mut zum Experiment auch außerhalb erprobter Formate wieder gewachsen?
Ich würde sagen, dass dieser Trend sich weiter bestätigt. Es braucht schon eine gute IP, etablierte Namen auf der Talent-Seite oder ein Genre, das gewisse Sicherheiten bietet, um die finanziellen Mittel zusammenzubringen, ein Marathonprojekt wie eine Serie voranzubringen. Es wurde schon wahnsinnig viel produziert in den letzten Jahren, und die Experimente, die große Streamer gewagt haben, um sich zu etablieren, waren ja auch nicht alle nachhaltig. Natürlich ist es schade zu sehen, wie die Zahl wirklich verwegener Ideen und gewagter Projekte wieder abnimmt. Andererseits ist es eine sehr nachvollziehbare Entwicklung, und wenn sich im Wunsch nach mehr Sicherheit und Planbarkeit der Fokus stärker auf die Projektentwicklung richtet und dabei großartige Serien entstehen, ist das auch gut für alle. Es gibt gerade wirklich extrem gute Serien.
The Good Mothers nimmt sich eines Themas mit einer langen Tradition in der Filmgeschichte an: der Mafia. Wie variiert die Serie das Motiv?
Bei The Good Mothers wird sehr intelligent mit unseren Bildern und Erwartungen gespielt, es geht um die Frauen der Mafia, die erstmals von einer Ermittlerin ins Visier genommen werden. Es ist eine sehr erfreuliche Entwicklung, dass wir uns von dieser etwas langweiligen „strong female lead“-trope, die ein paar Jahre lang ständig propagiert wurde, gelöst haben und jetzt auch hier differenzierte, vielschichtige Frauenfiguren treffen - so wie wir sie auch außerhalb der Leinwand erleben.
Bildet Agent einen emotionalen Kontrapunkt im Programm?
Einen Comic Relief, ja. Es ist ja keine Zeit, in der wir zutiefst zufrieden durch die News Alerts scrollen, und wenn wir die aberwitzigen Situationen erleben, in die sich Esben Smeds Musik- und Filmagent bringt und die noch abenteuerlichen Pläne, um wieder aus seiner Lage herauszukommen, ist das schon sehr lustig. Auch die Selbstironie, mit der bekannte Schauspieler wie Nikolaj Coster-Waldau und Ulrich Thomsen ihr eigenes öffentliches Bild spielen, macht sehr viel Spaß.
Spy/Master spielt im Geheimagentenmilieu der späten 1970er Jahre, Why Try to Change Me Now im China der 1990er Jahre. Wie wichtig sind solche Rückgriffe in die Vergangenheit für unser Verständnis der Gegenwart?
Mit jeder Veränderung unseres Erlebnishorizonts verändert sich auch unser Blick auf die Vergangenheit. Beide Serien werfen einen Blick in die Vergangenheit, der für uns heute relevant ist. Die „Codes“, die Lesarten, bringen wir mit ins Kino - die Aktualität schaffen wir selbst.
Coming-of-Age ist eines der zentralen Berlinale-Themen in diesem Jahr. Mit Bad Behaviour habt Ihr einen klassischen CoA-Stoff im Programm. Wie gestalten die Serienmacher*innen das Genre aus?
Mich hat beeindruckt, wie mühelos Corrie Chen, die Regisseurin - ein ehemaliges Berlinale-Talent übrigens -, in die Gefühlswelt dieser Teenagerinnen eintaucht. Die Erzählperspektive ist maximal subjektiv, wir bleiben immer in Jos Erleben, was eine Stärke der Serie ist. Diese spezifisch weibliche Form der nonverbalen Kommunikation, die Herabwürdigung durch plötzliches Ignorieren, die undefinierbaren aufflammenden Gefühle - all das wird für uns als Zuschauer*innen intensiv spürbar.
Mit dem Berlinale Series Award bekommt Ihr 2023 einen eigenen Preis, den ersten Serienpreis bei einem A-Festival. Eine längst überfällige Entwicklung?
Wir freuen uns enorm über diesen Preis. Und er wird so schön aussehen, wir sind sehr begeistert von den Entwürfen der Berliner Firma SCHEIN. Die Pläne gab es länger, durch die Pandemie wurden sie ein wenig verschoben. Aber nun ist er da. Natürlich sind wir sehr gespannt auf die Entscheidung der Jury - über die wir uns ganz besonders freuen in diesem ersten Jahr. Es gibt ein Wiedersehen mit dem wunderbaren André Holland, der 2020 mit The Eddy bei uns war, und den beiden großartigen Role Models Danna Stern und Mette Heeno, die ich bisher nur über Zoom kennenlernen durfte, als wir 2021 über Snöänglar (Snow Angels) sprachen (Video). Nun können wir sie endlich persönlich in Berlin begrüßen.
In der Pressemitteilung schreibt Ihr, dass Zukunftsentwürfe ein zentrales Thema der diesjährigen Auswahl sind. Blicken die Serien im Programm eher optimistisch oder in Formen der Dystopie in die Zukunft?
Diese Einschätzung überlasse ich gerne den geneigten Zuschauer*innen - ich bin gespannt auf deren Eindrücke, von denen wir hoffentlich viel miterleben. Am Freitagvormittag (24.2. um 11:30 im Manifesto Potsdamer Platz) werden wir deshalb auch einen Serien-Wrap einberufen, bei dem wir mit Serienexpert*innen - Sven Miehe, Max Mauff, Hanna Huge, den Serienstudentinnen Anna Böhm und Nathalie Klein und dem Publikum über das Programm sprechen wollen. Dazu lade ich alle ganz herzlich ein!