Panorama
17.01.2024
Brücken zwischen erlebter Realität und filmischen Möglichkeitsräumen
Die Welt um uns herum ist geprägt von globalen Krisen, Kriegen und gesellschaftlicher Spaltung. Kommunikation und Sprache verknappen und verrohen. Die Filmschaffenden des diesjährigen Panorama-Programms setzen mit ihren Geschichten ein hörbares und vor allem sichtbares Zeichen gegen diese Entwicklungen. „Im Kern geht es um die Vermittlung von Erfahrungen und Lebensrealitäten, von Geschichte, Verständnis und Empathie. Ob rigoros schlicht und unverstellt oder innovativ in Bild, Struktur und über alle Gewerke hinweg: Die Filme im diesjährigen Programm artikulieren vielstimmig ihre Haltung und bauen Brücken zwischen erlebter Realität und filmischen Möglichkeitsräumen, die uns inspirieren, den Blick nach vorne zu richten“, kommentiert Sektionsleiter Michael Stütz.
In Crossing, der das Programm eröffnet, reist ein ungleiches Duo vom georgischen Batumi ins urban-verschlungene Istanbul, um dort die junge trans* Frau Tekla zu suchen. In seinem vierten Spielfilm entwirft Levan Akin eine Topografie von Orten queerer Fürsorge und Solidarität und schafft es, Realität und Imagination auf bewegende Art und Weise zu verbinden. In Les gens d’à côté (My New Friends) des französischen Meisters André Téchiné, mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle, riskieren gegensätzliche Nachbar*innen wichtige Schritte aufeinander zu.
Das US-Independent-Kino ist in diesem Jahr prominent vertreten: Pulitzer- Preis-Gewinnerin Annie Baker kommt mit ihrem gefeierten Erstling Janet Planet, einer innigen Mutter-Tochter-Geschichte, nach Berlin. Nathan Silver wirft in Between the Temples den jüdischen Kantor Ben in eine heftige Glaubens- und Existenzkrise. Jason Schwartzman, in der Rolle des Kantors, und Carol Kane führen das Ensemble des Films mit chaotischem Humor und einer großen Portion Menschlichkeit an.
Auch der deutsche Spielfilm beweist 2024 seine Stärke im Panorama. Thomas Arslan zeigt mit Verbrannte Erde (Scorched Earth) den zweiten Teil seiner Trojan-Trilogie und kehrt mit Stil und Verve zum Genrekino zurück. Michael Fetter Nathansky begeistert mit seinem zweiten Spielfilm Alle die Du bist (Every You Every Me). Ein weiser, sensibler Film über die Fragilität von Liebes- und Arbeitsbeziehungen im Alltag einer Fabrikarbeiterin.
Zwei aktivistische Arbeiten aus dem Nahen Osten sind wichtige humanistische und politische Dokumente unserer Zeit: No Other Land von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor führt uns nach Masafer Yatta im Westjordanland. Im Zentrum steht die palästinensisch-israelische Allianz der Co-Regisseure Adra und Abraham. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Vertreibung der palästinensischen Zivilbevölkerung durch das israelische Militär. Der Film ist ein Plädoyer für Menschenrechte und Selbstbestimmung in der Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft. In Diaries from Lebanon begleitet Myriam El Hajj drei Generationen in ihrem Bestreben, das nationale Narrativ des Libanon neu zu schreiben. Das dringliche Porträt eines krisengebeutelten Landes und dessen couragierter Bevölkerung vermittelt die Wut gegen eine korrupte und verkrustete politische Elite.
Auch Zentralafrika ist in diesem Jahr mit zwei eindrücklichen dokumentarischen Werken vertreten. In À quand l'Afrique? (Which Way Africa?) von David-Pierre Fila begibt sich der arrivierte Regisseur auf eine philosophisch-meditative Reise durch die Zentralafrikanische Republik. In dieser persönlichen Ode an Land und Leute reflektiert Fila Eindrücke von Kunst, Kultur und Kolonialgeschichte über die Grenzen des Landes hinweg. In Tongo Saa (Rising Up at Night) von Nelson Makengo sind Teile von Kinshasa nach Überflutungen monatelang von Stromausfällen geplagt. Ein audiovisuell überwältigender Film, der sein Narrativ nicht nur über das gesprochene Wort, sondern durch gesungene Lieder auch als Oral History entfaltet.
Der feministisch-filmische Raum zwischen Erinnerung, Aufarbeitung und einem möglichen Neubeginn wird in den folgenden drei Filmen ausgelotet: In Sayyareye dozdide shodeye man (My Stolen Planet) kreiert die Regisseurin Sharifi Farahnaz anhand von Found Footage und selbst gedrehtem Material eine alternative Realität ihres Heimatlandes Iran. In A Bit of a Stranger von Svitlana Lishchynska werden vier Generationen ukrainischer Frauen porträtiert. Die Regisseurin nutzt eigene Homevideos, um Fragen nach individueller und nationaler Identität, Zugehörigkeit und politischer Haltung inmitten des russischen Angriffskrieges auszuloten. In Memorias de un cuerpo que arde (Memories of a Burning Body) von Antonella Sudasassi Furniss blicken drei Frauen auf ihre Leben zurück. Von Traumata in der Mitte des Lebens hin zu später Befreiung und selbstbestimmter Lust verschmelzen diese Geschichten bildlich zu einer Erzählung: stellvertretend für Generationen von Frauen weltweit.
Zwei der filmisch wohl eindringlichsten Beiträge, die sich ebenso mit Erinnerung und Aufarbeitung beschäftigen, sind in diesem Jahr Afterwar und Cu Li Không Bao Giờ Khóc (Cu Li Never Cries). In enger, langjähriger Zusammenarbeit mit ihrem Cast wirft Birgitte Stærmose in Afterwar einen Blick auf den Kosovo, der vom vergangenen Krieg noch immer im Schwitzkasten gehalten wird – ein stilistisch eindrücklicher Hybridfilm zwischen harter Realität und performativer Selbstbestimmung. Das Debüt Cu Li Không Bao Giờ Khóc (Cu Li Never Cries) folgt der leisen Heldin, die gerade mit einem Zwerglori im Gepäck aus Deutschland nach Hanoi zurückgekehrt ist und nun zwischen den Geistern ihrer Vergangenheit ungewiss in die Zukunft blickt.
Auch zwei dokumentarische Künstler*innenporträts mit Berlin-Bezug wissen zu begeistern: Baldiga – Entsichertes Herz (Baldiga – Unlocked Heart) von Markus Stein über den 1993 an Aids verstorbenen Fotografen Jürgen Baldiga blickt über Tagebucheinträge und Fotografien auf faszinierende Weise auf die schwule Subkultur West-Berlins der 1980er- und frühen 1990er-Jahre zurück. Zugleich macht Baldigas schonungslose Chronik seiner Infektion die Krankheit auch im Jahr 2024 schmerzhaft erfahrbar. Auch eine andere internationale queerfeministische Ikone wird gefeiert: Mit Interviews, großartigem Archivmaterial und Aufnahmen ihrer letzten Welttournee, schaffen Philipp Fussenegger und Judy Landkammer mit Teaches of Peaches ein elektrisierendes Porträt der kanadischen Musikerin und Performance-Künstlerin Peaches.
Queere Sexualität als Befreiung der Klein- und Großbürger*innen ist auch bei zwei weiteren Filmen Thema: In Bruce LaBruces The Visitor, einem provokanten Remake des Pasolini-Klassikers Teorema (1968), sowie in Dag Johan Haugeruds humoristischen Spielfilm Sex werden gesellschaftliche Standards lustvoll auseinandergenommen.
Das Panorama-Programm 2024 umfasst 31 Titel, darunter eine Serie und 25 Weltpremieren.
Presseabteilung
17. Januar 2024