2025 | Historische Berlinale-Debüts

Grbavica - Jasmila Žbanić 2006

Die bosnische Laiendarstellerin Luna Mijović und die serbische Schauspielerin Mirjana Karanović brillieren in Jasmila Žbanićs Spielfilmdebüt Grbavica, das auf der 56. Berlinale den Festivaljahrgang prägt

Überraschungen sorgen seit jeher für die besondere Dynamik von Filmfestivals. Als 2006 eine bislang unbekannte Regisseurin aus Bosnien und Herzegowina für ihr Spielfilmdebüt den Goldenen Bären erhält, spiegelt sich genau dies wider: Jasmila Žbanićs Grbavica prägt den Festivaljahrgang, erhält zudem den Preis der Ökumenischen Jury sowie den Friedensfilmpreis und wird Oscar-Kandidat als Bester Fremdsprachiger Film. Der Berlinale-Triumph macht die 31-Jährige zu einer bedeutenden politischen Filmemacherin und ruft zugleich extreme Reaktionen durch radikale Serb*innen hervor. Grbavica handelt von der systematischen Vergewaltigung bosnischer Frauen im Bosnienkrieg und der Aufarbeitung von Kriegstraumata. Der Erfolg des Films sorgt damals für mehr Sichtbarkeit und Unterstützung für die 20.000 Vergewaltigungsopfer dieses Krieges.

Berlinale 2006: Die Internationale Jury zeichnet Jasmila Žbanić für ihr Spielfilmdebüt Grbavica mit dem Hauptpreis des Festivals aus, dem Goldenen Bären für den Besten Film

Jasmila Žbanić erzählt die Geschichte von Esma, die ein gutes, aber auch angespanntes Verhältnis zu ihrer zwölfjährigen Tochter Sara hat. Esma lebt in Grbavica, einem Stadtteil Sarajevos. Sie will Sara regelmäßig weismachen, dass der verstorbene Vater ein Kriegsheld sei. Doch eines Tages beginnt Sara, an dieser Erzählung zu zweifeln – bis sie ihre Mutter schließlich wütend zur Rede stellt. Die zutiefst schmerzhafte Wahrheit kommt ans Tageslicht: Nachdem Esma in einem Kriegslager vergewaltigt wurde, wurde sie gezwungen, Sara auf die Welt zu bringen. Der erste Schritt, dieses Trauma zu benennen und damit vielleicht zu bewältigen, ist getan.

Durch den Dokumentarfilm geprägt, erzählt Jasmila Žbanić die bewegende Geschichte von Esma und Sara subtil und geradlinig, unterstützt von der ruhigen, unaufdringlichen Bildgestaltung von Kamerafrau Christine A. Maier. Die Regisseurin gibt ihren herausragenden Protagonistinnen, der serbischen Schauspielerin Mirjana Karanović und der bosnischen Laiendarstellerin Luna Mijović, viel Raum, sich die emotional extremen Pole ihrer Figuren zwischen Liebe und tiefer Scham zu erspielen – und die monströse Wahrheit Schicht für Schicht freizulegen.

Nach ihrem Regiestudium in ihrer Geburtsstadt Sarajevo dreht Jasmila Žbanić anfangs Kurz- und Dokumentarfilme. Nach Grbavica etabliert sie sich weiter als politisch-soziale Filmemacherin. Dem Dokumentarfilm bleibt sie mit Jedan dan u Sarajevu (One Day in Sarajevo, 2014) und U zraku (Airborne, 2019) treu. Nach der Sommerkomödie Love Island (2014) erschafft sie mit Quo Vadis, Aida? (2020) einen weiteren Meilenstein des politischen Gegenwartskinos. Der in den Wettbewerb von Venedig eingeladene Spielfilm gräbt erneut tief in der jungen Geschichte ihrer Heimat und erzählt vom Massaker von Srebrenica, bei dem 8.000 Zivilist*innen ermordet und in Massengräbern verscharrt wurden. Der Film gewinnt zahlreiche Preise, darunter den Europäischen Filmpreis 2021 (Bester Film, Beste Regie, Beste Darstellerin).

62. Berlinale, 2012: Die beiden Regisseurin Angelina Jolie und Jasmila Žbanić im Gespräch nach der Vorführung von In the Land of Blood and Honey

Nach 2006 kehrt Jasmila Žbanić immer wieder zur Berlinale zurück. 2007 noch Gast bei Berlinale Talents, ist sie 2010 mit Na putu, einem Film über den Einfluss fundamentalistischen Glaubens auf Europa, erneut im Wettbewerb. 2012 diskutiert sie im Haus der Berliner Festspiele mit Angelina Jolie. Thematisch sind sich die beiden Frauen sehr nah: Die US-amerikanische Regisseurin erzählt mit In the Land of Blood and Honey von den Gräueln des jugoslawischen Bürgerkriegs der 1990er-Jahre. Žbanićs Kurzfilm Crvene gumene čizme, der 2019 bei den Berlinale Shorts außer Konkurrenz gezeigt wird, porträtiert wiederum eine Mutter, die nach den sterblichen Überresten ihrer zwei Kinder sucht, die während des Bosnienkrieges von der serbischen Armee entführt und getötet wurden. Ein vorerst letztes Mal kehrt Žbanić 2021 – als Mitglied der Internationalen Jury – zur Berlinale zurück.

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