Der Fall Alfred Bauer
Nahezu 70 Jahre nach der Gründung der Internationalen Filmfestspiele Berlin wurde im Januar 2020 einer breiten Öffentlichkeit bekannt, dass die Rolle des ersten Direktors der Berlinale, Alfred Bauer, in der Reichsfilmintendanz, der zentralen Institution zur Steuerung der Filmproduktion im NS-Regime, wo er als Filmreferent arbeitete, bedeutender war als bekannt und Alfred Bauer seine Aktivitäten nach 1945 systematisch verschleiert hatte. Die Quellen sprechen in Bezug auf Bauer von einem „eifrigen SA-Mann“ (Hof, S. 6).
Das Festival beauftragte daraufhin das unabhängige Institut für Zeitgeschichte (IfZ), Bauers Position in der NS-Filmbürokratie näher zu untersuchen. Und tatsächlich kam der Autor der Vorstudie über ein historisches Porträt von Dr. Alfred Bauer (1911-1986), PD Dr. Tobias Hof, zu dem Schluss, dass Bauer nicht, wie nach dem Zweiten Weltkrieg von ihm behauptet, ein Gegner des NS-Regimes gewesen war, sondern „dass [er] einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Funktionieren des deutschen Filmwesens innerhalb der NS-Diktatur und damit zur Stabilisierung und Legitimierung der NS-Herrschaft leistete“ (Hof, S. 43).
Während seines Entnazifizierungsverfahrens von 1945–47 verschleierte Bauer dann durch bewusste Falschaussagen, Halbwahrheiten und Behauptungen die Bedeutsamkeit seiner Rolle während der Nazizeit.
2022 erschien im Auftrag der Berlinale und wiederum in Zusammenarbeit mit dem IfZ die erweiterte Studie „Schaufenster im Kalten Krieg“ von Wolf-Rüdiger Knoll und Andreas Malycha, die Bauers Wirken nach 1945 in den Blick nimmt. Bauer erscheint im Rückblick weniger als überzeugter Nationalsozialist denn als Opportunist und Karrierist, der seine Karten geschickt auszuspielen wusste. Sein Fall verschwimmt ein Stück weit im Grau der Nachkriegszeit, in der Fragen nach Schuld und Unschuld, Gut und Böse oft widersprüchlichere Antworten hervorbrachten als im Blick zurück. Bauer konnte an viele seiner Kontakte aus der Zeit vor 1945, die wie er bald eine Heimat im Nachkriegsdeutschland fanden, nahtlos anknüpfen. Dieses Netzwerk bescherte und sicherte seinen Aufstieg und seine Position als gewichtiger Vertreter deutscher Kulturpolitik in der frühen Bundesrepublik. Wenn auch von Beginn an international ausgerichtet, so ist die Berlinale ein deutsches Festival, begründet in einem Land, das sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch tief in die Schuld und die Gräueltaten des „Dritten Reiches“ verstrickt war. Bauers Fall betrifft nicht nur die Berlinale, sondern den Umgang Deutschlands mit der eigenen Geschichte – und der eigenen Filmgeschichte im Besonderen. Der Übergang vom NS-Regime zur neugegründeten Bundesrepublik war bei weitem kein Neustart, die Zöpfe ins „Dritte Reich“ wurden nicht klar abgeschnitten.
Vor allem im Hinblick auf das Personalinventar einer „neuen“ Filmindustrie waren die Übergänge oft fließend. Wolf-Rüdiger Knoll und Andreas Malycha zeigen dies anhand dreier Werdegänge in Bauers nahem beruflichem Umfeld eindrücklich auf. Oswald Cammann etwa wurde zunächst für den Posten des ersten Leiters der Berlinale gehandelt, war aber nach einem Artikel in der „American Jewish World“ von 1951, in dem seine Tätigkeit während der NS-Zeit – an der Seite Bauers in der Reichsfilmkammer - aufgedeckt wurde, nicht mehr tragbar. In seiner Funktion als Geschäftsführer der Berliner Filmtheater blieb er aber Teil des Gründungsausschusses der Internationalen Filmfestspiele Berlin und auch in den Folgejahren ein wichtiger Akteur für das Festival. Wie verworren und trübe die Situation zu dieser Zeit war, zeigt sich daran, dass „nach dem erzwungenen Verzicht Cammanns [...] Theodor Baensch, der Leiter des Referats Film der Senatsverwaltung für Volksbildung, [sich] für Alfred Bauer als Chef der Festspiele ein[setzte]. Sein Plädoyer für Bauer ist umso erstaunlicher, als Baensch ganz im Gegensatz zu Bauer im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv war“ (Knoll / Malycha, S. 7). Wer Freund wurde, wer Feind blieb, definierte sich nach dem Ende des „Dritten Reichs“ neu und es wurden Allianzen eingegangen, die so wenige Jahre zuvor nicht denkbar gewesen waren.
Bauers unbestritten starker Einfluss auf die Filmauswahl lässt indes keine Anzeichen für eine Kontinuität nationalsozialistischer Gesinnung erkennen. Er beharrte zeitlebens auf dem Narrativ, das er sich für die Zeit nach 1945 zurechtgelegt hatte: „Während seiner Arbeit für die Alliierten vermittelte er seine Auffassung vom Film als apolitisches Medium und behauptete, dass auch in der NS-Zeit unpolitische Filme produziert worden seien. In diesem Sinne könne es auch keine politischen Vorbehalte für seine Tätigkeit im Nachkriegsdeutschland geben. Für sich reklamierte Bauer eine unpolitische Einstellung zum Film“ (Knoll / Malycha, S. 7). Auch hier bleibt Bauer eine unscharfe, widersprüchliche Figur, schließlich prosperierte unter seiner Ägide mit der Berlinale ein „Schaufenster der freien Welt“ in der Frontstadt des Kalten Krieges Berlin. Jahrelang kämpfte er darum, auch Filme und Regisseure aus dem Ostblock zeigen zu können. Ob aus echter Überzeugung oder um im Wettstreit mit den großen Festivals in Cannes und Venedig, die diese Werke zeigten, nicht ins Hintertreffen zu geraten, lässt sich wie vieles andere nicht abschließend klären.
Ein einziges Mal – und dies schon im Gründungsjahr 1951 – versuchte er mit Karl Ritter einen Regisseur im Programm zu platzieren, der durch seine NS-Kriegs- und Propagandafilme bekannt geworden war. Die Senatsverwaltung lehnte den Film ab und setzte sich damit durch. „Dieser Vorgang war in dieser Form in der Geschichte der Berlinale jedoch einzigartig und kann nicht als Beleg dafür herangezogen werden, dass Bauer generell politisch belasteten Regisseuren des NS-Regimes eine Bühne zu geben versuchte“ (Knoll / Malycha, S. 15).
Und schließlich ging es im Übergang von einem System (Diktatur) in ein anderes (Demokratie) nicht nur um Personen. Auch geistige Landschaften ließen sich mit der Niederlage Deutschlands nicht einfach auslöschen: „In den 1950er Jahren war Bauer aber sicherlich ebenso wie die bundesdeutschen Ministerialbeamten der Abteilung Film des Innenministeriums bemüht, den „guten deutschen Film“ zu fördern. In dieser Vorstellung, die sich an Erwartungen um Sitte, Anstand und Moral drehten, fanden sich durchaus Ähnlichkeiten zur Filmerziehung im „Dritten Reich“ wieder. Sie entsprachen damit einem gängigen Zeitgeist und zeigen eine gewisse moralische Kontinuität in der Filmbewertung, die über das Kriegsende hinaus andauerte“ (Knoll / Malycha, S. 16).
Alfred Bauer war von 1951 bis 1976 Direktor der Berlinale und damit einer der wesentlichen Akteure beim Aufbau des Festivals. Bis 2019 wurde ein nach ihm benannter Preis vergeben, seit 1987 zunächst unregelmäßig, ab 1996 jährlich und ab 2013 als Silberner Bär Alfred-Bauer-Preis. Aufgrund der Erkenntnisse über seine Biografie firmierte die Auszeichnung ab 2020 nicht mehr unter seinem Namen. Stattdessen wurde 2020 zunächst ein Silberner Bär – 70. Berlinale vergeben und ab 2021 der Silberne Bär – Preis der Jury.
Der Fall Bauer zeigt beispielhaft, dass die Historie des Festivals schon immer mit der Geschichte verknüpft war und ist. Als „Schaufenster der freien Welt“ in einer geteilten Stadt flossen die ideologischen Grabenkämpfe einer entstehenden neuen Weltordnung – derjenigen des Kalten Krieges – unmittelbar in den Gründungsakt des Festivals mit ein. Der Fall Bauer liegt nun wie ein Schatten über den ersten Jahrzehnten der Berlinale. Er ist Teil der Evolution des Festivals und steht stellvertretend für die gesellschaftlichen Kämpfe, deren Spiegel und Protagonistin die Berlinale in ihrer Vergangenheit war. Von der langen Loslösung aus den Ruinen des „Dritten Reiches“ über die harten ideologischen Auseinandersetzungen der 1960er und 70er Jahre, das vermeintliche Ende des Ost-West-Konflikts bis in die heutige Zeit. In dieser Rückschau erscheint die Geschichte der Berlinale wie ein Lehrstück hin zu einer offeneren, politisch bewussten Gesellschaft. Die persönliche Biografie Bauers ist Teil der DNA des Festivals ebenso wie etwa der Status als eines der global wichtigsten Publikumsfestivals, die politische Ausrichtung des Programms oder der TEDDY AWARD, der bedeutendste queere Filmpreis der Welt. Ein verantwortungsvoller wie transparenter Umgang mit allen Seiten und Kapiteln der bewegten Festivalhistorie ist ein wichtiger Bestandteil des notwendigen Aufarbeitungsprozesses. Die Berlinale lebte niemals in einem Zustand der Reinheit, in dem sich Politik und Gesellschaft auf der einen und die Kunst auf der anderen Seite hätten trennen lassen, wie Bauer in seinen Versuchen, sich rein zu waschen, behauptete: „Letztlich basierte Bauers Verteidigungsstrategie auf einem einfachen und ebenso wirksamen Kernargument, das sich wie ein roter Faden durch die Verhandlungen und Entlastungsdokumente zog: Seine Beschäftigung in der Filmbranche sei lediglich seiner uneingeschränkten Liebe zum Film entsprungen und deshalb auch stets unpolitisch gewesen“ (Hof, S. 40). Der Fall Bauer ist ein Mahnruf, sich immer wieder neu mit dem eigenen Erbe und den verheerenden, auch heute noch und brennend aktuellen Folgen auseinanderzusetzen und die eigene Geschichte neu zu entdecken und zu bewerten.
Berlinale, Herbst 2022
Quellen:
Zusammenfassung „Vorstudie über ein historisches Porträt von Dr. Alfred Bauer (1911-1986)“, verfasst von PD Dr. Tobias Hof im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin. (Download, PDF (514 KB))
Zusammenfassung „Schaufenster im Kalten Krieg. Neue Forschungen zur Geschichte der Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) in der Ära Alfred Bauer (1951-1976)“, Verfasst von Dr. Wolf-Rüdiger Knoll und Dr. Andreas Malycha im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin und der Internationalen Filmfestspiele Berlin. (Download, PDF (777 KB))