1984
34. Internationale Filmfestspiele Berlin
17. – 28. Februar 1984
„Die unterschiedliche Auffassung von dem, was Kino zu sein hat, spaltet ein Land in zwei Lager. Der Ausgang dieses Duells könnte für den deutschen Film gefährlich werden, verfügte er nicht über ein unersetzliches, nicht zu veräußerndes Kapital: sein Talent. (…) Mut ist notwendig, ein Projekt, einen Film zu Ende zu bringen, konsequente Filme zu drehen, kompromisslose Bilder zu finden.“ – Moritz de Hadeln geht im Vorwort des Festivalkatalogs auf den heimischen Streit um das neue Filmförderungsgesetz ein.)
Politische Einmischungen werden zur Last
Die Querelen zwischen der Festivalleitung und dem Bundesinnenministerium setzten sich fort. Die Debatte um das demnächst in Kraft tretende neue Filmförderungsgesetz war in vollem Gange. Auf Seiten der Filmemacher befürchtete man eine systematische Benachteiligung des künstlerischen und politischen Films. Tatsächlich waren einige der interessantesten deutschen Filme auf der Berlinale ohne Förderung realisiert worden. Herbert Achternbuschs Das Gespenst, der 1983 im Wettbewerb lief, war von der FSK offenbar auf Intervention des Bundesinnenministeriums sogar die Freigabe verweigert worden.
Die politischen Einmischungen wurden als ernste Gefahr für die Zukunft des deutschen Films und seine künstlerische Freiheit interpretiert und Berlinale-Leiter Moritz de Hadeln thematisierte diesen Konflikt auch im Vorwort des Festivalkatalogs. Mit Achternbuschs Wanderkrebs (im Wettbewerb) und Rüdiger Neumanns Meridian oder Theater vor dem Regen (im Forum) hatte die Berlinale auch 1984 wieder zwei Filme im Programm, die Zimmermanns Behörde in geschäftige Unruhe versetzte. Kam einem der „Ministerpräsident“ im Wanderkrebs nicht bekannt vor?
Verhindern konnte man die Filme nicht. Im Falle von Meridian hatte es jedoch bereits Zensurvorwürfe gegeben. Dem Film war die letzte Förderrate verweigert worden mit dem Argument, der fertige Film habe nicht die Fassung, die dem Förderausschuss vorgelegen hatte. Der einzige Unterschied war jedoch der Vorspann, der die Thematik des Films mit Ronald Reagans atomarer Aufrüstungspolitik in Zusammenhang brachte. Die Verweigerung der Mittel war klar politisch motiviert. Wolfram Schütte sah in der „Frankfurter Rundschau“ den deutschen Autorenfilm „in allergrößter Not“ und stellte ihn – frei nach Alexander Kluge - vor die Alternative, entweder „seine künstlerische Kreativität, Phantasie, gesellschaftliche Erfahrung“ zu mobilisieren oder in Zimmermanns „Mittelweg“ den Tod zu finden.
Ein starker internationaler Jahrgang
Allgemein wurde die Berlinale 1984 als ein starker Jahrgang wahrgenommen. Der Wettbewerb hatte mit Ettore Scolas Le Bal | Der Ball einen gelungenen Auftakt. No habra mas penas ni olivido | Schmutziger Kleinkrieg von Héctor Oliveira, Peter Lilienthals Das Autogramm, Samuel Fullers Les Voleurs de la Nuit und die Kafka-Adaption Klassenverhältnisse von Jean-Marie Straub und Daniélle Huillet waren Filme, die die Kritiker liebten und die dem Programm Profil gaben.
Das amerikanische Kino präsentierte sich erneut sehr heterogen: Während Terms of Endearment | Zeit der Zärtlichkeit von James L. Brooks als glattes Hollywood-Produkt abgehakt wurde, stand John Cassavetes mit Love Streams einmal mehr für die andere, die kompromisslose und unbestechliche Seite des amerikanischen Filmschaffens. Der Goldene Bär für Love Streams wurde zwar gegensätzlich kommentiert, aber auch wenn der Film nicht auf Anhieb die Kraft von anderen Cassavetes-Filmen entwickelt, so wurde er als „ein radikales, verzweifeltes, exzentrisches und doch auch manchmal tröstliches Werk“ (Ulrich Greiner in der „Zeit“) gefeiert, der in gewisser Weise die Quintessenz eines beispiellosen Lebenswerks enthält. Es sollte John Cassavetes’ letzter Film bleiben.
Das Forum macht Musik - die Info-Schau zieht die Register
Im Forum gab es in diesem Jahr einen Schwerpunkt mit Musikfilmen: Filmen über Musik - etwa mehrere Filme über den argentinischen Tango und seine Verbindung zur politischen Geschichte Argentiniens - aber auch Filme, die musikalisch komponiert waren, wie der kanadische Au Pays de Zom von Gilles Groulx oder Sally Potters The Gold Diggers. Ulrike Ottingers Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse und Ula Stöckls Der Schlaf der Vernunft waren die meist beachteten bundesdeutsche Filme im Forum. Zudem war eine Hommage-Reihe dem „Kleinen Fernsehspiel des ZDF“ gewidmet, einer Redaktion, die zu den stetigen Förderern und Entdeckern junger Talente des deutschen Films zählte.
Die Info-Schau präsentierte sich in diesem Jahr mit mehreren separaten Programmreihen: Neben einer kleinen Werkschau „Neue Österreichische Filme“ gab es eine Reihe „US-Non-Majors“ und ein 20 Filme umfassendes „Mittelmeer-Panorama“. Filme aus Italien, Israel, Ägypten, Spanien, Jugoslawien und anderen mediterranen Anrainerstaaten setzten hier erstmals einen geografischen Schwerpunkt, der von der Presse weitgehend positiv aufgenommen wurde. In der auf mehrere Schwerpunkte verteilten Programmstruktur der Info-Schau zeichnete sich bereits das Profil dessen ab, was dann wenig später Panorama heißen sollte.
Reaganomics im Kinderfilmfest?
Das Festival 1984 verlief weitgehend ohne die Querelen der Vorjahre. Im Kinderfilmfest allerdings sorgte der Eröffnungsfilm Kidco | Die Jungen Profis für wütende Kritiken. Nachdem die Schauspielerin Liv Ullmann, die in diesem Jahr auch der Internationalen Jury vorsaß, das Kinderfilmfest eröffnet hatte, lief ein Film, der vielen Beobachtern allzu forsch einen „american way of life for children“ propagierte. „Ein Ärgernis“ befanden Christel und Hans Strobel in der „KinderJugendfilmKorrespondenz“. Selbst das Amüsement der kleinen Zuschauer sei angesichts dieser „Glorifizierung kapitalistischer Wertvorstellungen“ kein haltbares Argument für Kidco. Die Reagan-Ära hatte das Kinderfilmfest erreicht.
Das Jahr 1984 markierte einen Höhepunkt im Umfang des Berlinale-Programms. 556 Filme liefen allein in den Sektionen Wettbewerb, Kinderfilmfest, Info-Schau, der Reihe Neues Deutsches Kino und in der Filmmesse. Hinzu kam das umfangreiche Programm des Forums. Der Versuch, der Masse durch Ausrufung von Reihen und Sonderprogramm eine Struktur zu geben, rief eher den Unmut der Kommentatoren hervor. Man drohte den Überblick zu verlieren und die Menge an Filmen generierte bei vielen mehr Frust als Lust. In einer bissigen Kritik in der „Süddeutschen Zeitung“ warf die erfahrene Festivalbeobachterin Karena Niehoff symbolisch das Handtuch. echt tu matsch hieß ein Film im Kinderfilmfest dieses Jahres: Das traf es, meinten viele.