1959
9. Internationale Filmfestspiele Berlin
26. Juni – 07. Juli 1959
„Chabrol ist mit Baudelaire im Bunde, mit Flaubert, Balzac und Ionesco.“ – Karena Niehoff im „Tagesspiegel“.
Rekordjahr
1959 verzeichnet die Berlinale nicht nur einen Rekord an Fachbesuchern und prominenten Gästen, mit Filmen aus insgesamt 53 Ländern ist das Programm auch so international wie nie zuvor. Das ist nicht selbstverständlich, denn die Stadt steckt nach Chruschtschows Aufkündigung des Vier-Mächte-Status noch mitten in der „zweiten Berlinkrise“. Das große Interesse an der Berlinale wird als Zeichen dafür gewertet, dass sich das Festival ein Stück weit emanzipiert hat vom politischen Schicksal der „Frontstadt“. Immer noch fehlen zwar osteuropäische Beiträge, es haben sich jedoch trotz der politischen Krise informelle Kontakte zur DEFA stabilisiert; Arbeitsbesuche in Ost-Berlin und in den Studios von Babelsberg sind bei den Berlinale-Fachbesuchern zur Regel geworden.
Beginn einer Ära: Die Berlinale und die Nouvelle Vague
Claude Chabrols Les Cousins | Schrei wenn du kannst ist 1959 der erste Film der Nouvelle Vague auf der Berlinale und die Internationale Jury zeichnet ihn mit dem Goldenen Bären aus. Dies ist der Beginn einer Ära, denn Claude Chabrol, François Truffaut, Jean-Luc Godard und Agnès Varda sind in den Folgejahren regelmäßig mit ihren Filmen zu Gast auf der Berlinale und werden zu Wegbereitern eines intensiven Interesses an allem, was neue Wege geht, also auch an dem britischen New Cinema und dem italienischen Cinema Nuovo und später dann auch am Neuen Deutschen Film.
Wesentlich verantwortlich für die frühe Repräsentanz der Nouvelle Vague in Berlin war Alfred Bauers Sympathie für diese Filme, vor allem aber die Fürsprache seines französischen Kontakt- und Gewährsmanns, des Filmjournalisten Alexandre Alexandre. Er machte Bauer auf Truffauts Les quatre cent coups | Sie küssten und sie schlugen ihn aufmerksam, der kurz zuvor in Cannes für Furore gesorgt hatte, und schlug schließlich Les Cousins für den Wettbewerb vor. Mit neuen Filmen von Fons Rademakers und Akira Kurosawa war das Festival inhaltlich stark besetzt. Obendrein gehörte in diesem Jahr auch ein deutscher Film zu den „heißen Filmen“ des Festivals: Helmut Käutners Der Rest ist Schweigen galt als eine reife Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und wurde von vielen Kommentatoren für einen Hauptpreis favorisiert.
Wunsch nach mehr Wahl- (und Reise-) freiheit
Trotz allem wurde im Anschluss darüber diskutiert, wie die Filmauswahl noch verbessert werden könnte. Die guten Erfahrungen mit Alexandre weckten bei Alfred Bauer den Wunsch, in Zukunft auch in anderen Ländern verstärkt mit Korrespondenten zu arbeiten, um Filme frühzeitig sichten und das Auswahlverfahren beeinflussen zu können. Solche Begehrlichkeiten scheiterten zunächst jedoch vor allem an Geldproblemen, denn Reisen waren teuer, und Bauer hatte immer noch einen schweren Stand, gegenüber dem Berliner Senat die Höhe des bestehenden Etats zu rechtfertigen.