1976

26. Internationale Filmfestspiele Berlin

25. Juni – 06. Juli 1976

„’So nette kleine Häuser und so nette kleine Straßen. Merkwürdig, dass bei manchen etwas nicht stimmt’.“ – Brigitte Jermias zitiert in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ die kritische Selbstreflexion des american way of life im zeitgenössischen US-Kino.

Presseempfang im Hotel Gehrhus: Wolf Donner, Frau Zanzig und Valeri Lednev aus Moskau

Der Wettbewerb der Berlinale 1976 war so international besetzt wie selten zuvor: Filme aus Japan, der VR China und dem Iran, aus Mexiko, Brasilien und Venezuela, aus Italien, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und den meisten Ostblockstaaten unterstrichen den Anspruch der Berlinale, das internationale Filmschaffen in all seinen Facetten zu repräsentieren.

Kritische Selbstreflexion des US-Kinos

Auch der starke Auftritt des US-amerikanischen Kinos wurde da, anders als in früheren Jahren, nicht als hegemoniale Gefahr interpretiert. Zu komplex, zu selbstkritisch waren die US-Produktionen dieses Jahres. Nach der Öffnung der Berlinale für Filme aus den Ostblockstaaten war man nun gespannt auf das amerikanische Kino, das sich in den Berlinale-Jahrgängen der Vorjahre auffallend zurückgehalten hatte. Es war das Jubiläumsjahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, das Jahr 1 nach Watergate und der Vietnamkrieg ging in seine Endphase. Die USA waren in aller Munde und die profilierteste Kritik kam dabei oft von den amerikanischen Intellektuellen und Künstlern selbst.

In einer Fest-Matinee im Zoo-Palast wurde George Stevens jr.’s Dokumentation America at the Movies gezeigt, eine Recherche nach dem Amerikabild im amerikanischen Kino. Während dieser Film sich zum Legendenschatz des „American Way of Life“ eher affirmativ verhielt, waren Robert Altmans Buffalo Bill and the Indian’s or Sitting Bull’s History Lesson, Alan J. Pakulas All the President’s Men und im Forum Alvin H. Goldsteins The Unquiet Death of Julius and Ethel Rosenberg und Charlie Chaplins A King in New York kompromisslose Abrechnungen mit amerikanischen Mythen und Selbstbildern. Der Genozid an der nordamerikanischen Urbevölkerung, die Watergate-Affäre und die McCarthy-Ära stehen auch heute noch für die keineswegs homogene Identität eines Landes, das sich andererseits zu Recht damit rühmt, die Wiege der modernen Demokratie zu sein.

Auch in späteren Jahren sollte die Berlinale immer wieder eine willkommene Plattform für amerikanische Mythen und deren Dekonstruktion werden. Schon bei der Preisverleihung 1976 wurde dieser Gegensatz deutlich: Robert Altman nutzte die Auszeichnung durch den Goldenen Bären für einen Protest gegen seinen Produzenten Dino de Laurentiis. Dieser hatte der Berlinale zwar die längere, von Altman autorisierte Fassung von Buffalo Bill… zur Verfügung gestellt, für den Verleih jedoch eine gekürzte Fassung vorgesehen, mit der der Regisseur nicht einverstanden war. Die Jury bezog Partei, indem sie den Goldenen Bären ausdrücklich „nur für die in Berlin vorgeführte ungekürzte Originalfassung“ verlieh.

Szene aus Ai no Corrida, um den es einen handfesten Zensur-Skandal gab

Der „Fall Ai No Corrida“ löst eine Zensurdebatte aus

Der Skandalfilm des Festivals lief jedoch im Forum und auch da ging es um Zensur und künstlerische Freiheit. Nagisa Oshimas Meisterwerk Ai no Corrida | Im Reich der Sinne wurde während der Premiere aus dem Projektionsraum des Kinos heraus von der Staatsanwaltschaft konfisziert. Die Geschichte eines einander sexuell verfallenen Paares, bei der sich auch noch der Mann von der Frau verstümmeln ließ, hatte bereits im Vorfeld der Berlinale reißerische Polemiken bei den Profiteuren der Boulevardpresse provoziert.

Der Konfiszierung folgte eine Sichtung des inkriminierten Films im Amtsgericht Tiergarten und daraufhin das endgültige Aufführverbot. Da die Konfiszierung auf der Grundlage des Strafgesetzbuches („öffentliche Vorführung eines pornografischen Films“) erfolgt war, stand die Forumsleitung nun also unter Strafanklage. Erst im November wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. Dazwischen lagen unzählige Protestschreiben und Solidaritätsbekundungen von Filmschaffenden aus aller Welt, Schlichtungsversuche des Berliner Senats, anwaltliche Auslegungsscharmützel – und: eine heimliche Vorführung des Films in der Akademie der Künste mit einer eilig organisierten Ersatzkopie unter einem Tarntitel.

Der Vorgang war einmalig in der Berlinale-Geschichte, löste eine Zensurdebatte aus und drohte dem Ansehen des Festivals und der Stadt zu schaden. Überhaupt hatte das Forum keinen leichten Stand in diesem Jahr: Schon der Kurzfilm „Filmfestspiele Berlin“, der eigens produziert worden war und als Selbstdarstellung des Festivals gezeigt wurde, hatte Ulrich Gregors Protest auf den Plan gerufen: Der Film enthalte „Bild- und Tonmontagen, die eine gezielte Diffamierung eines Teils der Berliner Filmfestspiele, nämlich des Internationalen Forum des Jungen Films darstellen.“ Die interne Harmonie der Vorjahre war noch labil.