1979
29. Internationale Filmfestspiele Berlin
20. Februar – 03. März 1979
„Unabhängig davon, wie wir uns zu den inhaltlichen und ästhetischen Positionen des Films stellen, halten wir ihn für eine Herausforderung zur Diskussion, der sich ein internationales Festival wie das unsere keinesfalls entziehen darf.“ – Der Auswahlausschuss über den Film The Deer Hunter, dessentwegen sich die sozialistischen Staaten aus dem Festival zurückzogen.
Robert De Niro in Michael Ciminos The Deer Hunter
Die Berlinale 1979 war die letzte unter der Leitung Wolf Donners – und wohl seine schwerste. Von sowjetischer Seite waren bereits frühzeitig Proteste laut geworden gegen den amerikanischen Film The Deer Hunter, ein hartes und zynisches Vietnamkriegsdrama von Michael Cimino, das in den Augen seiner Kritiker in zahlreichen Szenen das vietnamesische Volk beleidigte. Die sozialistischen Staaten fühlten sich zum solidarischen Protest im Namen des „heroischen Volk(es) von Vietnam“ verpflichtet. Sie protestierten gegen die Aufführung des Films und verwiesen darauf, dass er gegen die Statuten des Festivals verstoße, weil er keineswegs geeignet sei, „zum besseren gegenseitigen Verstehen zwischen den Völkern“ beizutragen. Auch von anderer Seite wurde The Deer Hunter ein zumindest latenter Rassismus vorgeworfen. Es gab aber auch positive Rezensionen: Hans C. Blumenberg lobte in der „Zeit“ gerade die „unpolitische“ und daher authentische Sicht des Films, den er als „düster und grandios“ bezeichnete.
Der Auswahlausschuss, an den sich die Kritik richtete, verbat sich in einer öffentlichen Erklärung jegliche Einmischung in die Programmgestaltung. „Unabhängig davon, wie wir uns zu den inhaltlichen und ästhetischen Positionen des Films stellen, halten wir ihn für eine Herausforderung zur Diskussion, der sich ein internationales Festival wie das unsere keinesfalls entziehen darf.“ Dies war ein Bekenntnis zum Publikum und zur aufklärerischen Kraft des Mediums Film, das auch in späteren Konflikten die Argumentationslinie des Festivals blieb. Auch Wolf Donner stellte sich hinter die Entscheidung, den Film zu zeigen: „Die Berlinale ist frei und tolerant genug, sich auch mit harten Filmen und kontroversen Themen auseinanderzusetzen.“ Aus gutem Grund schlössen die Statuen die Möglichkeit einer Zensur aus.
Rückzug der sozialistischen Länder vom Festival
Die sozialistischen Länder zogen daraufhin ihre Filme und Delegierten vom Festival zurück. Ein herber Schlag für die Berlinale, der jedoch nicht unerwartet kam, denn die sowjetische Delegation hatte ihre Position frühzeitig klar gemacht. Es ging ums Prinzip, den einen war es teuer, den anderen eine Last. Auch die Delegationen der Teilnehmer der „Dritten Welt“ unterstützten den Protest gegen The Deer Hunter, äußerten Verständnis für die Boykottentscheidung, zogen jedoch nicht ihre Filme ab. Und noch einer reiste frühzeitig ab: Michael Cimino, der sich von der Festivalleitung nicht entschieden genug unterstützt fühlte. Er beharrte darauf, dass sein Film keine politischen Tendenzen habe, und sein Produzent Michael Williams-Jones erinnerte sich Jahre später, dass er selbst damals geglaubt habe, nie mehr in diese „klaustrophobische, eingeengte Stadt“ zurückzukehren. Er hat seine Meinung später geändert und es sich nicht nehmen lassen, auf den Trümmern des Eisernen Vorhangs zu tanzen, der ihm so hart mitgespielt hatte.
„Festival der leisen Filme“
Anders als 1970 bei dem Eklat um Michael Verhoevens o.k. – auch ein „Vietnamkriegsfilm“ – konnte das Festival diesmal fortgesetzt werden. Von einem Festival der leisen Filme war später die Rede. Der Goldene Bär an Peter Lilienthals David wurde als stummer Kommentar zu The Deer Hunter gewertet: Sanfter Humanismus statt zynischem Pessimismus. Im Forum präsentierte sich der neue spanische Film und es gab neues Kino aus Indien, unabhängig produzierte Filme, abseits des Kommerzkinos von Bollywood. Von Mrinal Sen wurden allein drei Filme gezeigt, ein weiterer im Wettbewerb, wo darüber hinaus Fassbinders Die Ehe der Maria Braun zu den Highlights gehörte und Hanna Schygulla, sowie „dem gesamten Team“ Silberne Bären einbrachte. Jeanne Moreaus zweite Regiearbeit L’Adolescente | Mädchenjahre, Youssef Chahine Askndrie…Lie? | Aleksandria…Wohin? sowie zwei Filme von Paul Schrader, Blue Collar und Hardcore, waren weitere Titel in einem trotz des Aderlasses noch immer starken Wettbewerb.
Hart traf der Boykott aber das Kinderfilmfest, wo mit sieben zurückgezogenen Filmen fast das halbe Programm betroffen war. Unter den verbliebenen Filmen wurde Wolfgang Beckers Vorstadtkrokodile am positivsten aufgenommen. Wo an diesem Film jedoch gerade der unverkrampfte Umgang mit Behinderung und Ausgrenzung gelobt wurde, stieß das übereifrige pädagogische Rahmenprogramm des Kinderfilmfestes auf Kritik in den Medien. Noch war das Kinderfilmfest selbst in den Kinderschuhen.
Fliegender Wechsel an der Spitze
Kurz vor der Berlinale 1979 vollzog sich an der Spitze des Festivals ein fliegender Wechsel. Wolf Donner, der mit viel Elan erst zwei Jahre zuvor das Amt übernommen hatte, nahm nun ein Angebot des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ an und ging als Kulturchef nach Hamburg. Donners Entscheidung kam überraschend und enttäuschte viele Beobachter. Als er seinen Rücktritt bekannt gab, zog er noch einmal positiv Bilanz seiner kurzen Amtszeit: die Terminverlegung in den Februar hatte sich bewährt, das Festival und sein Publikum waren jünger geworden, die Filmmesse war ausgebaut worden, die Programmstruktur war differenzierter geworden, die Organisation effizienter und die Berlinale hatte sich ein klares Profil gegenüber Cannes gegeben. Keiner widersprach, aber gerade darin lag ja die bittere Pille: Es gab kaum einen, der nicht gerne mit Donner weitergemacht hätte. Zudem war vielen noch das langwierige Verfahren in Erinnerung, das Donners Berufung vorausgegangen war, und man befürchtete einen erneuten Kandidatenfindungsmarathon.
Diesmal jedoch ging das Kuratorium die Aufgabe anders an. Anstatt Gutachter und eine Findungskommission dazwischen zu schalten, ging man direkt auf geeignete Kandidaten zu und hielt dadurch die Gerüchteküche auf Sparflamme. Ganz verzichten wollte die Presse jedoch nicht auf Spekulationen. In der Diskussion waren zahlreiche Publizisten, darunter - wie schon drei Jahre zuvor - Kurt Habernoll und Joe Hembus sowie Florian Hopf, für den seine guten Kontakte nach Frankreich in die Waagschale geworfen wurden. Als aussichtsreichster und von vielen favorisierter Kandidat galt jedoch wieder einmal Ulrich Gregor, der Leiter des Forums. An seiner Kompetenz gab es nicht den geringsten Zweifel. International genossen nur wenige Film-Persönlichkeiten ein größeres Ansehen als er. Hinzukam, dass auch die eher konservativen Beobachter den nun 46jährigen Gregor mittlerweile als satisfaktionsfähig einstuften: „Sogar Frack würde ihm stehen“, meinte die "FAZ". Wolfram Schütte schrieb in der "Frankfurter Rundschau", ein Berlinale-Leiter Ulrich Gregor müsse „mehr und schmerzhafte Kompromisse eingehen als in seinem bisherigen Tätigkeitsbereich.“ Gregor sei zu fragen, ob er dafür „die Traute habe“. Ob er gefragt wurde, muss dahin gestellt bleiben, auch seine Antwort ist nicht verbrieft.
Forum wird offiziell aufgewertet
Nachdem elf Kandidaten zum Gespräch eingeladen worden waren – nicht alle jedoch gekommen waren – entschied sich das Kuratorium für den amtierenden Leiter des Filmfestivals Locarno, Moritz de Hadeln, als neuen Berlinalechef. Kaum war die Wahl gefallen, wurde sie fast einhellig beglückwünscht. Ulrich Gregor wurde jedoch nicht übergangen. In Verbindung mit der Berufung des neuen Leiters gab das Kuratorium auch eine Änderung der Festivalstruktur bekannt, die eine Aufwertung des Forums und damit der Arbeit Gregors bedeutete: Das „inhaltliche Spannungsverhältnis“ zwischen Wettbewerb, Info-Schau und Forum wurde positiv hervorgehoben und als zur Identität des Festivals gehörig eingestuft. Forum und Wettbewerb sollten fortan unter jeweils eigenverantwortlicher Leitung stehen, wobei der Status des Forums abgesichert wurde durch eine langfristige Zusage an die „Freunde der Deutschen Kinemathek“, das Forum im Auftrag der Berliner Festspiele GmbH durchzuführen. Damit ließ sich leben und so war es gelungen, kurz vor Beginn der Berlinale 1979 die Personalfrage abzuschließen.