1997
47. Internationale Filmfestspiele Berlin
13. – 24. Februar 1997
„Ich glaube nicht, dass im vergangenen Jahrhundert irgendeine andere Stadt in der Welt so oft von Gut und Böse zu ihrem Spielplatz erkoren wurde wie Berlin.“ – Milos Forman, der für seinen Film The People vs. Larry Flint mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.
Umzugspläne mit vielen offenen Fragen
Im Anschluss an die Berlinale 1996 war rasch die Idee konkret geworden, das Festival an den Potsdamer Platz zu verlagern. Im Juni 1996 lag der Berlinale ein konkretes Angebot der debis Immobilienmanagement GmbH vor. Nach Prüfung kam man jedoch zu einem zurückhaltenden Ergebnis. Angesichts des unfertigen Zustands vieler Gebäude fiel es schwer, dem neuen Standort Festivaltauglichkeit zu bescheinigen.
Das Angebot an Büroräumen erschien nicht ausreichend, ein Filmlager war nirgends vorgesehen, ein ausreichend großer Standort für die Filmmesse nicht in Sicht und wo sollte das Pressezentrum mit seiner anspruchsvollen technischen Infrastruktur Platz finden? Auch war zweifelhaft, ob die im Bau befindlichen Multiplexe Cinemaxx und Cinestar dem Festival genügend Kapazitäten böten, zumal letzteres zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen Betreiber hatte. Last but not least erschien das Musical Theater der Stella-Gruppe zunächst als keine ideale Lösung für ein Premierenkino des Wettbewerbs. Zwar bot es imposante Platzkapazitäten, aber wäre die Leinwand dann auch groß genug und würde die Akustik den Anforderungen gerecht, die ja im Kino ganz andere sind als im Theater?
De Hadeln wieder einmal in der Schusslinie
Angesichts der vielen ungeklärten Fragen, war es verständlich, dass sich Moritz de Hadeln einen Umzug zu diesem Zeitpunkt nur unter Vorbehalten vorstellen konnte und zunächst für den alten Standort votierte. Sein vorsichtiges „Nein“ wurde ihm von seinen Kritikern sogleich als „Blockadehaltung“ ausgelegt. De Hadeln galt fortan als „Umzugsgegner“. Zu allem Übel fand auch diese teils polemisch geführte Diskussion vor dem Hintergrund erneuter Etatkürzungen statt.
Obendrein liefen wieder einmal Ulrich Gregors und Moritz de Hadelns Verträge aus und auch die Politiker hatten sich inzwischen offenbar die Ansicht zueigen gemacht, de Hadeln stünde einer Erneuerung des Festivals im Wege. Aus dem Haus des Kultursenators war der Satz zu vernehmen: „Die Filmfestspiele gehen weiter. Ob dies allerdings mit der jetzigen personellen Konstellation verbunden sein muss, ist fraglich.“ So unverblümt war de Hadelns Posten noch nie zur Disposition gestellt worden. Vielleicht waren die Kritiker mit ihm zu lange zu harsch umgegangen, jedenfalls schien der Festivalleiter durch die regelmäßige Infragestellung seiner Person zermürbt und erwog erstmals seinen vorzeitigen Rücktritt.
Ein schlechter Rat zur falschen Zeit
Der Ärger hatte sogar schon früher angefangen. Kaum war die Berlinale 1996 vorbei, ein guter Jahrgang in den Augen der meisten Beobachter, sorgte ein Diskussionspapier von Berlins Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Peter Radunski, für Aufsehen. Der Senator machte sich darin ungewöhnlich konkrete Gedanken zur Umstrukturierung des Festivals. Deutlich war der politische Wunsch, das Festival an den Potsdamer Platz zu holen. Vor allem aber die Anregung, Wettbewerb und Forum zeitlich zu trennen und gleichsam aus einem Festival zwei zu machen, hieß Salz in unverheilte Wunden zu streuen. Radunski argumentierte mit effektiverem Management und besucherfreundlichem Ablauf, verkannte jedoch völlig, dass zur unverwechselbaren Identität der Berlinale gerade die Vielfalt, die Reibung und auch die Widersprüche gehörten.
Radunskis Vorschläge kamen zur Unzeit und fanden wenig Anklang, sorgten jedoch für erhebliche Aufregung. Bald sah sich der Berliner-Festspiele-Chef Ulrich Eckhardt veranlasst, davor zu warnen, „eine Krise herbeizureden, die es nicht gibt.“ Sofern es tatsächlich Grund gegeben hatte, die Abstimmung der Sektionen untereinander kritisch zu prüfen, wurde dies durch Radunskis unglücklichen Einwurf eher verhindert, als begünstigt.
Kurz vor Beginn der Berlinale 1997 trafen sich schließlich die Verantwortlichen der Filmfestspiele mit Vertretern des debis-Konzerns, dem ein Großteil der Immobilien am Potsdamer Platz gehörte, um über den Umzug der Berlinale an den Potsdamer Platz zu beraten. Der Investor zeigte sich in den strittigen Punkten kompromissbereit, so dass Moritz de Hadeln sich am Eröffnungstag des Festivals schließlich für den Umzug aussprach. Noch am selben Tag gab das Kuratorium grünes Licht für die Verlängerung von de Hadelns Vertrag. Das war das vorläufige Ende eines ermüdenden Pokers, in dem inhaltliche Diskussionen, Berliner Befindlichkeiten, Vertragsverhandlungen, logistische Erwägungen und ökonomische Argumente bisweilen planlos zusammen geworfen wurden.
Als die 47. Internationalen Filmfestspiele begannen, war die Stimmung gedrückt. Der berechtigte Optimismus des Vorjahres war einer spürbaren Erschöpfung und Ungewissheit gewichen. Auch die Bemühungen um einzelne Wettbewerbsfilme waren frustrierend verlaufen. Die italienische Auswahl, die der Berlinale bei einer Sichtung in Rom angeboten worden war, war enttäuschend und wurde insgeheim als Affront aufgefasst. Der einzige Film, den man dann einlud, Marco Bellocchios Kleist-Verfilmung Principe di Homburg, wurde in letzter Minute zu Gunsten von Cannes zurückgezogen. Ähnlich erging es der Berlinale mit David Lynchs Lost Highway.
Im besten Alter: Das Kinderfilmfest wird 20
Nicht so wetterfühlig für die Festivalpolitik ist das Kinderfilmfest mit seinem spontanen und begeisterungsfähigen Publikum. Die Sektion wurde in diesem Jahr zwanzig und ließ sich von den Querelen der „Großen“ nicht die Party vermiesen. Zum Jubiläum wurde eine „Special Choice“ von 10 Filmen zusammengestellt, die das Kinderfilmfest geprägt hatten. Aber auch das aktuelle Programm, das unter dem Motto „Verbündete für einen Tag – Freundschaften bis ans Lebensende“ stand, konnte sich sehen lassen. Der Überraschungshit war Ian Munes The Whole of the Moon | Der ganze Mond. Die kanadisch-neuseeländische Ko-Produktion erzählt von der Freundschaft zweier krebskranker Kinder und wurde von Susanne Nieder im „Tagesspiegel“ zu den „herausragenden Beiträgen“ dieser Berlinale gezählt.
Ein gut sortierter Wettbewerb
Im Wettbewerb dominierte das US-Kino mit The People vs. Larry Flint | Larry Flint – Die nackte Wahrheit von Milos Forman, Get on the Bus | Auf engstem Raum von Spike Lee, William Shakespeare’s Romeo & Juliet von Baz Luhrmann, Anthony Minghellas The English Patient | Der Englische Patient und Tim Burtons Mars Attacks!. Literaturverfilmung, Satire, Biopic mit Tiefgang, Melodram mit Starbesetzung, sozial engagiertes Erzählkino – da war schon fast alles dabei, was einen guten Wettbewerb auszeichnete.
Wer sich damit nicht zufrieden gab, dem wurden durchaus Alternativen geboten. Allen voran Tsai Ming-Liangs ebenso gewaltiger wie stiller Film He Liu | Der Fluss. Oder Kira Muratovas Tri Istorii | Drei Geschichten, ein Film gegen den Strom der Zeit, verspielt, rätselhaft, voller Anspielungen und ähnlich wie Der Fluss ein Erlebnis, auf das sich der Betrachter einlassen muss – für den Preis, reicher und auf merkwürdige Art ernüchtert wieder heraus zu kommen.
Bille Augusts Smilla’s Sense of Snow | Fräulein Smillas Gespür für Schnee setzte einen auffallenden Akzent in einem mit Literaturverfilmungen ohnehin stark gesättigten Jahrgang. Wolfgang Beckers Das Leben ist eine Baustelle galt als der seit Jahren beste deutsche Beitrag im Wettbewerb. Ein Geheimtipp blieb dagegen Joseph Pitchadzes Leneged Enayim Maaraviot | Mit den Augen des Westens, ein elegischer Film über die Reise eines Exil-Israeli zurück in seine Vergangenheit.
Brassed Off!, Clubbed to Death: Highlights in Panorama und Forum
Kevin Allens Twin Town schließlich war ein junger britischer Beitrag im Wettbewerb, eine schwarzhumorige Tour de Force, die allerdings in der Publikumsgunst noch getoppt wurde von Mark Hermans Brassed Off, dem unumstrittenen Hit im Panorama, der zum Trendsetter für eine ganze Reihe britischer Komödien wurde.
Im Forum bildeten geografische Häufungen mehr oder weniger repräsentative Schwerpunkte: acht Filme aus Brasilien, drei koreanische Filme, vier japanische, die sich mit Filmen aus China, Japan, Korea und vor allem Hongkong in Wettbewerb und Panorama eher lose zu einem festivalübergreifenden Asien-Schwerpunkt verbanden. Dafür waren Afrika und die arabischen Länder auf dieser Berlinale unterrepräsentiert, was als Hinweis auf informelle Probleme des Festivals gewertet wurde. Herausragend im Forum dieses Jahres waren Dokumentarfilme, etwa Ulrike Ottingers Exil Shanghai, Johan van der Keukens Amsterdam Global Village und Hervé Le Roux’ Essayfilm Reprise. Als Glücksgriff erwies sich Yolande Zaubermans pulsierendes Techno-Märchen Clubbed to Death – ein Film, wie man sich in diesem Jahr mehrere gewünscht hätte.