2000
50. Internationale Filmfestspiele Berlin
09. – 20. Februar 2000
„Im Kern besteht ein Festival aus drei Elementen: seinem Programm, seiner Organisation und seiner Atmosphäre. Und alle drei sind, wenn ich so sagen darf, auf dem besten Wege.“ – Moritz de Hadeln in der Vorschau auf die Jubiläums-Berlinale 2000.
In diesem Jahr mussten gleich zwei Meilensteine geschultert werden: das 50. Jubiläum und der Umzug des Festivals zum Potsdamer Platz. Zum Festivalbeginn resümmierten die internationalen Kommentatoren die Geschichte der Berlinale mit mal mehr, mal weniger Wohlwollen. Schon nach wenigen Tagen jedoch wurde „der Glanz früherer Tage“ gegen die Tristesse des neuen Standorts ausgespielt. Kaum ein Beobachter konnte dabei der Versuchung widerstehen, sein Unbehagen am neuen Festivalstandort mit der Kritik an den Filmen zu verbinden. Kühle, Weltfremdheit, Mittelmäßigkeit – in der Architektur wie bei den Filmen, hieß es. „Irgendwie passt die Weltentrücktheit des Wettbewerbs zum neuen Ort“, schrieb Katja Nicodemus in der „taz“ und klang damit noch kompromissbereiter als die meisten ihrer Kollegen, deren prosaische Klagen bisweilen so beflügelt waren, dass sie dem neuen Standort schon wieder zur Ehre gereichten.
Als die 50. Berlinale im neuen Berlinale Palast eröffnet wurde, hatte das rundum „Neue“ für die Festivalmitarbeiter bereits eine lange und anstrengende Vorgeschichte, während es für die meisten Gäste ein Sprung ins kalte Wasser war. Dem Umzug war zunächst ein zähes Ringen um das Pro und Contra und nach der Entscheidung dann eine dreijährige Vorbereitungszeit vorausgegangen. In „50 Jahre Berlinale“ erinnerte sich Moritz de Hadeln an ein Gespräch mit Berlins Kultursenator Peter Radunski. „Weder Sie noch ich können verhindern, dass der Umzug stattfindet, konzentrieren wir uns also darauf, dass alles gut geht“, habe dieser ihm damals anvertraut.
Ein Sprung ins kalte Wasser - und das im Februar
Zwar waren einige der früheren Festspielkinos - wie der Zoo Palast, das Delphi und das Royal - noch in Benutzung, die wichtigsten Spielstätten waren nun aber die beiden Multiplexe Cinemaxx und Cinestar, die noch nicht lange eröffnet hatten und also ihre ganz eigene Feuerprobe zu bestehen hatten. Und der Berlinale Palast ist im „richtigen Leben“ eigentlich ein Musical-Theater und musste seine Eignung als Premierenkino erst noch unter Beweis stellen. Zudem waren fast alle Serviceeinrichtungen der Berlinale – vom Presse-Counter bis zum Kartenverkauf – in diverse Räumlichkeiten am Potsdamer Platz umgezogen, der ja nicht zuletzt auch für Berlin und die Berliner noch Neuland war - eine etwas befremdliche Schöpfung, die da auf der Brache des ehemaligen Grenzlandes entstanden war und der Stadt nun als „künstliches Herz“ fungierte.
Für alle bedeutete die 50. Berlinale also eine große Umstellung. „Ein großartiges, ein neues Festival“ hatte Moritz de Hadeln in „50 Jahre Berlinale“ angekündigt. Insgeheim jedoch war man bereits zufrieden, wenn es ein solides Jahr ohne Skandale und Pannen werden würde.
Die baulichen Gegebenheiten machten die Berlinale 2000 zu einem Festival der kalten Winde, aber auch einem der kurzen Wege. „Die Nostalgiker sind in der Minderheit“, gab der Moritz de Hadeln nach dem Festival zu Protokoll. Deutlich war nun die Erleichterung zu spüren, einen schweren Brocken geschultert und wieder abgelegt zu haben, ohne ihn zu zerbrechen. Tatsächlich zeigte sich die neue Location den Ansprüchen bereits im Eröffnungsjahr gewachsen: die Fachbesucher lobten die professionelle Technik und Infrastruktur und für nicht wenige bedeutete der Umzug an einen wenig charmanten, aber funktionalen Ort wie den Potsdamer Platz auch eine Konzentration auf das Wesentliche.
Als letzter Spielort war noch das Filmhaus hinzugekommen, in dem sich nun das Filmmuseum Berlin, die Freunde der Deutschen Kinemathek, das Internationale Forum des Jungen Films, die Deutsche Film- und Fernsehakademie und das Kino Arsenal unter einem Dach befanden. Hier wurde besonders augenfällig, dass eine räumliche Konzentration nicht nur von symbolischem Wert ist, sondern auch sinnvolle Synergien schafft. Das neue Arsenal sollte die Hauptspielstätte des Forums werden. Vom alten Arsenal in der Welserstraße nahmen „die Nostalgiker“ wenigstens die Anzeigentafel mit.
Eine neue Corporate Identity
Zum Jubiläum und dem Umzug hatte sich die Berlinale mithilfe einer PR Agentur auch eine konsistentere Corporate Identity gegeben. Äußeres Zeichen dafür waren das neue Logo und der einheitliche Look der Plakate und Publikationen. Es ging jedoch auch um die Kernfragen „wer wir sind und wer wir in Zukunft sein wollen“, wie Moritz de Hadeln den voran gegangenen Brainstorm beschrieb. Für eine 50jährige ein respektables Unterfangen, könnte man meinen, aber tatsächlich hatte sich die Berlinale ja von Jahr zu Jahr stetig verändert. „Freundlich, aber auch etwas chaotisch“, sei das Erscheinungsbild des Festivals immer gewesen, gab de Hadeln offen zu. Der Umzug sei ein äußerer Anlass gewesen, alles einmal zu überdenken und auf eine bewusste Grundlage zu stellen. Teil dieser Corporate Identity war auch ein weniger widersprüchlicher Auftritt der verschiedenen Sektionen und Bereiche. Ohne die Unterschiede zwischen Wettbewerb, Panorama, Kinderfilmfest, Forum, Retrospektive, der Reihe Neue Deutsche Filme und dem European Film Market zu verwischen, sollte sich das Festival stärker als ein organisches Ganzes darstellen.
Der European Film Market hatte im debis-Atrium eine repräsentative neue Location gefunden. Auch das Kinderfilmfest profitierte von dem Umzug: Neues Premierenkino der Sektion wurde der Zoo-Palast mit seinen fast 1000 Sitzplätzen, den das begeisterte Publikum problemlos füllte. „Das Kinderfilmfest hat die Form gefunden, die seiner Außenwirkung entspricht“ kommentierte Monika Osberghaus in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Ein Publikumsliebling war bereits der Eröffnungsfilm Tsatsiki, Morsan och Polisen | Tsatsiki, Mama und der Polizist, eine schwedisch-norwegisch-dänische Koproduktion, die später mit dem Gläsernen Bären der Kinderjury und dem Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks ausgezeichnet wurde. „Ich weiß nicht, wie man einen so guten Film drehen kann. Mir selbst wäre so etwas nie eingefallen“, schrieb die neunjährige Sarah in aller Bescheidenheit auf ihren „Kommentarzettel“.
Französische Filme begeistern im Panorama
Im Panorama waren mit Drôle de Felix | Funny Felix von Jacques Martineau und Olivier Ducastel, Kennedy et Moi | Kennedy und Ich von Sam Karmann und Nationale 7 von Jean-Pierre Sinapi drei französische Komödien die herausragenden Filme. Nationale 7 wurde mit dem Panorama-Publikumspreis ausgezeichnet, Drôle de Felix erhielt den Teddy Award für den besten schwullesbischen Film des Festivals.
An das schwullesbische Engagement der Sektion erinnerte auch eine viel beachtete Filmreihe und Ausstellung zu Ehren des 1994 verstorbenen Manfred Salzgeber, der das Panorama gegründet und ihm sein programmatisches Profil gegeben hatte. Dass es dabei nicht nur um Lifestyle, sondern vor allem um politische Kämpfe ging, daran erinnerte in diesem Jahr auch Rob Epsteins und Jeffrey Friedmans Dokumentarfilm Paragraph 175.
Ein Favoritensieg in einem schwächelnden Wettbewerb
Der Goldene Bär an Paul Thomas Andersons Magnolia wurde von den meisten erwartet, gleichzeitig jedoch als Indiz für die Mittelmäßigkeit der Wettbewerbsauswahl gewertet. Das großartige Ensemble und der gewaltige humanistische Gestus des drei Stunden Epos waren „Totschlagargumente“, denen sich die Jury um Gong Li schon deshalb nicht entziehen konnte, weil es weit und breit keinen würdigeren Gewinner gab. Vor allem der Auftritt des europäischen Kinos - im letzten Jahr noch so stark - erschreckte viele und ließ an der Auswahlpolitik zweifeln. „Was im Wettbewerb fehlte, waren Filme der Almodóvar-, Loach-, Tarantino- oder Dogma-Klasse, die dem lutfleeren Mainstream-Raum ihre Weltsicht, ihr Anliegen, eine Verbindlichkeit entgegensetzen“, kritisierte Katja Nicodemus in der „taz“.
Die Häufung von Preisen für die drei deutschen Filme wurde nachgerade als peinlich empfunden, da weder Wim Wenders’ Million Dollar Hotel, noch Volker Schlöndorffs Die Stille nach dem Schuss, und auch nicht Rudolf Thomes Paradiso – Sieben Tage mit Sieben Frauen wirklich überzeugen konnten. Auch diese Preise schienen eher der Gunst des schwachen Jahrgangs geschuldet. François Ozons Gouttes d’eau sur pierres brulantes | Tropfen auf heiße Steine und Milos Formans Andy Kaufmann-Biopic Man on the Moon gehörten zu den wenigen Filmen, die von den meisten Filmkritikern positiv aufgenommen wurden. Bei der Preisvergabe gingen sie leer aus. Vielen Rezensenten blieben nachher einzelne, zusammenhanglose Filmbilder im Kopf hängen – bei jedem waren es andere und viele kokettierten dabei mit der Überforderung durch den neuen Ort und ein ständig wachsendes Programmangebot.
„Die Berlinale hat ihren Ort – jetzt noch fehlt das Profil“, titelten die „Bremer Nachrichten“ ihren Abschlussbericht und trafen damit eine allgemeine Stimmung unter den Festivalkommentatoren. Der Potsdamer Platz hatte die Feuertaufe bestanden, aber die Filme waren hinter den Erwartungen zurück geblieben. Allerdings fiel die Kritik merklich milder aus als im Vorjahr. Man erkannte die immense Leistung von Moritz de Hadeln und seinen MitarbeiterInnen an, Umzugslogistik und Festivalvorbereitung gleichzeitig gestemmt zu haben.