2007 | Perspektive Deutsches Kino
Sie wissen, was sie tun
Der junge deutsche Film, wie er sich in der Perspektive Deutsches Kino 2007 präsentiert, ist nah dran an seinen Figuren, zeigt Gespür für die Dramen des Alltags und beweist auch formal eine erstaunliche Reife. "Ich finde es bewundernswert, dass diese jungen Filmemacher, auch wenn sie nicht von sich selbst erzählen, wissen, was sie tun", sagt Sektionsleiter Alfred Holighaus über einen Jahrgang, der auch ein Beleg für die gute Arbeit der deutschen Filmhochschulen ist. Ein Gespräch über die Filmauswahl der Perspektive 2007, Filme, die stark sind, weil sie sich für die Realität interessieren. "Für Film gilt, was man auch von guten Fußballern sagt: Sie gehen dort hin, wo es weh tut."
Im diesjährigen Perspektive Programm gibt es einen starken dokumentarischen Zug gleich vier Dokumentarfilme, so viele wie nie zuvor, und auch Erzählfilme mit dokumentarischem Einschlag. Was sagt uns das? ist die deutsche Realität so interessant, oder fasziniert die dokumentarische Form?
Es ist eine Mischung aus beidem. Ich glaube, dass die deutsche Realität tatsächlich total interessant ist. Und das nicht erst seit gestern. Es gab ja auch schon vor zwei Jahren auf der Berlinale eine starke Präsenz von Dokumentarfilmen aus Deutschland. Die Themen für Dokumentarfilme sind also ohne Zweifel da. Es ist aber auch so, dass die dokumentarische Form mittlerweile sowohl für die Filmemacher, als auch für das Publikum interessanter geworden ist. Das macht Dokumentarfilme auch für die Produktionsfirmen attraktiver - und das wiederum spiegelt sich in unserem Programm. Auf der anderen Seite spielt die Realität auch in den Spielfilmen eine große Rolle. Auch das kann man in unserem Programm seit mehreren Jahren beobachten. Aus diesem Interesse heraus ergeben sich dann auch zunehmend diese Mischformen, die du erwähnst.
Soziale Brennpunkt-Themen wie Prekarisierung oder Migration, die von der Politik oft ignoriert oder stigmatisiert werden, werden von den Filmen offen aufgegriffen und jenseits von Klischees bebildert. Sind vom jungen deutschen Film wieder gesellschaftliche und politische Impulse zu erwarten?
Ja, aber eben genau in diesem Sinne. Nicht in dem, dass wir eine Welle von Anti-Globalisierung-Filmen oder Anti-Gesundheitsreform-Filmen haben, sondern dass das Personal der Filme reflektiert, welche sozialen und politischen Probleme die Realität bestimmen. Das kann auch die Gesundheitsreform oder Hartz IV sein, es wird aber nicht unter diesen Begrifflichkeiten thematisiert, sondern wir sind viel näher dran an den akuten täglichen Problemen. Wenn man aufmerksam hinsieht, erkennt man natürlich auch, welche konkreten politischen Implikationen sich daraus ergeben könnten. Ich glaube aber nicht, dass das erste Motiv der Filmemacher ein politisches ist. Das Motiv ist thematisch: Hier wird es ernst, davon wollen wir erzählen.
Hast du das Gefühl, dass die Themen aus dem Nahbereich der Filmemacher kommen, oder ist es eher ein Interesse am Leben der Anderen?
Ich glaube, man muss ehrlicherweise sagen, dass beides eine Rolle spielt. In Zirkus is' nich' von Astrid Schult zum Beispiel wird ein achtjähriger Junge notgedrungen zum "Familienvater". Diese Geschichte hat die Filmemacherin wohl nicht aus ihrem eigenen Leben geholt. Aber wenn man sich umsieht in bestimmten Wohngebieten in Städten, dann fallen einem solche Phänomene eben auf und man beschäftigt sich damit. Dieser Film entstand also mit dem Blick von jemandem, der sich für etwas interessiert.
Das gilt auch beim fiktionalen Film. In Autopiloten erzählt Bastian Günther zum Beispiel von mehreren Menschen, die alle ihre Midlife Crisis durchmachen. Der Regisseur selbst ist jedoch noch weit entfernt von seinem "Midlife". Die künstlerische Reife, die ich an diesem Film bewundere, kommt gerade von dem ernsthaften Interesse, mit dem er sich in seine Figuren hineindenkt: er hat die richtigen Schauspieler gefunden und den richtigen Ton getroffen, diese Geschichte zu erzählen. Ich finde es bewundernswert zu sehen, dass diese jungen Filmemacher, auch wenn sie nicht von sich selbst erzählen, wissen, was sie tun.
Ein anderes Beispiel: Hotel Very Welcome von Sonja Heiss, ein Spielfilm mit starkem dokumentarischem Anliegen. Ein subjektiv erzählter Film über Rucksacktourismus, der einerseits vom Lebensgefühl sehr junger Leute erzählt, andererseits auch ein Kommentar zu einer anderen Art von Globalisierung ist. Ein durchaus politischer Film, aber gleichzeitig eine Reisesatire.
Wenn man sich die Geschichten anschaut, sind es oft Ausnahmesituationen, oder ungewöhnliche, konfliktreiche Konstellationen, von denen die Filme erzählen. Brauchen junge Filmemacher den Kick einer Extremsituation?
Ich glaube es ist sowieso nicht verkehrt, wenn sich das Kino für Extremsituationen interessiert. Das ist spektakulär - und im Kino geht es auch darum, spektakulär zu sein. Natürlich ist das nicht das einzige. Es gibt viele tolle Filme, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie ganz und gar nicht spektakulär sind. Aber im Prinzip gilt für den Film, was man auch von guten Fußballern sagt: Sie gehen dort hin, wo es weh tut.
Auffallend ist auch, dass die Mehrheit der Filme in diesem Jahr von Frauen gemacht wurde. Frauen spielen im Produktionsalltag in Deutschland traditionell eine starke Rolle, Regie führten dann aber bislang mehrheitlich Männer. Glaubst du dass der diesjährige Trend nachhaltig ist?
Ich glaube nicht, dass dieser Trend gleich wieder abbrechen wird. Aber soll man nun prophezeien, dass in zehn Jahren die Mehrheit der Filme in Deutschland von Frauen gemacht werden? Das ist mir ehrlich gesagt nicht so wichtig. Es hat natürlich gute Gründe, warum Frauen im Produktionsbetrieb so wichtig sind: Frauen können einfach gut haushalten und das meine ich sehr anerkennend. Sie können organisieren, sie können mit Geld umgehen und sie trauen sich auch, mal die Notbremse zu ziehen. Erwachsene Jungens können das oft nicht so gut. Aber ich bin gar nicht dafür, diese Unterschiede so zu betonen. Ich finde es statistisch angenehm, wenn viele Filme von Frauen gemacht werden. Aber das allein ist für mich noch kein Qualitätsmerkmal. Die Filme sind toll, wir freuen uns über sie. Aber wenn diese Filme von Männern gemacht wären, dann wären es tolle Filme von Männern, so sind es tolle Filme von Frauen.
Ein Großteil der Filme sind Abschlussfilme von Hochschulen oder erste Langfilme von Absolventen. Dieter Kosslick sieht darin ein Indiz für die gute Ausbildung des Nachwuchses an deutschen Filmhochschulen. Ist dieser Optimismus berechtigt?
Ja, ich finde auch, das ist auffällig. Die Perspektive Deutsches Kino ist seit Jahren ein Beleg dafür, dass die Filmausbildung in Deutschland sehr gut ist. Interessant ist, dass es nicht nur eine Ausbildungsstätte gibt, die die Kaderschmiede des deutschen Films wäre. Jedes Jahr macht man Entdeckungen, und die kommen mal aus Berlin, mal aus München, mal von einer anderen Hochschule. In diesem Jahr sind im Perspektive-Programm auffallend viele Absolventen der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg vertreten. Es scheint, dass es an den Filmschulen Konjunkturen gibt. Es gibt starke und weniger starke Jahrgänge, wie beim Wein.
Die Perspektive bemüht sich ja dezidiert um den Nachwuchs, die junge Generation im deutschen Filmschaffen. Da gilt das Interesse zunächst einmal der Regiegeneration. Aber auch die Produzenten sind oft sehr jung. Wie stellt sich denn die Situation junger Produktionen in Deutschland dar?
Auch Produzenten werden ja an den Filmhochschulen ausgebildet. Und auch diese Ausbildung scheint Hand und Fuß zu haben. Man kann seit Jahren beobachten, dass Debüt-Projekte an den Hochschulen bereits gemeinsam entstehen. Regie- und Produktionsstudenten tun sich zusammen und erarbeiten gemeinsam ihr erstes Projekt. Das finde ich auch sehr vernünftig, denn meist wird daraus auch eine längere Zusammenarbeit. Die Hochschulen treten oft als Ko-Produzenten auf, weil sie Beistellungen machen oder weil der Film ein Abschlussfilm ist. Ganz wichtig ist auch die Rolle des "Kleinen Fernsehspiels" vom ZDF - eine der wenigen Fernseh-Redaktionen, die bewusst Debütfilme fördern, weil sie nicht sklavisch auf die Quote achten müssen. Das gibt den jungen Filmemachern die nötige künstlerische Freiheit.
Im Gesamtprogramm der Berlinale 2007 sind deutsche Filme gewohnt stark präsent. Es fällt aber auch auf, dass Deutschland als Ko-Produktionsland für Großprojekte eine zunehmend wichtigere Rolle spielt. Was verbirgt sich dahinter und wie beurteilst du diesen Trend?
Film ist ein internationales Produkt, auch wenn es national entsteht. Das ist der kulturelle Arm der Globalisierung. Film ist die kostenintensivste Kunstform, aber es ist auch ein "People's Business", wo es auf Teamarbeit ankommt und Kontakte. Es geht bei internationalen Ko-Produktionen sowohl um finanzielle, als auch um künstlerische Partnerschaften. Für große Produktionen ist es schon immer wichtig gewesen, internationale Partner zu haben, um für den Weltmarkt gerüstet zu sein. Deutschland ist ein wichtiger Markt, deshalb ist es auch als Ko-Produktionsland von Bedeutung. Das wird auch weiterhin so sein. Wenn der Film von seiner Geschichte her eine eigene Identität hat, dann ist das auch völlig legitim. Ich finde nicht, dass nur Deutsche Filme über deutsche Themen produzieren sollen, oder nur Engländer Filme über englische Themen. Im Vordergrund muss der Film und seine Geschichte stehen. Dann kommt eine Konstellation von Produzenten zusammen, die sowohl Geld zusammenlegen, aber auch ihre Köpfe zusammen stecken. Denn wenn um etwas künstlerisch gerungen wird, kann es nicht nur um Geld gehen.