„Erinnerungen werden am besten wachgerufen, wenn man sich am Ort des Geschehens befindet“, sagt ein junger Mann in Tan Pin Pins Invisible City. Was aber, wenn der Ort sich noch schneller verwandelt, als das Gedächtnis verblasst? Seit Singapur 1965 ein unabhängiger Staat wurde, hat es sich in rasantem Tempo verändert. Der „Sprung aus der Dritten in die Erste Welt“ hat das Alte nicht nur faktisch verschwinden lassen. Die Gegenwart übertüncht die Vergangenheit auch in der Erinnerung. Sie zurückzuholen, gleicht einer archäologischen Sisyphusarbeit. Ein britischer Amateurfilmer versucht sein Archiv zu bewahren, indem er es auf Videobänder kopiert. Obwohl ihn Gedächtnislücken plagen, fügt er den Bändern Audiokommentare hinzu: „Wenn ich mich schon nicht erinnere, wie soll es irgendjemand anders tun?“ Ein chinesischer Aktivist kämpft um einen Platz in den Geschichtsbüchern: „Vielleicht waren wir die Verlierer. Aber die Geschichte wird von Gewinnern und Verlierern gemacht.“ Ein junger Archäologe gräbt im Dschungel den Müll der Kolonialzeit aus und gerät über eine Colaflasche von 1956 in Verzückung. Dass sich aus Spuren kein Gesamtbild zusammensetzen lässt, das macht Tans origineller filmischer Essay schon in seiner offensiv fragmentarischen Form deutlich. Er zeigt aber auch, dass es keine zweckfreie Erinnerung gibt: Sie ist Kapital, Verpflichtung, Kompensation, Bewältigung; meist eigennützig und immer parteiisch.
Christoph Terhechte
Christoph Terhechte