2008 | Retrospektive
Der Regisseur Luis Buñuel
„Luis Buñuel hat einen unbestechlichen Blick auf die ihn umgebenden Gesellschaften … Zugleich ist er jemand, für den im Film das Reale und das Imaginäre keine wirklich getrennten Welten sind.“ Die Retrospektive der 58. Internationalen Filmfestspiele Berlin ehrte den 1983 verstorbenen spanischen Regisseur Luis Buñuel mit einer umfassenden Werkschau seiner Filme. Hinzu kamen Arbeiten, bei denen er als Regieassistent, Drehbuchautor oder Produzent tätig war. Ergänzend zum Filmprogramm fand eine Veranstaltungsreihe mit Vorträgen und Diskussionen statt. Im Interview berichtet Rainer Rother über Buñuels künstlerische Qualitäten, seine bisweilen revolutionäre Bildsprache und Überraschungen, die es auf der Retrospektive zu entdecken gab.
Nach einigen Jahren der thematischen Programmausrichtung wendet sich die kommende Retrospektive wieder konkret dem Werk eines Filmemachers zu. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Genau aus diesem Grund. Wir wechseln traditionell zwischen Personen-Retrospektiven und eher themenorientierten Retrospektiven. Und da in den letzten Jahren die Themenorientierung den Vorrang hatte, war es an der Zeit, wieder etwas zu einem Regisseur zu machen. Luis Buñuel bietet sich nun besonders an, weil im Jahr 2008 sein 25. Todestag ist. Es gibt also ein Jubiläum, das wir zum Anlass nehmen, auf ein vermeintlich bekanntes Oeuvre zurückzublicken. Aber wie immer, wenn man genauer hinschaut, bemerkt man, dass man zwar einige Filme kennt, nicht aber das gesamte Werk. Und deswegen haben wir uns entschieden, die kommende Retrospektive Luis Buñuel zu widmen.
Schon in Buñuels frühen Filmen ist eine fundamentale Kritik der bürgerlich-christlichen Moral und Wertesysteme auszumachen, die auch später immer wieder auftaucht. Lassen sich weitere kontinuierliche Themen in Buñuels Schaffen finden?
Ich glaube, dass zwei Aspekte besonders kennzeichnend sind für ihn: Buñuel war ein sehr unabhängiger Geist, das heißt, er hat sich nicht vereinnahmen lassen, weder durch seine spanische Herkunft und die katholische Erziehung noch durch die Nähe, die er für eine gewisse Zeit zu den Surrealisten und zu linken Bewegungen hatte. Er hatte einen unbestechlichen Blick auf die ihn umgebenden Gesellschaften, erkannte in ihnen die sozialen und ideologischen Verwerfungen und machte genau das zum Thema seiner Filme. Zugleich war er jemand, für den im Film das Reale und das Imaginäre keine wirklich getrennten Welten sind. Es finden sich immer wieder Szenen bei Buñuel, in denen er mit diesem Öffnen der Grenzen zwischen Realem und Imaginärem, zwischen dem, was Realwirklichkeit, und dem, was Traumwirklichkeit ist, spielt.
Sie sagen, dass Buñuel ein gutes Auge für die Ideologien hatte, die in der ihn umgebenden Gesellschaft vorherrschten. Er ist ja im Grunde sein ganzes Leben lang gegen engstirnige Denksysteme angegangen. Finden sich diesbezüglich auch Momente der Verzweiflung bzw. Resignation in seinem Schaffen oder hat er ungebrochen diesen Antrieb gehabt? Ist es überhaupt der richtige Ansatz, ihn so konkret politisch fassen zu wollen?
Ich glaube nicht, dass Buñuel mit seinen Filmen die Hoffnung verbunden hat, unmittelbar etwas zu ändern. Insofern konnte er auch nicht resignieren, wenn sich nichts geändert hat. Ich glaube, ihm war es wichtig zu zeigen, wie die ihn umgebende Realität ist, was sich allerdings sehr unterschiedlich äußert. Das kann ein Angriff auf eine sehr verknöcherte, konservative, klerikal dominierte Gesellschaft sein. Das kann aber auch der klare Blick auf die soziale Armut sein, die bestimmte Gesellschaften zeichnete. Wie zum Beispiel in Las Hurdes, ein Film, den er noch im republikanischen Spanien gemacht hat und in dem eine ländliche, völlig verarmte Region vorgestellt wird. Oder in seinen mexikanischen Filmen, etwa Los Olvidados (Die Verlorenen), in dem er das Elend von Straßenkindern aufgreift, die praktisch ohne Liebe und Zuneigung aufwachsen und auf ihre Armut mit einem kriminellen, bandenmäßigen Verhalten reagieren.
Filmische Formenvielfalt und kooperatives Arbeiten
Als Sie im Sichtungsprozess die Möglichkeit einer Zusammenschau der vielen Filme hatten, gab es da auch Momente oder Aspekte, die Sie besonders überrascht haben?
Also sehr überraschend ist schon die Stärke der mexikanischen Filme, die aus meiner Sicht gemeinhin ein bisschen unterbewertet werden. Das ist ein eindrucksvolles Werk, auch sehr gebunden an den Aufschwung der mexikanischen Filmindustrie in den 1950er Jahren.
Außerdem ist es überraschend, dass Buñuel, wenn er nicht Regie geführt hat, durchaus auch andere Formen bediente. Als Produzent und auch als Drehbuchautor neigte er etwa zum Komödiantischen. Es ist schon sehr erstaunlich zu sehen, dass es sozusagen Buñuel-Komödien gibt - nicht von ihm inszeniert, aber von ihm produziert oder geschrieben -, die vergleichsweise konventionell scheinen. Dort bevorzugt er auch häufig den gradlinigen, einfachen Weg, indem er beispielsweise auf direkten, fast zum Slapstick neigenden Humor und Situationskomik setzte.
Deuten die sehr engen Arbeitsbeziehungen, die Buñuel im Laufe seines Lebens zu verschiedenen Menschen pflegte, darauf hin, dass er die Zusammenarbeit und den Input von anderen Leuten schätzte und brauchte? Oder ist er mit seiner außergewöhnlichen Art doch eher als eigenbrötlerisch zu beschreiben?
Nein, ich glaube, er war einfach ein sehr guter Regisseur. Das heißt, er hat die Zusammenarbeit als Möglichkeit verstanden, seine Vision in einem bestimmten Medium umzusetzen. Er hat die Gesetzmäßigkeiten dieses Mediums durchschaut und respektiert. Mit den zusätzlichen Erfahrungen, die er als Produzent, als Drehbuchautor oder auch anfangs als Regieassistent bei Jean Epstein gemacht hat – in dessen Filmen er übrigens auch ein paar kleine Auftritte hatte – , hat er realisiert, dass Film nur in dieser kooperativen Form möglich ist. Und wenn man diese Tatsache einmal angenommen hat, dann sucht man natürlich Leute, mit denen man sehr gut zusammenarbeiten kann. Das können Kameraleute sein wie Gabriel Figueroa, mit dem er in Mexiko mehrere Filme gemacht hat. Oder das kann jemand sein wie der Drehbuchautor und Schriftsteller Jean-Claude Carrière, mit dem er ganz wesentliche Filme realisiert hat, zu denen dann beide das Ihre beitrugen. Insofern kann man sagen, dass Buñuel, der sicher ein großer und allgemein anerkannter Vertreter des europäischen Autorenfilms ist, zugleich jemand ist, der die Gesetzmäßigkeiten des Films als Industrie für seine Zwecke sehr gut genutzt hat. Er musste nicht allem unbedingt seinen persönlichen Stempel aufdrücken, indem er es selber machte. Vielmehr hat er eine spezifische Form des Filmemachens entwickelt, die so nur in Zusammenarbeit mit gleich gesonnenen Partnern möglich war.
Sie sind ja schon darauf eingegangen, dass in den Werken, an denen Buñuel nicht als Regisseur, sondern in anderen Funktionen mitgewirkt hat, auch andere Facetten von ihm sichtbar werden. Ich habe gelesen, dass er in gewissen Zeiten durchaus auch kleinere Arbeiten verrichtet hat, dass er etwa während des Zweiten Weltkrieges als Kommentator von Armeefilmen in den USA gearbeitet hat. Eignen sich solche Nebentätigkeiten auch für die Präsentation in der Retrospektive?
Leider hat er bei diesen Aktivitäten nur wenige konkrete Spuren hinterlassen. Zum Beispiel hat er offenbar spanische Fassungen von amerikanischen Filmen betreut, das ist aber ein Brotjob gewesen. Er berichtet in seinen Erinnerungen auch, dass er eine Umschnittfassung von Triumph des Willens hergestellt hat. Aus den Akten, die es im Museum of Modern Art gibt, lässt sich das aber nicht beweisen. Und die dort tatsächlich vorhandene Kopie ist auch mehr oder minder nur eine gekürzte Version des Originals, bei der keine Buñuelsche Besonderheit zu entdecken wäre. Aus diesem Grund sind diese Filme auch nicht Bestandteil der Retrospektive.
Wider die Abbilder der Wirklichkeit
Inwiefern gibt es in Kongruenz zu seiner kritischen Haltung der Gesellschaft gegenüber auch eine Kritik an filmischen Formen, an Genrekonventionen? Oder etwas öffnender formuliert: Lässt sich der Begriff der Freiheit in Bezug auf die filmischen Formen Buñuels anwenden?
Das ist ein ganz gutes Stichwort, wenn man an den ersten Film denkt, Un chien andalou, der ja zu seiner Zeit durchaus skandalträchtig war durch die Art und Weise, wie er die Bildsprache revolutioniert hat. Es gab in Frankreich sicher in den späten 1920er Jahren eine Tendenz, sich gegen Bilder zu wenden, die sich eindeutig als Abbilder der Wirklichkeit entziffern ließen. Und dieser Tendenz blieb Buñuel treu. Er hat immer wieder versucht, die Grenzen des filmischen Erzählens zu durchbrechen. Ein rein realistisches Erzählen hat ihn eigentlich nicht interessiert, weil es für ihn eine Einschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten gewesen wäre, sich nur auf Abbilder zu verlassen. Er hat sich stattdessen bemüht, neue Bilder für seine Themen zu finden und zu erfinden. Seine Themen sind dabei nicht nur die soziale Wirklichkeit oder die Situation in einer bestimmten Gesellschaftsklasse wie der Bourgeoisie, sondern im Grunde alle Dinge, die in diese Realitäten hineinspielen. Das schließt auch Welten des Imaginären und Träume mit ein, die für ihn die gleiche Relevanz haben wie eine vermeintlich davon abgegrenzte Realität. Aus diesem Grund erscheinen seine Erzählungen uns auch oft als Bruch. Wenn wir beispielsweise an Cet obscur objet du désir denken, ist es aus einer realistischen Perspektive nicht nachvollziehbar, dass die Frau, die das obskure Objekt der Begierde darstellt, von zwei unterschiedlichen Darstellerinnen gespielt wird. Letztlich geht es aber eben nicht um diesen Realismus und nicht nur um diese eine Frau.
Kann man bestimmte filmhistorische Entwicklungen oder "Schulen" benennen, die an Buñuels Filmschaffen abzusehen sind?
Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass Buñuel wirklich Nachfolger gehabt hat, aber es gibt natürlich Regisseure, die von einem ähnlichen Verhältnis zum Film ausgehen. David Lynch ist jemand, bei dem man auch diese Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären sehr oft nicht ziehen kann. Vielleicht ist das kein Buñuel-Einfluss, aber es ist eine sehr ähnliche Konzeption vom filmischen Bild, die dahinter steht.
Auf einer Gesamtschau wie der Retrospektive besteht ja einerseits die Gefahr, quasi eine abgeschlossene Geschichte zu erzählen, während man andererseits eigentlich eine Öffnung ansprechen und erreichen will. Wird der Retrospektive zu Luis Buñuel diesbezüglich eine bestimmte Dramaturgie zugrunde liegen?
Zunächst einmal zeigen wir natürlich alle Regiearbeiten. Wir zeigen Beispiele, für die er als Produzent und als Drehbuchautor verantwortlich gezeichnet hat, und wir zeigen auch einige dokumentarische Arbeiten, die über ihn entstanden sind. Wir versuchen dabei, das Bekannte und das Unbekannte miteinander zu kombinieren. Natürlich ist es so, dass wir bei der Programmplanung auch darauf achten, dass die „großen“ Filme die prominenten Programmplätze bekommen. Gleichzeitig hoffen wir aber, dass gerade die weniger bekannten Aspekte des Schaffens von Buñuel - das betrifft unter anderem die mexikanische Periode, die wir auch prominent platzieren werden - dazu beitragen, dass man den Filmemacher noch einmal neu sieht.
Wird es eine Einteilung des Programms in einzelne Blöcke geben, wie etwa „Das mexikanische Kino Buñuels“?
Nein, das werden wir nicht machen. Wenn man das gesamte Oeuvre zeigt, dann versucht man so viel wie möglich unterzubringen. In unseren zwei Spielstätten im CinemaxX am Potsdamer Platz und im Zeughauskino werden wir sehr viele Filme auch mehr als einmal zeigen, zweimal oder dreimal sogar. So wollen wir möglichst vielen Zuschauern die Gelegenheit geben, möglichst viele Filme zu sehen wie bei jeder Retrospektive.
Lassen sich bei einem Filmemacher wie Buñuel auch noch Filme ausfindig machen, die weitgehend unbekannt sind oder noch nicht öffentlich gezeigt wurden? Bei denen sich vielleicht auch die Kopienbeschaffung als besonders schwierig gestaltet?
Ja, man hat immer das Gefühl, Buñuel, den kennt jeder, da muss es alles geben und zwar alles in guter Qualität. Das ist aber nicht so. Einige Filme, gerade die im Spanien der 1930er Jahre produzierten Arbeiten, sind nur noch in relativ schlechten Kopien vorhanden. Daher wissen wir auch noch nicht, ob wir wirklich alle zeigen können. Die halbwegs gut erhaltenen werden wir aber sicher präsentieren, weil das auch eine wichtige Facette seines Lebenswerks ist. Die Recherche hat außerdem ergeben, dass nicht zu allen Filmen die von uns gewünschten optimalen Fassungen, z. B. mit englischen Untertiteln, greifbar sind. Da die Frage der Sprache für unser internationales Publikum natürlich wichtig ist, um nicht nur Filme in Originalfassung zu zeigen, werden wir viele Filme eigens untertiteln.
Langjährige Vertraute zu Gast in Berlin
Auf welche Gäste dürfen sich die Besucher der Retrospektive freuen?
Zugesagt haben uns der älteste Sohn, Juan Luis Buñuel, und Buñuels vielfacher Drehbuchautor Jean-Claude Carrière; beide werden auch im Begleitprogramm über das Werk von Buñuel diskutieren. Und wir sind sehr guter Dinge, dass ein Dokumentarfilm, an dem die Beiden beteiligt sind, im Rahmen der Retrospektive uraufgeführt werden kann. Er heißt El último guión - Buñuel en la memoria und es geht darin um die einzelnen Drehorte, an denen Buñuel seine Filme realisiert hat, also ein Blick auf das Werk von Luis Buñuel aus der Sicht seines Sohnes und seines Drehbuchautors.
Der Sohn macht auch Filme?
Der Sohn ist ebenfalls Filmemacher, ja. Er hat bereits einen Dokumentarfilm über den Ort gemacht, aus dem Buñuel stammt, Calanda, der auch auf der Retrospektive zu sehen sein wird.
Buñuels Themen wie die Traumwelt, das Unbewusste oder das Reale und Imaginäre, wie Sie vorhin gesagt haben, spielen ja auch in der Filmwissenschaft eine große Rolle. Werden Experten auf diesem Gebiet auch zur Retrospektive eingeladen?
Wir werden insgesamt sechs Veranstaltungen haben zur Retrospektive und sind mit einigen Wissenschaftlern, vor allem aus Spanien, im Gespräch. Natürlich gibt es wieder eine Publikation zu unserem Thema, die pünktlich zur Retrospektive erscheinen wird.