2008 | Perspektive Deutsches Kino
Mit Herz, Hirn und einer entschlossenen Haltung
Auch in ihrem siebten Jahr bewies die Perspektive Deutsches Kino, dass sich der deutsche (Nachwuchs-)Film sehen lassen kann. "Die Ursprungsidee der Perspektive war ja, ein neues Selbstbewusstsein für den deutschen Film freizulegen, indem man zeigt, dass es jedes Jahr deutsche Filmemacher gibt, die etwas zu erzählen haben." Dass dieses Vorhaben tatsächlich geglückt ist, zeigt ein Rückblick auf die letzten Jahrgänge und das Programm 2008. Wie sich das deutsche Kino 2008 auf der Berlinale präsentierte, verrät Sektionsleiter Alfred Holighaus.
Die Perspektive Deutsches Kino feiert dieses Jahr ihre siebte Ausgabe. War es ein verflixtes siebtes Vorbereitungsjahr oder würdest Du ein positives vorläufiges Resümee ziehen?
Es war insofern ein verflixtes siebtes Vorbereitungsjahr, als nur relativ wenige Produktionen wirklich aus der Masse herausragten. Quantitativ waren es zwar genauso viele Filme, aber die Spreu hat sich sozusagen schneller von Weizen getrennt als in den Jahren zuvor. Trotzdem passiert ja zum Glück im Nachwuchsfilmbereich als wichtigem Schwerpunkt der Perspektive immer viel Neues. Darüber hinaus haben wir den Vorteil, auch kürzere 30- bis 60-minütige Formate – oftmals Hochschulfilme – zu spielen. Und die sind häufig für eine Überraschung gut. Insofern bin ich letzten Endes sehr zufrieden mit unserem Programm.
Wie lassen sich die ersten sieben Jahre bilanzieren bzw. wohin deuten die Entwicklungen des deutschen Nachwuchskinos tendenziell? Kannst Du quasi eine rückblickende Vorausschau wagen?
Die schönste Bilanz ist, dass ich mir in den gesamten sieben Jahren nicht einmal die Frage stellen musste, warum ich das eigentlich mache und wie sinnvoll das ist. Es ist sozusagen nichts, was anachronistisch ist oder keine Nachhaltigkeit hat. Die Ursprungsidee der Perspektive war ja, ein neues Selbstbewusstsein für den deutschen Film freizulegen und zu zeigen, dass es jedes Jahr deutsche Filmemacher gibt, die etwas zu erzählen haben und deshalb interessante Filme machen. Mit dieser Behauptung als Prämisse haben wir einfach angefangen, und die letzten sechs bis sieben Jahre haben uns darin bestätigt. Es ist in dieser Zeit auch nie zu einer ernsthaften Krise gekommen, weil man immer sehen konnte, dass neue Filme nachkommen. Einige der Filmemacher haben mittlerweile sogar einen internationalen Namen. Insofern kann man auf jeden Fall sagen, die Perspektive hat ihre Berechtigung und zwar nicht nur innerhalb des Festivals, sondern auch innerhalb der gesamten deutschen Filmlandschaft.
Lässt sich in Bezug auf die Filmhochschulen sagen, dass es ein immer breiteres Angebot gibt, auf das ihr zurückgreifen könnt?
Es gibt tatsächlich ein breiteres Angebot an Filmhochschulen und in unserem Programm zeigt sich, dass das gar nicht so verkehrt ist. Man könnte ja auch denken, es reicht, wenn es eine gute Filmhochschule gibt, von der 80 Prozent der Beiträge kommen, aber das ist überhaupt nicht so. Was aber auffällt ist, dass die Schulen unterschiedlich Konjunktur haben. Nachdem wir im letzten Jahr keinen einzigen Film aus Köln ausgewählt hatten, könnten wir die diesjährige Perspektive auch „Kölner Treff“ nennen. So was fällt uns aber immer erst nach der Programmierung auf und hat bewusst keine Methode. Insgesamt bilden die Hochschulfilme, wenngleich wir natürlich auch viele andere Filme sichten und zeigen, eine gute Basis, von der man ausgehen kann. Insofern macht es durchaus Sinn, dass es mehrere Hochschulen gibt, obwohl sie perspektivisch noch mehr zusammenarbeiten sollten.
Kann man Spezialisierungen erkennen?
Das war früher vielleicht mal so. Da hat man immer gesagt, in Köln basteln sie mit Video rum, in Ludwigsburg gibt es nur Special Effects, in München macht man Hochglanz, in Babelsberg spielen die Filme alle im Plattenbau und die Berliner gehen in die Szene, um sich selbst zu verwirklichen. Aber das hat sich mittlerweile doch sehr geändert, alles ist viel differenzierter und vielfältiger, was sich ja letztlich auch in unserem Programm widerspiegelt.
Stellung beziehen
Du hast gesagt, dass die diesjährigen Arbeiten nah an den Themen der Zeit sind, kannst Du diese Ausrichtungen näher benennen?
Ja, die kann ich ziemlich genau benennen. Es sind nicht nur die Sachen, die auf den Boulevardseiten der Zeitung stehen, sondern eben auch auf den Politik- und Gesellschaftsseiten. Da gibt es ganz klar definierte, auch gesellschaftspolitische Themen: mit an erster Stelle steht das Problem "Jugendgewalt", das ja abseits allen Wahlkampfgetöses tatsächlich ein brisantes und sehr komplexes Thema darstellt. Dabei finde ich schön, dass wir mit Teenage Angst von Thomas Stuber gerade keinen Film zeigen, der auf einen Neuköllner Hinterhof geht – wobei das natürlich auch seine Berechtigung hat – sondern einen, der sich einem Internat zuwendet, wo wir es sozusagen mit Söhnen aus dem Wohlstandsbürgertum zu tun haben. Man weiß nicht, ob es dort andere Motive und Ursachen für die Gewaltbereitschaft gibt oder ob das Problem schichtübergreifend ist und nichts mit dem Sozial- oder einem Migrationshintergrund zu tun hat. Das zu erzählen, finde ich sehr spannend.
"Gewalt gegen Kinder" ist das unangenehmste von allen Themen, aber gerade deswegen muss es auch auf den Tisch. Aus diesem Grund ist der Film Robin nicht leicht oder einfach zu rezipieren, aber ich fände es auch schlimm, ein solches Thema weichzuspülen.
"Intersexualität" wird derzeit interessanterweise auch stark thematisiert, obwohl es das eigentlich schon immer gegeben hat. Hermaphroditen gab es ja schon bei den alten Griechen. Natürlich wurde das Thema sehr lange verschwiegen und deshalb geht es in Filmen wie Bettina Eberhards Lostage meist auch um Geheimhaltung. Aber trotz allem erzählen sie davon und dadurch wird das Schweigen gebrochen.
Im dokumentarischen Bereich sind wir mit Jesus liebt Dich, in dem es um eine Form von neuer Spiritualität geht, oder Football Under Cover, der sozusagen den Clash der Kulturen behandelt, ebenfalls ganz dicht an den Themen der Zeit.
Nehmen die Filme eher eine neutrale Beobachterposition zu diesen Themen ein oder formulieren sie explizite Haltungen. Für Football Under Cover hat sich der Filmemacher ja beispielsweise involviert, indem er sich – wenn ich richtig informiert bin – mit dafür engagiert hat, dass dieses Spiel zustande kommt.
Ja, unter anderem aber auch, weil eine der Fußballerinnen seine Schwester ist. Zu Deiner Frage: ich denke nicht, dass irgendein Dokumentarfilm eine neutrale Wiedergabe der Ereignisse liefern kann - Gott sei Dank. Wenn ein Film Herz und Hirn haben soll, muss der Filmemacher meiner Ansicht nach auch eine Haltung einnehmen. Es geht nicht unbedingt darum, Dinge zu entlarven, aber wenn ein Film sich Zeit nimmt und der Filmemacher mit der Kamera zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist, dann fängt er eben auch die richtigen Sachen ein. Es ist ja auch immer eine Entscheidung, welche Aufnahmen man letztlich für den Film verwendet und wenn man die Dinge zeigt, dann zeigt man sie eben und positioniert sich dabei automatisch zu den Ereignissen. Und das funktioniert in Football Under Cover sehr gut.
Bei Jesus liebt Dich ist es im Grunde ganz ähnlich, da sind die Auswahl der Figuren, die Entscheidung wie viel Redezeit man ihnen gibt, wie nah man mit der Kamera an sie heran geht, wenn man sie beim Beten filmt, entscheidende Faktoren für die Wirkung des Films.
Am deutlichsten ist es in dem dritten Dokumentarfilm, Sebastian Heidingers Drifter. Man spürt die klare Absicht des Films zu zeigen, dass die portraitierten Leute zwar am Rande der Gesellschaft leben, dabei aber eine unglaubliche Selbstachtung behalten haben. Das hat mich wahnsinnig beeindruckt. Natürlich könnte man sich als Filmemacher auch im Schmutz suhlen. Aber viel bemerkenswerter ist es doch, auch die liebevollen Momente mit einzubeziehen und zu erzählen, wie sich die Menschen in Extremsituationen gegenseitig stützen.
Wie verhält es sich im fiktionalen Bereich? Werden da vor allem über die Themenauswahl Haltungen eingenommen oder überträgt sich das auch auf die formale Ebene?
Formal interessant ist zum Beispiel, wie in Robin das Kind als Katalysator für die Tragödie fungiert. Ich halte das für eine sehr gute dramaturgische Lösung. Wenn es um die Frage nach einer Bilanz geht, fällt ein vermehrtes Formbewusstsein auf, das wir seit mehreren Jahren auch im fiktionalen Bereich beobachten. Die Leute wissen, wie sie etwas erzählen und warum sie es so erzählen und nicht anders.
Kannst Du dieses Formbewusstsein ein bisschen konkreter beschreiben?
Das ist in jedem Fall der Mut zu einer eigenen Dramaturgie jenseits gängiger Muster – ohne dabei völlig experimentell zu werden. Die Entschlossenheit, sein Ziel zu verfolgen und dafür gewisse Dinge auch gegen Erwartungen oder Plausibilitäten zu setzen. Natürlich müssen bestimmte Felder letztlich auch bedient werden zum Beispiel durch eine Psychologisierung oder auch bewusste Nicht-Psychologisierung der Figuren. Aber in dem Möglichkeitsraum, der sich daraufhin öffnet, trauen sich die Filmemacher, Lücken zu lassen oder Behauptungen zu setzten, ohne dabei völlig wirr oder unglaubwürdig zu werden. Glaubwürdigkeit ist ja immer eine zweischneidige Geschichte. Geht es um objektive Wahrheiten - ergibt eins und eins sozusagen auch zwei? - oder geht es um eine dramaturgische Glaubwürdigkeit, die durch die Geschichte nicht nur behauptet, sondern auch erfüllt wird? Da kommen die Filmemacher sehr weit und das können sie natürlich nur, wenn sie es auch wagen.
Mit love, peace & beatbox läuft ein expliziter Musikfilm in der Cross-Section zwischen Perspektive und Generation. Erfahrungsgemäß spielt Musik (nicht nur) bei jungen Filmemachern häufig eine wichtige Rolle in der Gestaltung und für den Zusammenhalt der Filme. Wie sieht das im diesjährigen Programm aus?
Musik ist nicht so präsent wie die Jahre zuvor, da unterscheidet sich die Perspektive vom Rest des Festivals. In love, peace & beatbox spielt sie allerdings eine ganz zentrale Rolle, denn die Protagonisten finden über die Musik ihre Identität und bekommen Boden unter die Füße. Und das durch eine Musikrichtung, für die sie weder eine Ausbildung noch Instrumente benötigen, das ist wunderbar. Aber ansonsten war das musikalische Element in früheren Jahrgängen sehr viel relevanter, beispielsweise gab es ganz oft Momente, in denen Musik die Geschichte an einen Wendepunkt brachte. Das kann ich dieses Jahr nicht erkennen. Teilweise habe ich sogar das Gefühl, dass die Musik austauschbar wird, insofern liegt da meiner Ansicht nach eher eine Schwachstelle – wenn man das so sehen will.
Gerade bei In Deiner Haut und Robin fiel mir das Thema Generationen- bzw. Familienkonflikt auf.
Ja, das ist sicher auch noch ein thematischer Schwerpunkt und dieses Jahr auch sehr stark in anderen Sektionen vertreten - im Wettbewerb zum Beispiel - da steht vor allem die Elterngeneration im Fokus. In Deiner Haut spielt in einer Patchworkfamilie und ist insofern noch mal ein Thema für sich, aber auch das hatten wir schon in mehreren Filmen.
Privates und Öffentliches
Werden in den Filmen die privaten Konflikte und Strukturen auch auf eine gesamtgesellschaftliche, politische Ebene projiziert?
Das passiert in gewisser Weise sowieso, wäre aber in dieser Absolutheit zuviel gesagt. Ich finde es vielmehr andersherum einen riesigen Schritt, dass man nicht vordergründig politisch argumentiert, gleichzeitig aber auch nichts Eskapistisches macht, was ja eine zeitlang durchaus der Fall war. Es geht nicht mehr um Coming-of-age-Geschichten, die völlig austauschbar sind. Stattdessen greift man als Basis für den eigenen Film nicht nur auf persönliche Erlebnisse, sondern auf ein gesellschaftliches Phänomen zurück – auch wenn es nur innerhalb der Familie ist. Das ist schon ein Schritt in die Politik.
Lassen junge Filmemacher Deiner Meinung nach ihre persönlichen Erfahrungen unmittelbarer und direkter in ihre Filme einfließen als erfahrene Regisseure? Oder haben sich inzwischen Fragen nach der persönlichen Authentizität der Stoffe ganz überlebt?
Manche würden da heftig widersprechen, andere würden es durchaus bejahen und sagen, nur so geht es bei mir. Deshalb fällt es mir schwer, so eine Frage zu beantworten. Trotzdem glaube ich beispielsweise nicht, dass man so einen Internatsfilm wie Teenage Angst machen kann, ohne selbst ähnliche Erfahrungen gesammelt zu haben. Gleichzeitig kann ich mir aber auch nicht vorstellen, dass der Regisseur von Robin aus einer vergleichbaren Familie kommt. Das ist sehr unterschiedlich, aber man kann sagen, dass die jungen Filmemacher heute weniger Berührungsängste haben. Eine große Gefahr dabei, sehr persönliche Stoffe zu verfilmen, ist die nötige Distanz zu verlieren, die man braucht, um Kunst herzustellen und in Formen zu denken. Wenn man aber andererseits nur an die Form denkt, bekommen die Filme einen künstlichen Charakter, der sie meiner Ansicht nach nicht nur unsexy, sondern auch belanglos macht.
In Die Dinge zwischen uns oder Die Besucherin kommen ja durchaus ungewöhnliche Frauenbilder zum Ausdruck, gibt es da Gemeinsamkeiten?
Das ist insofern interessant - und auch das ist mir erst im Nachhinein aufgefallen -, als beide Filme von Frauen in ähnlichem Alter erzählen, die völlig verrückte Sachen machen, beide sehr weit entfernt von dem bürgerlichen Hintergrund, aus dem sie stammen. Eine lässt sich auf eine anonyme Affäre ein und die andere geht als Barfrau in einen Puff. Beide begreifen dabei, dass ihr Handeln für sie nicht nur einen eigenen Reiz hat, sondern auch einen Erkenntniswert. Das war sehr auffällig, wenn auch in dem Sinne keine allgemeine motivische Tendenz.
Aber man kann schon sagen, dass in dieser Generation eine Menge Frauen Geschichten erzählen, und das sind dann eben auch häufig Frauengeschichten. In den Filmen geht es den Frauen aber durchaus auch darum, das, was sie haben, zu bewahren. Sie wollen nicht gänzlich ausbrechen, sondern ihren Horizont erweitern. Diese Neugierde und Aufgeschlossenheit, gepaart mit dem Wunsch etwas zu erhalten, ist glaube ich eher frauentypisch.
In Die Helden aus der Nachbarschaft spielt dagegen der Zufall eine Hauptrolle?
Aber natürlich bewusst als dramaturgisches Mittel eingesetzt. Um von sieben Leuten zu erzählen, kann ich die Geschichten entweder nebeneinander her erzählen oder die Protagonisten zufällig in Konstellationen bringen, aus denen sich gemeinsame Geschichten entwickeln. Und damit haben wir es hier zu tun. Dabei ergibt sich häufig das Gefühl, dass es so kommen musste, und das wirft automatisch die Frage nach Zufall oder Schicksal auf.
Ist das 35mm- oder 16mm-Filmmaterial eigentlich noch das vorherrschende Format, auf dem die Filme gedreht werden, oder haben die digitalen Formate es bei den jungen Filmemachern inzwischen abgelöst?
Ich glaube, das kommt auch immer auf den Stoff an. Manchmal ist es einfach nur eine Preisfrage, zuweilen ist es aber auch die ganz konkrete Motivation: Für das, was ich zu erzählen habe, muss die Kamera beweglich sein. Und genauso gibt es umgekehrt das Bedürfnis auf Filmmaterial zu drehen. Trotz allem wird Film immer seltener, was tatsächlich häufig am geringen Budget liegt. Wobei man wirklich sagen muss, dass es gerade im Dokumentarfilmbereich einen unglaublichen Wandel und auch eine Niveausteigerung gibt, weil man durch kleinere Geräte viel näher an die Personen heran kommt. Man kann also sagen, dass die Entscheidung für das Material vom Stoff abhängig ist – wenigstens, wenn die Finanzen keine Rolle spielen. Aber das ist bei der jüngeren Generation eben eher selten der Fall, da braucht man sich nichts vorzumachen.
Dieses Klischee der Beliebigkeit von Videomaterial, alles zu filmen, nur weil es geht...
Die Gefahr besteht ohne Zweifel. Wenn ich es aber mit jemandem zu tun habe, der weiß, was er will und was er macht - und das sind die Leute, für die wir uns interessieren - habe ich diese Angst nicht.