2011 | Panorama
Neue globale Schule
Das Panorama der 61. Internationalen Filmfestspiele Berlin glänzt in Vielfältigkeit. Transgender-, politisches und Genrekino wechseln sich in immer neuen Varianten ab. Im Interview spricht Sektionsleiter Wieland Speck über die Tendenzen in seinem Programm und im Weltkino, über starke Newcomer-Filme und die vielen Künstlerporträts in der diesjährigen Auswahl.
Im letzten Jahr hast Du Dich über einen neuen, globalen Wagemut unabhängiger Filmproduktionen gefreut, Filme, die nicht unbedingt nach einer Ware aussehen wollten und trotz Ihrer geringen finanziellen Möglichkeiten oder gerade aufgrund der damit verbundenen Unabhängigkeit ihre Freiheiten nutzten. Hält dieser Trend an?
Der Trend ist ungebrochen und hat sich eher noch verstärkt. Die Filmlandschaft sieht sich einer Krise gegenüber – wirtschaftlich, inhaltlich und formal – und daraus entsteht Neues. Gut verfolgen lässt sich die Ausweitung bestimmter Trends daran, dass das, was die Presse Neue Berliner Schule nennt, jetzt global geworden ist. Wir haben etwa den argentinischen Film Medianeras im Programm. Der Regisseur Gustavo Taretto wendet sich ab vom Tsunami der Optionen und der allzu komplexen Bedrohungen – stattdessen erzählt er ausschließlich auf eine persönliche, private Art. Die Befindlichkeit ist in diesen Filmen das Thema. In Medianeras verpassen sich eine Frau und ein Mann immer wieder, aber eigentlich gehören sie zusammen. Das wird in einer Art und Weise inszeniert, die nicht auftrumpft, die nicht anbiedern und nicht glänzen will. Innerhalb dieser Generation von Filmemachern herrscht Bescheidenheit. Nach zwei angepassteren Generationen, deren Protagonisten aus den Kinderschuhen direkt in die Chefetage wollten, und der Erkenntnis, dass all diese Optionen nicht mehr funktionieren, üben sich diese Filme in Verweigerung – das ist das rebellische Element. Manchmal scheint es, sie kümmerten sich nur um sich selbst und den Filmen sei es egal, ob der konventionelle Zuschauer einen Zugang findet oder nicht.
In den Pressemitteilungen ist die Rede von einer neuen Welle des innovativen Genrekinos, die es zu entdecken gilt. Welche Filme hast Du da besonders im Blick? Und worin äußern sich die Innovationen?
Das Innovative ist, dass sich die Regisseure des Genretempus und –habitus bedienen, dabei aber im klassischen Sinne Autoren bleiben. Tropa de Elite 2 - o inimigo agora é outro (Elite Squad 2 - The Enemy within) aus Brasilien ist ein gutes Beispiel. Der Regisseur José Padilha bedient sich wirklich sehr geschickt aus dem Genrerepertoire, erzählt aber gleichzeitig eine Story die sehr viel gesellschaftskritischer und visionärer ist als es das industriegenerierte Genre jemals wäre.
Auf der anderen Seite sind Filme wie The Guard von John Michael McDonagh im Programm, die eher für den konventionellen Genrefilm stehen. Der Film ist ein richtiger Krimiklassiker, ein Schauspielerfilm, in dem das FBI und die irische Polizei aufeinandertreffen. Don Cheadle spielt einen schwarzen Agenten, der sich im Land der Rothaarigen zu behaupten sucht. Er wird ständig brüskiert mit unglaublichen politischen Unkorrektheiten. Der Film basiert auf den klassischen Strukturen – inklusive dem großen Show-down am Ende des Films.
Der russische Film Mishen (Target) von Alexander Zeldovich ist ein echter Science-Fiction-Film und spielt im Jahr 2020. Russland hat es in der Zukunft als Nation zu etwas gebracht, das Bild, das sich bietet, ist sehr viel optimistischer als wir es von hier aus befürchten würden. Mishen erzählt von einer jungen Elite, die nur ein Problem hat: Es geht ihr schon zu lange zu gut und die große Langeweile setzt ein. Also beschließen die Figuren mit dem Privatjet in die Wüste zu fliegen. Dort befindet sich ein in den Boden eingelassener parapsychologisch-außerirdischer Kreis, der aussieht wie eine flache Parabolantenne. Hier sammelt sich Energie, und wenn man sich ins Zentrum stellt, stoppt der Alterungsprozess, es schärfen sich die Sinne und die Fähigkeiten, die man hat. Der Film ist wirklich sehr schön, man muss sich nur auf sein Tempo einlassen – dann bietet sich einem eine ausgezeichnete, beschreibende Allegorie auf Russland.
Einige Spielfilme mit prominenter Beteiligung wie También la lluvia wenden sich politisch drängenden Fragen unserer Zeit zu, vermitteln diese aber durchaus nicht eindimensional, sondern anhand vielschichtiger, ungewöhnlicher Handlungskonstellationen?
También la lluvia (Even The Rain) von Icíar Bollaín erzählt den Kampf ums Wasser. Die Geschichte ist tatsächlich vielschichtig und alles wird parallel erzählt. Es gibt die Fiktion über die Eroberung Amerikas durch Christoph Columbus, die gerade verfilmt wird – eine Film-im-Film-Konstellation –, während parallel die bolivianischen Einwohner ums Wasser kämpfen müssen. Das Wasser wurde privatisiert und den Dörflern wird der Zugang verweigert, obwohl diese sich gerade eine neue Wasserleitung gebaut haben. In También la lluvia wiederholt und verdoppelt sich die Geschichte der Ureinwohner, die heute in der gleichen Zwickmühle stecken wie damals: Sie sehen sich Kräften gegenüber, die die Macht haben. Die einstigen Kolonisatoren, die Spanier, die den Film machen wollen, sind heute zwar Gutmenschen, die die Geschichte eigentlich wahrheitsgemäß und schuldbewusst aufarbeiten wollen – aber letztlich werden sie auch immer wieder zu Zynikern, weil sie ihren Film gemacht bekommen müssen.
Neue Talente, neue Medien und die Auflösung der Unterschiede
Lässt sich bei den Newcomern im Programm eine Orientierung an Vorbildern oder konventionellen Gestaltungsverfahren erkennen oder sind sie gerade deswegen ausgewählt worden, weil sie mit einer ganz eigenen Handschrift überzeugen?
Rundskop (Bullhead) von Michaël R. Roskam lässt eine extrem starke, eigene Handschrift erkennen. Einerseits ist die Erzählung sehr trocken, andererseits ist ein immenser psychischer Druck zu jeder Zeit spürbar. Die Geschichte thematisiert Hormonmissbrauch bei der Rinderzucht. Die Hauptfigur des Films schießt nicht nur seinen Tieren, sondern auch sich selbst Hormone. Es gibt Aufnahmen der Hauptfigur, die zeigen, wie er sich dopt und wie sich sein Körper langsam zu verformen beginnt – genau wie der seines Viehs. Roskam erzählt sehr vielschichtig, in großen, mächtigen Bildern, die sich trotzdem die Trockenheit des belgischen Kinos bewahren. Als Zuschauer blickt man in eine wortkarge, hermetische Männerwelt. Ein sehr beeindruckender erster Film.
Die Vaterlosen von Marie Kreutzer inszeniert eine Familiengeschichte und tendiert zu einer gewissen Privatsichtwelt – aber er geht darüber hinaus, weil er den Blick gleichzeitig auf die Kommunen-Generation richtet. Als der Vater stirbt, kehren die Kinder an den Ort zurück, an dem sie früher alle zusammen gelebt haben. Die zentrale Frage des Films ist: Was macht man aus dem, wo man herkommt? Die möglichen Antworten werden anhand der Geschwister aufgefächert, die sich in verschiedene Richtungen entwickelt haben: Der eine Sohn ist inzwischen Arzt in München und hat überhaupt kein Interesse mehr an diesem Kommunenleben, der andere ist vollkommen idealistisch, möchte die Kommune erhalten, weil sie doch ein echter alternativer Lebensentwurf sei usw.
Über uns das All von Jan Schomburg ist eine Befindlichkeitsgeschichte wie sie dem Zeitgeist nahe ist. Eine Frau verliert ihre Identität, weil sie alles um sich herum verliert, was ihre Identität offensichtlich ausgemacht hat. Sie hat vertraut und das geht nicht mehr. Eine sehr starke Charakterstudie.
Internet, neue Medien und virtuelle Welten spielen in mehreren Filmen eine zentrale Rolle. Welche Darstellungsweisen finden die Filmemacher für diese heutzutage äußerst wirkmächtigen Phänomene der digitalen Welt?
Die Filme gehen mit diesen Techniken sehr direkt um, das erinnert ein bisschen an die Erfindung des Telefons im Film, als da plötzlich neue Bilder entstanden – Figuren mit dem Telefonhörer am Ohr. Das Internet kann nicht mehr weggelassen werden in heutigen Filmen, das wäre merkwürdig und würde auffallen. Zwei Filme thematisieren Chats im Internet, die sich dem Austausch über das Thema Selbstmord verschrieben haben: Im polnischen Beitrag Sala samobójców (Suicide Room) von Jan Komasa wird die Abhängigkeit von der digitalen Welt lebensbedrohlich.
Im amerikanischen Film Vampire von Iwai Shunji sucht sich ein junger Mann in diesen Chatrooms selbstmordwillige junge Frauen, weil er sich als Vampir von Blut ernähren muss. Seine Moral verbietet es ihm, Menschen zu töten, die nicht sterben wollen. Er trifft sich mit den Mädchen, die er im Chat kennen gelernt hat, legt ihnen seine Situation dar und bespricht mit ihnen, wie er ihnen helfen kann, das Leben zu verlieren.
Romeos von Sabine Bernardi gehört ebenfalls in diese Reihe der web-affinen Filme. Eine Transgender-Geschichte, in der sich die Hauptfigur ganz viel Rückhalt aus dem Internet holt von jenen, denen es ähnlich geht. Später dreht sich diese Konstellation um und die Hauptfigur steht ihrerseits jemandem bei, dem es ganz schlecht geht. Das System dahinter ist offensichtlich: Man findet im Internet Unterstützung für extrem minoritäre Situationen.
Mit Romeos und dem französischen Tomboy von Céline Sciamma widmen sich zwei Spielfilme dem Thema Transgender bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wie wird die Frage der Geschlechtszugehörigkeit hier filmisch und narrativ aufgearbeitet?
Wir hatten selten so viele Filme, die im Bereich zwischen den Geschlechtern spielen und an der Überwindung des Dualismus arbeiten. Die Unterschiedlichkeit der Geschlechter ist überbewertet, Ying und Yang ist ja schließlich die Feier der Verschmelzung der Unterschiede. Romeos und Tomboy erzählen jeweils von einem Knaben, der in einem Mädchenkörper steckt und da raus will. Beide tun es mit innerer Kraft, das ist ein großer Unterschied zu früher, wo Sex-Change-Operationen durchgeführt wurden, um letztlich den Dualismus noch zu affirmieren. Romeos und Tomboy inszenieren ganz eigene Formen der Suche nach psychischer und physischer Identität, die das Offensichtliche nicht bedienen.
West- und ostdeutsche Geschichte(n)
Im Programm findet sich eine erstaunliche Anzahl an dokumentarischen Porträtfilmen, vor allem Künstlerporträts. Kann man dahinter ein persönliches Faible vermuten?
Die Häufung ist ein Zufall und hat sich einfach aus dem diesjährigen Angebot ergeben. Mondo Lux ist ein Porträt Werner Schroeters, der letztes Jahr den TEDDY AWARD für sein Lebenswerk erhalten hat und kurz darauf verstarb. Elfi Mikesch, die berühmte Kamerafrau, hatte den Film schon damals in Arbeit und jetzt wurde er zum Nachruf.
BRASCH – Das Wünschen und das Fürchten von Christoph Rüter ist eine Berlinstory, zeigt einen echten Local Hero und macht gleichzeitig die ganze Geschichte der deutsch-deutschen Nachkriegsverfassung spürbar. Der Vater des Dichters und Regisseurs Thomas Brasch war der stellvertretende Minister für Kultur der DDR und hat seinen rebellischen Sohn dann persönlich in den Knast gebracht. Braschs Radikalsuche nach Identität ist durchaus ein großes, exemplarisches Bild für die vielen Einzelfälle von DDR-Bürgern, die in den Westen gekommen sind – und deren Identitätsuche immer schmerzhaft blieb.
How are you ist ebenfalls unter dem lokalpolitischen Aspekt zu sehen. Der dänische Film von Jannik Splidsboel begleitet das Künstlerpaar Michael Elmgreen und Ingar Dragset über mehrere Jahre bei ihrem Aufstieg zu Stars der internationalen Kunstszene. Die beiden Protagonisten haben das hochintelligente Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen gegenüber dem Holocaustmahnmal geschaffen und treffen brillante Aussagen zu den heutigen Gay Politics.
Leicht muss man sein, Fliegen muss man können von Annette Frick ergänzt den Blick auf die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte um die westdeutsche Perspektive, anhand eines Essays über den schwulen Fotografen Herbert Tobias. Er hat zur Adenauer-Zeit subversive Fotografie gemacht, die heute aussieht wie die Mutter des Underground. Ikonografische Bilder von Homosexuellen während das Nazi-Gesetz gegen Schwule noch galt – und wahnsinnige Modefotos. Unter anderem hat er auch Nico, die spätere Sängerin von Velvet Underground fotografiert. Leicht muss man sein, Fliegen muss man können erzählt eine richtige Underground-Story aus Hamburg – eine marginale, aber subkulturell extrem wichtige Geschichte.
The Big Eden bringt dann den One-and-Only-Playboy, den kommerziell erfolgreichen Nachtclubbesitzer Rolf Eden auf die Leinwand: Eine große Nachkriegsstory auf westlicher Seite. Eden kommt als Kind von jüdischen Eltern 1930 in Berlin zur Welt. 1933 flüchtet die Familie vor den Nazis nach Israel. 1956 kehrt Eden nach Berlin zurück und führt seitdem dem deutschen White-Trash beispielhaft das Dolce Vita vor. Er kauft jeden Tag die BZ, um zu sehen, ob er drinsteht – und er steht immer drin. Spannend in The Big Eden ist auch die Auseinandersetzung mit einer Art von Machismo, den man sonst nicht durchdenkt, den man theoretisch nicht im Griff hat, weil es offensichtlich reihenweise Frauen gibt, die das ganz toll finden.
Die Nachtleben-Berlin-Reihe setzt sich mit House of Shame / Chantal All Night Long fort. Johanna Jackie Baiers Dokumentarfilm zeigt den kometenhaften Aufstieg Chantals, die vom Transenstrich aus die Clubs erobert und zehn Jahre schon die gefeierte Party-Königin ist. Rolf Eden und Chantal sind zwei Generationen von Nachtfiguren, die eine Ausstrahlung auf die ganze Welt haben und aufzeigen, was im Berliner Nachtleben so alles möglich ist an Kulturbewegung.