2014 | Berlinale Shorts
Den Funken bewahren
Mit 25 Spiel-, Dokumentar-, Experimental-, Essay- und Animationsfilmen sind die Berlinale Shorts auch 2014 Schauplatz der unterschiedlichsten filmischen Kurzformen. Im Interview spricht Kuratorin Maike Mia Höhne über komplexe Seelenlandschaften, kinematografische Visionen und strenge Regelwerke. Das wichtigste sei es, sich nicht abbringen zu lassen vom ursprünglichen Funken seiner Idee.
Welche thematischen oder formalen Trends lassen sich im diesjährigen Programm der Berlinale Shorts identifizieren?
Thematisch haben mich die vielen starken Filme über das Sterben beziehungsweise die Trauerarbeit der Hinterbliebenen schier überrannt: Om Amira, Un Paraíso, Tant qu´il nous reste des fusils à pompe, Three Stones for Jean Genet, As Rosas Brancas, Washingtonia. Intime Einblicke in komplexe Seelenlandschaften.
Der ägyptische Dokumentarfilm Om Amira (Naji Ismail) ist durch ANA HUNNA initiiert worden, eine Organisation, die sich die Stärkung des Frauenbildes in den Arbeits- und Lebenswelten des Mittleren Ostens und Nordafrikas zur Aufgabe gemacht hat. Im Zuge dieser Bestrebungen sind neun Filme entstanden, die Geschichten über Frauen in Ägypten, Jordanien, Tunesien und Marokko erzählen; Frauen, die ihren Weg in der Geschäftswelt finden und gehen. In Om Amira sehen wir eine ältere Frau, die auf Kairos Straßen frittierte Kartoffeln verkauft. Und wir hören die Stadt. Während wir in die Lebenswelt von Om Amira eingeführt werden, erzählt der Film gleichzeitig und fast beiläufig von den Verhältnissen, in denen sie lebt, von den Folgen der ägyptischen Revolution und davon, wie sich die Stellung der Frau in der ägyptischen Gesellschaft verändert hat. Erst spät erfahren wir vom tragischen Tod ihrer Tochter, die bei einer Herzoperation gestorben ist.
Auf ähnliche Weise trifft dies auch auf Un Paraíso (Ein Paradies, Jayisha Patel) zu. Beide Filme sind ganz nah an ihren Protagonisten und lassen dennoch Raum für eine Reflexion der jeweiligen Umstände. Auch in Un Paraíso steht eine um ihr Kind trauernde Mutter im Mittelpunkt. Ihr Sohn hat sich mit nur 12 Jahren selbst umgebracht. Die Provinz Granma auf Kuba, die den Namen des Schiffes trägt, mit dem Fidel Castro und Ernesto Che Guevara 1956 auf Kuba landeten, ist für ihre Revolutionstreue bekannt, nicht aber für die hohe Suizidrate unter Jugendlichen.
Ganz anderes wiederum der französische Spielfilm Tant qu´il nous reste des fusils à pompe (Solange uns Pumpguns bleiben, Caroline Poggi und Jonathan Vinel). Hier wirkt der Blick sehr eingeschränkt. Die Straßen sind menschenleer. Mit einer strengen Kamera schaffen die beiden jungen Regisseure Caroline Poggi und Jonathan Vinel eine kinematografische Vision, die mich in ihrer Klarheit sehr beeindruckt hat. Der Film lässt den Zuschauer mit einem starken Unbehagen zurück.
Und dann ist da noch Three Stones for Jean Genet (Frieder Schlaich). Ein filmisches Essay. Frieder Schlaich und Patti Smith treffen sich im marokkanischen Larache am Grab von Jean Genet, dem Patti einst ein Versprechen gegeben hat, welches sie nun einlösen wird.
Was passiert, wenn der rhythmusgebende Herzschlag verstummt
Im letzten Jahr hast Du die Frage nach Struktur und Organisation in der heutigen Gesellschaft als Grundmotiv der Berlinale Shorts gesehen. Un Paraíso und Tant qu´il nous reste des fusils à pompe gehen dieser Frage weiter nach. Noch deutlicher wird dies in Washingtonia, wo der Herzschlag der Giraffe den Rhythmus allen Lebens angibt. Fällt dieser Taktgeber in der Hitze des Sommers aus, zerbricht alles im Chaos.
Die Frage nach Ordnung und danach, wie Gesellschaft funktionieren kann, nachdem alles zusammengebrochen ist - vielleicht lässt es sich so benennen. Washingtonia (Konstantina Kotzamani) ist auch besonders in der Gegenüberstellung mit Xenos (Mahdi Fleifel) interessant. Zwei Perspektiven, eine fiktionale und eine dokumentarische, auf dieselbe Stadt: Athen. Die Regisseurin von Washingtonia hat fast ganz ohne Skript gearbeitet, ist von Situation zu Situation gezogen. Es wirkt, als hätte ihr der Zufall die Motive geschenkt. Auch ihre Figuren streifen scheinbar ziellos durch den Großstadtdschungel. Einzig die Sehnsucht bestimmt ihr Handeln.
In Xenos ist der rhythmusgebende Herzschlag dann völlig verstummt. Protagonist ist der Palästinenser Abu Eyad, den Regisseur Mahdi Fleifel bereits für seinen langen Dokumentarfilm A World Not Ours (Panorama 2013) im größten palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon begleitet hat. Inzwischen ist Abu Eyad nach Griechenland geflohen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch auch Europa kann die Träume nicht erfüllen. Im Gegenteil. Abu Eyad nimmt Drogen, um die Parallelwelt, in der er leben muss, ertragen zu können. Das Geld verdient er auf dem Strich. Wir hatten immer wieder Filme zum Thema Prostitution im Programm der Berlinale Shorts, aber nicht in dieser trockenen Weise. Hier geht es wirklich ums nackte Überleben nach dem Erreichen des vermeintlich rettenden Ufers. Auch formal ist Xenos kein gewöhnlicher Dokumentarfilm. Mahdi Fleifel schreibt in der Montage Satzzeichen und Absätze, seine ganz eigene Rhythmik.
Vor drei Jahren hatte ich den hybriden Dokumentarfilm La Calma (Die Stille, Berlinale Shorts 2011) von Fernando Vílchez Rodríguez im Programm, in dem es um die Folgen eines Erdbebens in Peru geht. Auch sein neuer Film Solo te puedo mostrar el color (Ich kann dir nur die Farbe zeigen) beschäftigt sich mit historischen Ereignissen. Mit Erlaubnis der Regierung drang 2009 die kanadische Minengesellschaft Dorato Ressources Inc. tief in den Urwald vor, um nach Bodenschätzen zu graben. Die Demonstrationen der dort lebenden Ureinwohner, der Awajún, wurden brutal niedergeschlagen. Fernando Vílchez Rodríguez geht der Frage nach, inwiefern sich die Ereignisse in den heutigen Ort eingeschrieben haben, und streift damit auch wieder die Thematik der strukturellen Ordnung, der Bedingungen und Perspektiven des Gegenwärtigen. Wieviel Kraft habe ich als Teil einer Minderheit gegenüber einer Übermacht wie der Armee?
Dieser Frage geht auch Im Tekhayekh, Ha'Olam Yekhayekh Elekha (Lache und die Welt lacht mit dir, Familie al-Haddad, Ehab Tarabieh, Yoav Gross) nach, der das nächtliche Eindringen der israelischen Armee in die Häuser der Palästinenser zeigt. Das Gesetz erlaubt die Durchsuchungen ohne jede Begründung. Doch die Armee darf den Palästinenser nicht verbieten, die Ereignisse zu filmen. Wir sehen das Eindringen und stellen fest, dass die Anwesenheit der Kamera die festen Strukturen aufbricht, beinahe ein Gleichgewicht im Ungleichgewicht herstellt. Hinter dem Film steht die linke israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem, von der wir vor drei Jahren schon Susya (Dani Rosenberg, Yoav Gross, Muhammad Nawaj’ah, Berlinale Shorts 2011) gezeigt haben.
Finden sich besondere formale Auffälligkeiten im diesjährigen Programm?
Ganz klar: die Beschäftigung mit dem Medium Film als Träger. Das Material wird zum Thema gemacht, reflektiert, selbst entwickelt. In LABORAT setzt Guillaume Cailleau sein analoges Filmmaterial derselben Prozedur aus, die an Mäusen in einer onkologischen Forschungsstation in Berlin vollzogen wird. Die Strahlendosis wird direkt ins Filmmaterial eingeschrieben. LABORAT ist dabei nicht prätentiös, sondern einfach nur sehr genau in seiner Beobachtung. Er folgt formal einem eigenen Regelwerk. Und nimmt den Zuschauer doch an die Hand, indem das Geschehen zu Beginn ganz klar verortet wird: Onkologische Forschungsstation, Berlin, 8. & 9. Januar 2011.
In Taprobana (Gabriel Abrantes) funktioniert das ähnlich. Ohne die Einordnung zu Beginn, wäre der Zuschauer völlig verloren. So wissen wir, wir befinden uns im heutigen Sri Lanka, wo der portugiesische Nationaldichter Luis Vaz de Camões im 16. Jahrhundert im Exil lebte und „Die Luisaden“ schrieb. Gabriel Abrantes liefert uns seine Vision dieses künstlerischen Schöpfungsprozesses.
Den ursprünglichen Funken bewahren
Wirst Du die Programme wie im letzten Jahr wieder um die starken, längeren Spielfilme wie Tant qu´il nous reste des fusils à pompe, Washingtonia und Taprobana bauen?
Nein, das kann man so nicht sagen. Ich habe mich eher von den filmischen Stimmungen leiten lassen. Besonders großen Spaß haben mir in diesem Jahr auch die vielen Experimentalfilme gemacht. Neben LABORAT vor allem auch BIRDS von Ulu Braun (FORST, Berlinale Shorts 2013). Experimentalfilm heißt ja immer auch eine Verabredung einzuhalten. LABORAT ist da sehr streng und ordentlich, BIRDS findet einen poetischen Ansatz und hat ein melancholisches Moment. Und auch die österreichischen Filmemacher Billy Roisz (darkroom) sowie Elke Groen und Christian Neubacher (Optical Sound) wissen genau, was sie tun. Sie bearbeiten ebenso ein Regelwerk, lösen sich allerdings auch bewusst von diesem ab. In Österreich gibt es eine große Experimentalfilm-Bewegung.
Zwei Animationsfilme des diesjährigen Programms, WONDER (Mirai Mizue) und Kamakura (Schneehut, Yoriko Mizushiri), werden von Tamaki Okamoto von CaRTe bLaNChe vertrieben. Der Gewinner des Silbernen Bären von 2012, Gurehto Rabitto (The Great Rabbit, Wada Atsushi, Berlinale Shorts 2012), kam auch aus diesem Vertriebssystem. Sie hat ein echtes Händchen für die feinen, anderen Animationsfilme. Über Gurehto Rabitto und den Goldenen Bären von 2011, PARANMANJANG (Nachtangeln, PARKing CHANce, PARK Chan-wook, PARK Chan-kyong, Berlinale Shorts 2011), werden die Prof. Dr. Kathrin Peters und Prof. Dr. Winfried Pauleit auch in einer arte-Spezial-Sendung zur Berlinale am 7. Februar sprechen. Sie werden versuchen die Arbeiten in einen Filmkanon einzuordnen, der mir in Bezug auf die kurze Form fehlt. Sie haben mich auch auf „Die Vorbereitung des Romans“ von Roland Barthes aufmerksam gemacht. 1978 hat er versucht, einen Roman zu schreiben, und ist gescheitert. Was er aber gefunden hat, ist die kleine Form. Dem Haiku ähnlich kann in ihr aus dem Moment der Beobachtung ein Funke Wahrheit überspringen. Und auch Martin Scorsese hat gerade in einem Brief an seine Tochter von einem Funken gesprochen, dem Funken der ursprünglichen Idee, den es mit allen Mitteln zu beschützen gilt. Sich von seinem anfänglichen Punkt nicht abbringen zu lassen durch eine Konvention, die man meint, einhalten zu müssen, oder dem vermeintlich Erfolgreichen, genau darum geht es. Sie sprechen mir aus dem Herzen. Das ist es, was ich meine, wenn ich über das Skizzenhafte in meinem Programm spreche: Giraffe, Herzschlag, Tod, Ordnung, Material, Kairo, Athen, System, Schluss?