2014 | Forum
„Man muss wissen, wie man die Regeln verletzt“
Arbeitswelten und die Absurditäten des Kulturbetriebs sind zwei von vielen Themen im diesjährigen Forum. Im Interview spricht Sektionsleiter Christoph Terhechte außerdem über die Formenvielfalt des Dokumentarischen und einen glücklich entführten Michel Houellebecq.
In Eurer Pressemitteilung benennt Ihr „gnadenlose Arbeitswelten“ als einen Fokus des 2014-Forum-Programms. Habt ihr diesen Schwerpunkt bewusst gesetzt?
Wir setzen uns kein Thema und wählen dann die passenden Filme aus. Aber wenn wir ausreichend Filme zusammenhaben, achten wir darauf, dass am Ende ein rundes Programm entsteht. Und wir haben sehr viele Filme gesehen, die sich mit dem Thema Arbeit beschäftigen, weil das in instabilen Zeiten natürlich von besonderer Bedeutung ist. Nicht nur die Frage, ob man Arbeit hat, sondern auch die Frage nach den Arbeitsverhältnissen, denen man unterworfen ist. Das Programm 2014 geht dem mit einer Fülle verschiedener Formen auf den Grund. Que ta joie demeure (Joy of Man's Desiring) von Denis Côté etwa übt keine Kapitalismuskritik, sondern ist fasziniert davon, wie Menschen in den seltsamsten Umgebungen existieren und kreativ sein können - wie flexibel der Mensch ist. Der Film funktioniert ganz stark über das Sounddesign, das den Raum nahe bringt, den Klang des Raums zu spüren gibt.
Auf der anderen Seite stehen Spielfilme wie Sto spiti (At Home) von Athanasios Karanikolas, der ebenfalls großartige Bilder kombiniert, die aber durchaus Sozialkritik transportieren. Sto spiti zeigt eine georgische Haushälterin, die jahrzehntelang bei einer griechischen Familie in Diensten war. Als der Hausherr pleite geht, wird sie gefeuert. Mit ihrem Job verliert sie ihr ganzes soziales Umfeld. Lange Zeit wurde die Tatsache, dass sie einer anderen Klasse angehört, ausgeblendet. Sie hat am Familientisch mitgesessen, ist mit zu den Freunden genommen worden. Ohne die Arbeit verliert sie ihre Zugehörigkeit. Entscheidend ist aber stets, dass ein guter Film entstanden ist und nicht, dass jemand etwas zu sagen hat. Wir wollen im Rahmen des Forums die Formenvielfalt zeigen, die kinematographischen Möglichkeiten.
Denis Côté hat letztes Jahr mit Vic+Flo ont vu un ours (Vic+Flo haben einen Bären gesehen) einen Silberner Bären im Wettbewerb gewonnen. Warum hat er sich entschieden, seinen neuen Film im Forum zu präsentieren?
Das Forum steht bei vielen bekannten Regisseuren in dem Ruf, dass wir ihre extravaganten, künstlerischen Werke gerne zeigen. Dazwischen gehen sie mit ihren größeren Sachen in den Wettbewerb - Claire Denis etwa war oft im Forum zu Gast, weil sie weiß, dass ihre Filme in unser Programm passen und hier gut aufgenommen werden. Denis Côtés Que ta joie demeure ist einer dieser vielen Hybride zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Er ist klar inszeniert, gleichzeitig aber kein narratives Kino im herkömmlichen Sinne.
Gestaltete Dokumente der sichtbaren Welt
Der Dokumentarfilm ist – sektionsübergreifend – als Schwerpunkt der 64. Berlinale gesetzt. Macht es heute noch Sinn zwischen Spiel- und Dokumentarfilm kategorial zu unterscheiden?
Auf der einen Seite finde ich diese Trennung relativ unsinnig, auf der anderen Seite muss auf die Formenvielfalt – gerade im Dokumentarfilm – hingewiesen werden, inklusive der Mischformen. Es gibt Spielfilme, die sehr nah an der Arbeit von Dokumentaristen sind, und es gibt Dokumentarfilme, die vor allem gestaltend, sogar performativ arbeiten. Die Frage „Ist das ein Dokumentar- oder Spielfilm?“ ist falsch, aber auf die unglaublich vielen Möglichkeiten und Strategien hinzuweisen, ist richtig. Das ist eine zentrale Aufgabe des Forums, weil wir uns als die Sektion des Festivals verstehen, die darauf Wert legt, dass der Inhalt nicht die Form dominiert.
Ist ein Teil dieser Vielfalt in der Wiederaufführung von Schamanen im Blinden Land zu sehen, der 1981 im Forum erstaufgeführt wurde?
Michael Oppitz‘ Film ist noch einmal ganz besonders, er betreibt Feldforschung, teilnehmende Beobachtung als ethnographische Disziplin. Er bleibt möglichst lange vor Ort und taucht in das Sujet ein. Diese Methode gibt es heute noch, zur Zeit der Entstehung des Films erlebte sie eine ganz besondere Hochzeit. Wir führen ihn wieder auf, weil er restauriert wurde und weil er der erfolgreichste Verleihfilm in der Geschichte des Arsenals überhaupt ist. Mittlerweile ist er in Vergessenheit geraten und der jüngeren Generation kaum noch bekannt. Die Wiederaufführung soll auch auf die Arbeit hinweisen, die wir das ganze Jahr über machen. Es geht nicht nur um das Festival, sondern wir arbeiten mit den Filmen, die wir hier gezeigt haben, weiter. Seit Beginn der Sektion archivieren wir Kopien, um sie der Allgemeinheit zugänglich zu machen, aber auch für die Nachwelt zu erhalten.
Mit German Concentration Camps Factual Survey dürfte den Zuschauer eine weitere, sehr spezielle Form des Dokumentarischen erwarten…
Auch ein Film mit Forumsgeschichte, das Material wurde 1984 erstmals bei uns aufgeführt. Die Fassung, die wir jetzt 30 Jahre später zeigen, ist vervollständigt und restauriert. Lange Zeit wurde Alfred Hitchcock als Regisseur des Films geführt, was sich so nicht aufrechterhalten lässt. Hitchcock hat etwa einen Monat in London mit dem Material gearbeitet, es heißt, dass die Idee für die Struktur des Films von ihm stammt. Das Material ist durch die Kamerateams entstanden, die alle alliierten Armeen dabei hatten, um die Fortschritte der Kämpfe zu dokumentieren. Gleichzeitig wurde an die noch zu leistende propagandistische Arbeit gedacht, um den Nazi-Spuk in Deutschland zu beenden. Das meiste Material stammt von den Briten, die bei der Befreiung des KZs Bergen-Belsen die grauenerregendsten Szenen vorfanden. Das macht die erste Hälfte des Films aus, die meisterhaft geschnitten ist und es schafft, diese Schreckensbilder in eine Erzählung umzusetzen - ganz gewiss ein Meilenstein des Dokumentarfilms. Der Film sollte die deutsche Öffentlichkeit mit ihrer Schuld konfrontieren. Aber die Amerikaner hatten ein Mitspracherecht. Sie haben dem Projekt relativ schnell den Stecker gezogen, weil sie die Deutschen im Kalten Krieg brauchten und statt Vergangenheitsbewältigung die Befriedung des Landes auf die Tagesordnung setzten. Das Material ist ins Archiv des Imperial War Museum gewandert und erst 1984 wieder aufgetaucht. Der Film hat sicher auch seine Macken, die aus der Zeit heraus zu erklären sind. Der Kommentar ist von 1945, ein bisschen pathetisch und enthält auch einige Floskeln, die man heute sicher nicht mehr verwenden würde. Es handelt sich aber um eine Rekonstruktion, nicht um einen neuen Film.
Politische Umbrüche und ein Blick zurück
Zwei weitere Special Screenings nehmen sich der Lage in Ägypten an, Arij (Scent of Revolution) von Viola Shafik und der Oscar-nominierte Al midan (The Square) von Jehane Noujaim…
Beide Filme sind von Frauen gemacht, die einen Großteil ihrer Zeit nicht in Ägypten leben, die eine Perspektive von Innen und Außen mitbringen - was es erleichtert, von dem zu erzählen, was da los ist. Die Filme sind sehr verscheiden. Viola Shafik schreibt keine Chronologie dieser Revolution, sie versucht die heutigen Geschehnisse in die Geschichte Ägyptens im 20. Jahrhundert einzuordnen und von mehreren Revolutionen zu erzählen. Nach dem Ende der Ära Gamal Nasser wurde das Land von unterschiedlichen Regierungen sukzessive ausgeplündert und durch Korruption verwüstet. Ein großer Teil des Films spielt in Luxor, wo die Altstadt kommerziellen Interessen geopfert und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung keine Rücksicht genommen wurde. Ein facettenreicher Film, unter anderem mit einer jungen muslimischen Frau, die sich in einer Second-Life-Welt mit anderen Avataren auf dem Tahrir-Platz verabredet – eine interessante Brechung des Themas. The Square ist ein narrativer Dokumentarfilm, der der Chronologie der Ereignisse folgt und eine sehr eigene Sicht mitbringt. Er verlässt sich auf seine vier Hauptfiguren, die in die Protestaktionen auf dem Tahrir-Platz eingebunden sind und unterschiedliche Konflikte erleben. Einer von ihnen gehört den Muslimbrüdern an, um deren Rolle bei diesen Revolutionen es auch geht. Der Film nimmt den Standpunkt ein, dass die Muslimbrüder die Revolution gekapert haben. In diesem Moment wird die Figur sehr ambivalent, weil ihre Loyalität auf dem Prüfstand steht.
Die Muslimbrüder waren zur Zeit der Entstehung des Films noch nicht verboten. Lässt sich ein politischer Umbruch inmitten eines Prozesses sinnvoll darstellen?
Natürlich könnte man diesen Film immer weiterdrehen, aber irgendwann musste es ein Ende geben – und The Square will ja keine permanente Chronik erzählen, sondern die Mechanismen von solchen Volksaufständen beobachten. Er abstrahiert, ist universeller, zeigt, wie Menschen sich mitreißen lassen und wie sie mehrere Umwälzungen mitbestimmen und vorantreiben. Geschichte hat keinen Abschluss, deshalb finde ich es legitim, auch während des Prozesses Bilder zu machen. Der Film hat seinen natürlichen Schluss mit den Geschichten seiner Figuren gefunden, nicht im Ende der politischen Ereignisse.
In Al doilea joc (The Second Game) haben wir es mit einer ganz anderen zeitlichen Konstellation zu tun. Dort wird ein vergangenes Ereignis live kommentiert. Worin liegt der Reiz des Films?
Während man in The Square die ganze Zeit diesen Platz vor Augen hat, sieht man in Al doilea joc nur die Bilder einer VHS-Kassette von 1988 in sehr schlechter Qualität. Sie zeigt ein verschneites Fußballspiel, bei dem man kaum etwas erkennen kann - deshalb arbeitet die Imagination besonders rasant und intensiv. Dazu hört man nicht den Originalkommentar, sondern den Regisseur des Films, Corneliu Porumboiu, der mit seinem Vater vor dem Fernseher sitzt und diskutiert, wie dieser als Schiedsrichter 1988 in einem Spiel der ersten rumänischen Liga zwischen den beiden bedeutendsten Mannschaften Steaua und Dinamo – die außerdem noch die Lieblingsmannschaften der Securitate und Ceaușescus waren – seine Arbeit gemacht hat. Wie verhält sich ein Unparteiischer in einem Einparteiensystem? Gesprochen wird über Fußball, aber man hat permanent im Kopf, unter welchen Umständen das Spiel stattfand, d.h. die letzte Zeit des Ceaușescu-Regimes. Extrem faszinierend, wie der Film durch diesen Minimalismus seinen Reichtum aufbaut.
Kumiko, the Treasure Hunter ist ein weiterer Film im Programm, bei dem eine Videokassette eine zentrale Rolle spielt...
Angeblich hat es die Geschichte wirklich gegeben. Die Hauptfigur ist eine junge Japanerin. Sie findet einen Schatz, die besagte Videokassette, auf der Fargo von den Coen-Brüdern ist. Sie legt die Kassette ein und trotz des schlechten Signals lässt sich auf der ersten Textafel „This is a true story“ lesen. Sie sieht, dass die Figur, die von Steve Buscemi gespielt wird, einen Koffer voller Geld vergräbt. Also fliegt sie nach Minnesota und macht sich auf den Weg durch den tiefen Schnee. Der Film erzählt, was sie auf ihrer Schatzsuche erlebt – extrem unterhaltsam und in ganz großartigen Bildern.
Die Tollheiten der Selbstdarstellung
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den „Tollheiten des Kulturbetriebs“ wie es in Eurer Pressemitteilung heißt. Wie gehen die Filme dieses Thema an?
Le beau danger ist ein Porträt des rumänischen Schriftstellers Norman Manea, in dem es aber nicht im konventionellen Sinne darum geht, die Person hinter der Literatur nahe zu bringen. Vielmehr reflektiert der Film über die Frage, was Text eigentlich ist und wie er repräsentiert wird. Schrifttafeln transformieren Sprache in Bilder. Gleichzeitig zeigt der Film den Alltag eines Schriftstellers und den Kulturbetrieb, der mitunter in seinen Verrücktheiten überhaupt nichts zu tun hat mit der Ästhetik, dem Geist oder auch dem Inhalt der Literatur. Es gibt tatsächlich mehrere Filme im diesjährigen Programm, die sich damit beschäftigen.
Der satirische L'enlèvement de Michel Houellebecq (The Kidnapping of Michel Houellebecq) von Guillaume Nicloux etwa, der im ersten Teil Michel Houellebecq in seinem bürgerlichen Alltag in Paris verfolgt. Als er entführt wird, wird es richtig lustig. Mit den nicht ganz hellen Kidnappern versteht sich der Schriftsteller viel besser als mit der Pariser Bourgeoisie. Sie rauchen zusammen Kette, trinken Unmengen. Als Michel Houellebecq um ein Buch bittet, gibt man ihm La Religieuse von Denis Diderot, das einzige Buch, das sich im ganzen Haus findet. Also genau den Stoff, den der Regisseur Guillaume Nicloux letztes Jahr hier im Wettbewerb gezeigt hat. Ein ironischer Rückblick auf seinen Ausflug ins seriöse Kino. Er ist ja eher ein Macher von kleinen, schmutzigen, satirischen und bösartigen Filmen.
Das große Museum von Johannes Holzhausen über das Kunsthistorische Museum in Wien zeigt jenseits des Institutionenporträts à la Wiseman auch, wie selbst ein solches Traditionshaus durchkapitalisiert und dem Eventmanagement der neuen Zeit unterworfen wird – wo es nur noch um Effekte geht. Da treffen zwei Welten aufeinander, die verstaubten Archivare auf die Jungspunde, die sich überhaupt nicht mehr für den Inhalt interessieren und genauso gut eine Gummibärchenfabrik leiten könnten. Ein ganz herrlicher Film über die vielen Bedeutungen, die ein Museum heute hat. Und emblematisch für das, was wir hier machen, denn als Berlinale befinden wir uns ebenso in dem Spagat zwischen der Filmkunst, die wir zeigen wollen, und diesem Spektakel, das die Berlinale einmal im Jahr darstellt.
Souvenir von André Siegers klingt nach facebooking in seiner schlimmsten Form. Täuscht dieser Eindruck?
Teilweise haben wir ja heute schon diese Politiker, die nichts anderes machen als zu twittern, sich auf Facebook selbst darzustellen und darüber die Politik komplett vernachlässigen. In Souvenir geht es um einen angeblich verschollenen politischen Funktionär, der sich selbst über viele Jahre als Hauptdarsteller seines Lebens in Szene gesetzt hat. Dieses Material findet nun der Filmemacher – ein Schatz, der montiert wird, um ein Leben zu zeigen. Damit nimmt der Film den Wahnsinn dieses sich im Kreis drehenden medialen Verwurstens auf. Er zeigt einen Menschen, der nicht etwa in den Wahlkampf zieht, um Politik zu machen, sondern weil er einen Film über Wahlkampf gesehen hat, nämlich Herr Wichmann von der CDU von Andreas Dresen.
Mit Blick auf all die Terabyte an Bewegtbild, die Tag für Tag ins Internet geladen werden: Wann beginnen montierte Bilder ein Film zu werden?
Das muss jeder für sich selbst beantworten. Es gibt sicher Leute, die sagen würden, dass Souvenir kein Film sei, das muss ich akzeptieren. Aber es gibt auch Menschen, die sich 90 Minuten Farbspiele auf der Leinwand ansehen und das sehr wohl als Film begreifen. Gleichzeitig ist nicht alles, was montiert ist, ein Film. Nur weil sich jemand nicht an die Regeln hält, hat er noch nicht den besseren Film gemacht aus Sicht des Forums. Man muss wissen, wie man die Regeln verletzt, und dafür gibt es keine Regel. Diesen Weg muss jeder für sich selbst finden und damit überzeugen.