2015 | Panorama
Erhöhte Risikobereitschaft
Kämpferisch wie nie spricht der Kurator des Panorama Wieland Speck über das Programm 2015 und formuliert eine klare politische Agenda. Im Interview spricht er über Missbrauch, nationale Traumata und den Reiz des Unkommerziellen.
Es gibt in diesem Jahr ein Thema, das Euch ganz besonders unter den Nägeln brennt, oder?
Ja, das Thema Missbrauch, das man nicht in den Griff bekommt. Man müsste das Tabu auflösen, um zu einer sinnvollen Prävention zu kommen – wie damals bei AIDS. Und genau an dieser Stelle können wir tatsächlich mit einigen Filmen einen Beitrag leisten, mehr, als ich das jemals in einem Programm gesehen habe. Und auch risikofreudiger.
Welche Filme behandeln das Thema?
Beispielsweise Chorus von François Delisle: Der Missbrauch findet zwar nicht im Film statt, wird aber vom Täter, der im Knast verhört wird, auf Band erzählt. Acht Jahre nachdem ihr Sohn verschwunden ist, werden die Eltern mit seinem Tod konfrontiert, als ihnen das Verhör vorgespielt wird. Da erzählt der Täter alles, was er mit dem Jungen gemacht hat und das ist nur schwer aushaltbar. Die Trauerarbeit der Eltern ist zwar das Hauptthema des Films, aber dennoch ist der Missbrauch der Auslöser für die Kondition der Menschen. Wie in Rosa von Praunheims Härte, der die Geschichte des Karateweltmeisters Andreas Marquart erzählt, der von seinem Vater als Kind körperlich fertig gemacht und von seiner Mutter sexuell missbraucht wurde. Das Selbstvertrauen wurde zerstört. Das bringt eine Kondition zustande, in der ein Mensch gefühlsmäßig höchst verschlossen und gewalttätig werden kann.
Einen Film, den ich in diesem Kontext sehr speziell finde, ist Danielův Svět (Daniel's World) von Veronika Lišková...
Das ist ein ganz wichtiger Film zum Thema. Zum ersten Mal überhaupt, seit ich Filme sehe, wird verhandelt, wie Missbrauch zu verhindern ist. Danielův Svět (Daniel’s World) ist der Tabu-Sprenger überhaupt, weil sich ein pädophiler junger Mann als solcher öffentlich macht. Was furchtbar gefährlich ist, das ahnt und spürt jeder sofort. Du spürst auch, dass du diesen Film am liebsten gar nicht sehen möchtest, denn kaum jemand möchte mit diesem Thema umgehen. Weil es tabuisiert und nicht zu fassen ist. Weil es nicht erlaubt ist, das zu fassen, wie man an der Edathy-Affäre sieht. Dabei schwirren die Bilder milliardenfach durchs Netz. Die Presse stürzt sich kaum auf Mädchenmissbrauch, obwohl wir statistisch wissen, dass jedes dritte Mädchen irgendwann begrapscht wurde – also ein Missbrauch in Milliardenhöhe alltäglich ist. Dieses Tabu muss angefasst werden. Sonst kümmern wir uns immer nur um bereits geschehene Verbrechen. Man muss den Teppich vorher lüften, nicht erst, wenn es zu spät ist. Das kannst du gar nicht demokratisch angehen das Thema. Es ist offensichtlich, dass wir kulturell damit umgehen müssen und nicht nur tagespolitisch.
Ich kann mich vage an ein paar Filme aus der Vergangenheit erinnern, die sich mit Missbrauch beschäftigten, etwa The Woodsman von Nicole Kassell…
Ja, es gab immer mal wieder Filme, aber die sind so verlogen gewesen, die haben um die Probleme herumgefilmt – das hat mich wahnsinnig aufgeregt. In diesem Jahr haben wir eine Risikobereitschaft, die höher ist denn je. Erstmals gibt es mehrere Filme zu dem Thema mit ganz verschiedenen Ansätzen - und nicht alle vier bis fünf Jahre einen. Und zweitens sind sie sehr viel näher dran. So nah wie Rosa von Praunheim oder Daniel's World ist selten ein Film dran gewesen. Danielův Svět zeigt tatsächlich den Versuch, etwas öffentlich zu machen, was die Öffentlichkeit gar nicht wissen will. Das ist das eigentlich Interessante daran. Die Öffentlichkeit muss es wissen, damit etwas passiert, denn die Situation ist momentan unmöglich. Und gleichzeitig stecken alle den Kopf in den Sand. Ich habe auch überlegt, ob ich um den Film herumkomme. Den willst du eigentlich nicht anfassen.
Nationale Traumata
Gukje Shijang (Ode to My Father) von JK Youn blickt zurück auf die Grundlagen des Wirtschaftswunders Südkorea und die sind tatsächlich traumatisch, entstehen aus einer ganz fürchterlichen Situation. Die Amerikaner zogen sich zurück, die Familien wurden getrennt. Es folgte die erste große Gastarbeiterwelle nach Deutschland, noch lange vor den Italienern, Griechen und Türken. In Deutschland geht es um die Zustände im Bergwerk und in den Krankenhäusern, wo die Koreaner, die mit ihrem Lohn Korea zu diesem Jump-Start verholfen haben, angestellt waren. Die Traumata der Trennung des Landes blieben allerdings. Das doppelt sich sehr mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese ganze dem Menschen offensichtlich eingebaute Nachbarfeindlichkeit, die dann als Fremdenfeindlichkeit moralisch gegeißelt wird. Im Prinzip geht es immer um den Nachbarn. Und diese Kondition, die man heute im deutschen Osten hat, wo gar keine Türken sind, aber Türken furchtbar gehasst werden – das ist eine Abstraktionsebene, die reinste Ideologie und hat mit Erfahrung nichts zu tun. Zu solchen Überlegungen kommt man, wenn man in die Geschichte schaut. Es geht immer um dieselben Mechanismen, nämlich die Abgrenzung des Ichs gegen den Rest der Welt, dann der Sippe gegen Rest der Welt, dann des Landes gegen den Rest der Welt. Es sind immer Abgrenzung und Profilierung, die in der persönlichen Geschichte und in der staatlichen Großbildzeichnung eine Rolle spielen.
Jun Zhong Le Yuan (Paradise in Service) geht ein Thema an, mit dem sich der Regisseur Doze Niu Chen-Zer wohl zwischen alle Stühle setzt, dabei ist der Film ein wichtiger Tabubrecher: er zeigt, wie das Militär Frauen für ihre Soldaten in die Prostitution gezwungen haben, einen Vorgang also der heute noch blockierend zwischen Korea und Japan steht, und den man in Japan bis heute nicht anerkennen will. In Europa ist ein solcher Umgang mit der Geschichte unvorstellbar. In Taiwan wird der Film sehr interessiert geschaut, weil er viele taiwanesische Konnotationen enthält, die wir gar nicht erkennen. Wir lesen eher die Groß-Konnotationen.
Ihr habt in diesem Jahr viele Filme im Programm, die mit Originaldokumenten arbeiten. Die beide Musikdokumentationen Cobain: Montage of Heck und What Happened, Miss Simone?, den Dokumentarfilm Une Jeunesse Allemande, um nur drei zu nennen. Wie gehen die Filme mit den Dokumenten um und lassen sich da Gemeinsamkeiten oder Unterschiede feststellen?
Diese beiden Musikdokumentationen kommen aus den USA, die haben eine angelsächsische Herangehensweise. Das heißt im Prinzip ein Wechsel von Archivaufnahmen mit Spezialisten-Talking-Heads, normalerweise nicht gerade unser Lieblingsformat, aber in diesen Filmen funktioniert es.
Une Jeunesse Allemande (Eine Deutsche Jugend) von Jean-Gabriel Périot ist ausschließlich aus Archivmaterial zusammengestellt – ohne Kommentar. Er beginnt mit den späteren RAF-Terroristen als absoluten Hoffnungsträgern, als neugestaltende politisch-journalistische Kräfte. Man erlebt die langsame Radikalisierung von wichtigen, innovativen, mutigen, intelligenten, politisch innovativen Leuten zu Terroristen. Périot führt uns durch die dffb, wo Holger Meins Film studiert hat. Mit Harun Farocki und Hartmut Bitomsky, die keine Terroristen wurden, aber Teil des ersten Jahrgangs der dffb waren, die jetzt im Filmhaus im Sony Center residiert und damit im Herzen der Berlinale liegt.
Je suis Annemarie Schwarzenbach ist eine Annäherung an die Schriftstellerin und das Imago der Figur. Ihre Faszination geht nicht nur vom geschriebenen Wort aus, sondern auch von ihrem Look. Von dem was man fühlt, wenn man sie sieht. Die wenigen Schwarzweißbilder, vor allem von der Berliner Fotografin Marianne Breslauer geben ihr ein ewiges Leben. Sie ist eine androgyne Figur, das ist eine dieser typischen Inspirationen, die von den 1920ern in die 1970er Jahre transportiert wurden. Ästhetisch und politisch. Annemarie Schwarzenbach war eine der modernen Europäerinnen in den 1920er Jahren, eine Freundin von Erika Mann. Und da laden französische Filmemacher jetzt junge Menschen dazu ein, die Annemarie Schwarzenbach in sich zu finden. Neun Frauen und ein Junge, die diese Figur, dieses Bild verkörpern.
Censored Voices von Mor Loushy ist ein israelischer Dokumentarfilm, der zurückblickt in die Geschichte, um herauszufinden, wo ein Land an einer bestimmten Stelle war, um verstehen zu können, wo man heute gelandet ist. Das ist in Israel natürlich extrem spannend, weil das Land nie eine funktionierende Form gefunden hat. Loushys Film konfrontiert die heute alten Soldaten mit ihren jungen Stimmen, den Aussagen, die sie gemacht haben, als sie direkt aus dem Sieg des Sechstagekrieges kamen, der im Land einen riesigen Identifikationsschub ausgelöst hat.
Noch mal zu Une Jeunesse Allemande, erfährt man da etwas mit über die damaligen Diskurse innerhalb der Gesellschaft?
Absolut, ja. Es geht um die Terrorist-Werdung. Meistens behandeln solche Filme ja, wie die Gesellschaft mit dem „Problem“ umgeht, damit, dass etwas Schreckliches passiert ist. In Une Jeunesse Allemande liegt der Fokus auf der Zeit an sich, die diesen Terrorismus hat entstehen lassen – ohne Schuldzuweisung. Ich bin Teil dieser Generation und ihres sympathisierenden Zeitgeistes. Wir haben die anarchistische Kraft empfunden, ohne jemals zu sagen: „Ich finde Mord OK.“
Macht es einen Unterschied, dass jetzt ein Franzose über die Zeit erzählt?
Allerdings, denn wenn Deutsche über die Zeit erzählen, dann ist extrem viel Positionierungszwang zu spüren. Und der verstellt einen „epischen Blick“ auf Geschehnisse. Du musst als frei Denkender analysieren können und relativ tabufrei sein – das geht nicht mit Leuten, die selbst aus dem Getriebe kommen und sich an die versteckten Agenden halten.
Ganz interessant in dem Zusammenhang fand ich Takeshi Fukunagas Out of My Hand: Ein Regisseur, der in Japan geboren wurde, jetzt in den USA lebt und sich in seinem Film von Liberia aus zurück in das Land kämpft, in dem er aktuell wohnt…
Ich habe irgendwann eine vollkommen unfertige Fassung gesehen, wusste gar nicht, dass das werden würde und habe trotzdem sofort gedacht: Das muss man verfolgen. Im fertigen Film erfährt man sehr viel über Liberia, ohne dass der Hintergrund des Bürgerkriegs explizit formuliert wird. Aber du spürst die Präsenz. Die Arbeiter bewegen sich in mafiösen Strukturen, werden schlecht bezahlt, es gibt Streiks und Streit mit den Frauen – denn wer streikt, bekommt keinen Lohn. Die große soziale Einheit Dorf ist verschwunden, die Kleinfamilie ist das Lebensmodell und das macht die Leute wahnsinnig steuerbar. Die Hauptfigur wandert aus, nach New York. Als sie sich zu etablieren beginnt, erkennt sie jemand aus der kleinen liberianischen Gemeinde und das Trauma des Bürgerkriegs kehrt zurück. Die gute Figur wandelt sich im letzten Viertel des Films. Das ist ziemlich bissig, ich war sehr beeindruckt von dem Film.
Also gibt es die Vertriebenen, diejenigen, die flüchten müssen, aber es gibt im Programm auch diejenigen, die flüchten wollen, aus einer ganz anderen Position heraus den Kick suchen. Etwa in Peter Kerns Der letzte Sommer der Reichen und in Haftanlage 4614 von Jan Soldat über den Fetisch Gefängnis, von dem ich nicht glauben konnte, dass das wirklich ein Dokumentarfilm ist…
Wahnsinn, oder? Ich glaube nicht, dass man das verorten kann. Wir kommen wieder auf Tabu und Prägung. Da hier niemandem Schaden zugefügt wird, ist alles prima, aber dieselbe Kondition mit derselben Perversionsgrenze wird natürlich strafbar wenn es um Zwang oder um Minderjährige geht. Da muss man fragen: Wo kommt das her? Und: Kann denen geholfen werden?
In Der letzte Sommer der Reichen gibt es auch eine Perversionsspirale, in die sich die global aufgewachsene Dame Stezewitz verstrickt, wenn sie als jüdisch konnotierte Millionärsadelserbin darauf wartet, dass ihr verhasster Nazi-Großvater endlich stirbt, um dann ein Verhältnis mit dessen Pflegerin anzufangen. Sie hat offensichtlich reichlich Leichen im Keller, wie an einer Missbrauchssituation zu erkennen ist: Sie foltert ein Mädchen, wahrscheinlich schon aus rein rassischen Gründen. „Opulent, elegant, eine Cremetorte mit Lederstriemen“ ist meine persönliche Notiz zum Film. Der Film bricht reihenweise Tabus.
Mit Sume - Mumisitsinerup Nipaa (Sumé - The Sound of a Revolution) zeigt Ihr den ersten Grönländischen Film auf der Berlinale überhaupt.
Yay! Lange haben wir gewartet, es hat sich gelohnt. Sumé sind die Ton, Steine, Scherben Grönlands. Im Film ist die Revolution der 1970er Jahre zu sehen, als die grönländische Sprache wieder entdeckt wurde und die Menschen sich gegen den dänischen Kolonialismus auflehnten. Sumé sind der Soundtrack dieser Demos. So wie Ton Steine Scherben auf dem Mariannenplatz 1972.
Nicht zu kommerzialisierende Momente
Weil wir gerade bei Berlin sind: Mit B-Movie: Lust & Sound in West Berlin zeigt Ihr eines der aufregendsten Kapitel der Stadtgeschichte, die 1980er Jahre…
Kulturell betrachte ich diese Dekadensprünge von Mitt-Dekade zu Mitt-Dekade, also die 70er verorte ich eher von 1975 bis 1985. Das ist der Zeitraum, in dem Berlin diese extrem befreite Kreativität hatte. Wenn man 1980er Jahre sagt, schwingt automatisch eine kommerzialisierte Zeit mit, obwohl die kreative Betrachtung, als es wirklich sexy war, nur die erste Hälfte der 1980er ausfüllte und diese Zeit zeigt B-Movie. Vergleichbar ist das mit den 1920er Jahren, als auch Konnotation entstanden, von denen Berlin jahrzehntelang profitierte, weil sie Erregung und Glücksversprechen mit der Stadt verbanden. Das waren Momente, in denen so viel entstanden ist und nicht kommerzialisiert werden konnte. Die Stars dieser Zeit sind keine kommerziellen Stars geworden und trotzdem kennen wir sie noch.
Heute ist diese aufgeregte Metropolenstimmung zumindest marketingtechnisch wieder relevant…
Heute ist sie herbeigequatscht, damals existierte sie wirklich. Wenn der Kapitalismus kein Wachstum hat, verkauft er halt dasselbe zum dritten Mal in einer anderen Tüte. Mythen in Tüten, das ist leider die Zeit heute. Erfinden tun wir sicher auch etwas, aber wir haben es noch nicht entdeckt. Und wenn etwas erfunden wird, dann wird es ja auch gleich zur Ware gemacht und ist damit des Erfindercharmes wieder bar. Auf diese Weise haben wir in den letzten Jahren viele tolle Ideen kaputt gemacht. Weil diese Raffgier und das Erkennen, dass man alles möglicherweise zu einer Geldmaschine machen kann, kaum noch Raum lässt für Erfinder. Allerdings sind die Erfinder heutzutage auch kommerziell so vorgebildet, dass jeder es schaffen will.
Das Zauberwort heißt Start-up!
Genau. Und Crowdfunding and the whole shitbag!