2017 | Generation
Behutsam gesetzte Rahmen
Von drauflos quasselnden Schatzsuchern, einer echten Berliner Göre und einem kleinen buddhistischen Meister. Im Interview zeigt sich Sektionsleiterin Maryanne Redpath beeindruckt vom ungezwungenen Zugang der Filmeschaffenden zu ihren jungen Protagonisten und wirft einen Blick auf das diesjährige Programm von Generation.
2017 feiert Generation 40 Jahre Filmprogramm für junge Kinogänger bei der Berlinale. Welche waren die markantesten Veränderungen?
Eine große Entwicklung der Sektion ist mit der Einführung des eigenständigen Wettbewerbes 14plus zur Berlinale 2004 zu verzeichnen – dank der Initiative des damals neuen Festivaldirektors Dieter Kosslick. Seit 2006 vereint die Sektion unter dem Titel Generation die Wettbewerbe Kplus und 14plus und das Publikum hat sich weit mehr als verdoppelt. Für die Zuschauer ab 14 Jahren haben wir damit ein einzigartiges Angebot geschaffen, und die Wahrnehmung des jugendlichen Publikums als Zielgruppe für Vermarktungsstrategien erhöht. In beiden Wettbewerben Kplus und 14plus ist der Anteil der Filme, die nicht explizit für ein junges Publikum gemacht wurden, traditionell hoch, und noch immer reagieren einige Filmschaffende zunächst skeptisch, wenn wir ihren Film ins Generation-Programm einladen. Über den European Film Market pflegen wir deshalb seit Jahren engen Kontakt mit der Branche. Die Arbeit zahlt sich aus und die Bereitschaft, sich einem jungen Publikum zu öffnen, steigt. Auch die Branche befindet sich da in einem Entwicklungsprozess. Ich möchte an dieser Stelle aber auch die tollen Kinder- und Familienfilme hervorheben, die ich jedes Jahr mit Kusshand programmiere.
Geht das junge Publikum heute anders mit den audiovisuellen Inhalten um?
Natürlich ist das Publikum heute ganz anders sozialisiert und vernetzt. Bei vielen Zuschauern des Generation-Programms ist die Internetaffinität ziemlich hoch. Das ändert aber nichts an der Begeisterung für das Kino und dass Filme nur noch isoliert im eigenen Zimmer gesehen werden, stimmt meines Erachtens nicht. Die jungen Zuschauer kommen sehr gerne ins Kino und genießen das gemeinsame Erlebnis. Sie nehmen aktiv an den Gesprächen im Anschluss an die Vorführungen teil.
Die Reaktionen auf die Filme sind einerseits von den Inhalten aber auch von den Formen abhängig. Das zeigt sich auch auf den Fragebögen, die nach jeder Vorstellung verteilt werden. Die Intensität der Auseinandersetzung ist wahrscheinlich in keiner anderen Sektion der Berlinale so hoch wie bei Generation. Unsere jüngsten Zuschauer sind erst vier Jahre alt. Sie wachsen mit der Sektion auf, freuen sich jedes Jahr darauf, die Filme mit der nächsthöheren Altersempfehlung sehen zu können und anhand des Gesehenen abzugleichen, wo sie in ihrem Leben stehen. Das Programm bietet die unterschiedlichsten Anknüpfungspunkte und Identifikationsmöglichkeiten. Figuren in ähnlichen Lebenssituationen auf der Leinwand zu sehen, kann gerade für ein junges Publikum eine Anregung bieten, sich gegenüber Gleichaltrigen, Freunden oder der Familie zu öffnen. Diesen Anstoß einer Auseinandersetzung zu bieten, ist ein zentrales Anliegen von Generation.
Wie erklärst Du Dir die große Anzahl an Debütfilmen im Programm?
Ich denke, das ist Zufall. Wir suchen nach Filmen, die thematisch und formal mit der Erfahrungswelt von Kindern oder Jugendlichen verbunden sind und – meistens - aus der Perspektive ihrer jungen Protagonisten erzählt werden. Filme mit einem nostalgischen oder verklärenden Tenor sind für das Programm generell nicht interessant. Es kann schon sein, dass für relativ junge Debütfilmemacher noch eine besondere Verbindung zur eigenen Kindheit und Jugend besteht, die sich in den Filmen wiederfindet. Ein frischer Blick, der sich auch aus der Entwicklung der eigenen Bild- und Formsprache ergibt. Bei Generation gibt es auch viele erfahrene Filmschaffende, die einen sehr ungezwungen Zugang zu ihren Protagonisten finden und denen es gelingt, beim Dreh einen Schutzraum zu kreieren, der es den Protagonisten erlaubt, sie selbst zu sein. In diesem Jahr finde ich es wirklich bemerkenswert, wie natürlich die jungen Darsteller vor der Kamera agieren, unabhängig davon, ob es sich um einen Debütfilm, einen fiktionalen oder dokumentarischen Stoff handelt.
In Piata loď (Das fünfte Schiff, R: Iveta Grófová, Kplus), einer slowakisch-tschechische Co-Produktion, nehmen zwei selbst noch sehr kleine Nachbarskinder im Alter von acht und zehn Jahren zwei ausgesetzte Säuglinge in ihre Obhut. Sie kümmern sich voller Zuneigung um das Zwillingspaar, nehmen eine riesige Verantwortung auf sich und entfliehen damit ihren eigenen, dysfunktionalen Familienverhältnissen. Gerade im Hinblick auf das surreale Ende des Films, als ein erträumtes Schiff die beiden aus ihrer Überforderung erlöst, finde ich es sehr beeindruckend, wie natürlich das Spiel der Figuren wirkt.
Diese Natürlichkeit zeigt sich auch in den Dialogen vieler Filme. Wie zum Beispiel in Tesoros von María Novaro, den wir für Kinder ab sieben Jahren empfohlen haben. Die Sandstrände und Mangrovenwälder an der mexikanischen Pazifikküste sind das Klassenzimmer der dort lebenden Kinder. Gemeinsam macht sich eine Gruppe von Freunden auf, einen alten Piratenschatz zu bergen. Sie sind die ganze Zeit am Quasseln. Nicht jedes Wort ist verständlich, aber genau das macht es so atmosphärisch und intim. Die Dialoge wirken stark improvisiert, was durch die dokumentarische Bildsprache unterstrichen wird. In Amelie rennt (R: Tobias Wiemann, Kplus) zeigt sich dagegen in den Dialogen die hohe Kunst des Drehbuchschreibens. Der deutsche Spielfilm erzählt die Geschichte einer echten Berliner Göre. Aufgrund eines Asthmaleidens wird Amelie gegen ihren Willen nach Südtirol auf Kur geschickt. Sie hat wirklich eine große Berliner Schnauze, ist ständig am Fluchen und haut schließlich ab. Auf der Flucht in die Berge trifft sie auf einen Jungen, der sie fortan begleitet. Die Sprache der beiden wirkt alles andere als von einem Drehbuch diktiert.
Der brasilianische Regisseur Fabio Meira muss beim Dreh ebenfalls eine besondere Gabe gehabt haben. Zumindest erweckt sein Film As duas Irenes (Zweimal Irene, Kplus) das Gefühl, dass sich die beiden Darstellerinnen gut aufgehoben gefühlt haben. Per Zufall entdeckt die 13-jährige Irene, dass es in ihrer Kleinstadt eine zweite Irene gibt - im gleichen Alter. Die beiden freunden sich an, lernen die Welt der jeweils anderen kennen, gehen zusammen ins Kino und verabreden sich zu ersten Treffen mit Jungs. Ich finde es bemerkenswert, wie der Film es vermag, das Gefühl dieses besonderen Alters auf der Schwelle von Kindheit und Jugend einzufangen.
Auch Zhao Xiang hat für seinen Debütfilm Shi Tou (Steinkopf, Kplus) behutsam den Rahmen gesetzt, in welchem der Protagonist agiert. Der chinesische Film erzählt die kluge und berührende Geschichte von „Steinkopf“, einem zehnjährigen Jungen, dessen Eltern Wanderarbeiter sind und der deshalb bei den Großeltern in der Provinz aufwächst. Eine Situation, der sehr viele Kinder in China ausgesetzt sind und die in vier Filmen im diesjährigen Programm eine Rolle spielen. In Ben Niao (The Foolish Bird, R: Huang Ji, Ryuji Otsuka, 14plus) ist die Protagonistin bereits 16 und droht auf die schiefe Bahn zu geraten. Sie handelt mit gestohlenen Handys. Ihrer abwesenden Mutter zuliebe bewirbt sie sich parallel dazu an der Polizeiakademie, und der Film zeigt sehr einfühlsam und klug ihre Zerrissenheit.
Beruf und Berufung
Der Einstieg ins Berufsleben wird in mehreren Filmen im Programm von 14plus zum Thema gemacht. Ich denke an Soldado, Almost Heaven, Królewicz Olch, Loving Lorna…
Soldado (Soldier, R: Manuel Abramovich, 14plus) aus Argentinien ist ein stiller Dokumentarfilm über einen jungen Mann beim Militär. Er zeigt die Spannung, in der sich der Protagonist befindet - zwischen hartem Drill und zarter Verletzlichkeit. Der Dokumentarfilm Almost Heaven (R: Carol Salter, 14plus) nähert sich seiner Protagonistin ebenfalls sehr respektvoll, so dass auch hier die Zwischentöne zum Ausdruck kommen. Die britische Regisseurin Carol Salter hat eine junge Frau in der Ausbildung zur Bestatterin an einem der größten Institute Chinas begleitet. Auch sie lebt weit weg von ihrer Familie. Sie lernt die Leichen zu waschen und für die Abschiedszeremonien der Angehörigen vorzubereiten. Der Film zeigt sowohl ihre Skrupel, an den intimen Momenten des letzten Abschieds teilzunehmen, als auch das heitere Scherzen unter den Kollegen. Ein sehr intimes, sensibles Portrait und gleichzeitig ein gesellschaftskritischer Film.
Bei den anderen angesprochenen Titeln würde ich weniger von Beruf als von Berufung sprechen. In Królewicz Olch (The Erlprince, R: Kuba Czekaj, 14plus) geht es um einen hochbegabten Jungen. Er ist davon überzeugt, den Beweis für den Übergang in eine andere Dimension erbringen zu können. Die Wissenschaft ist für ihn nicht einfach ein berufliches Feld, sondern lebensbestimmend.
Loving Lorna (14plus) ist ein schwedischer Dokumentarfilm, der in Irland gedreht wurde. Die Regisseurinnen Annika Karlsson und Jessica Karlsson zeichnen das poetische Portrait einer jungen Frau, die Pferde liebt. Ihr großer Traum ist es, Hufschmiedin zu werden. Das ist weit mehr als ein einfacher Berufswunsch, denn die Arbeit und das Leben mit den Pferden hat in ihrer Familie über Generationen hinweg Tradition. Das Reiten und die Pflege der Tiere helfen Lorna außerdem, die „Troubles“, die politischen Unruhen in Irland, zu vergessen.
Auch im Programm von Kplus spielt das Berufen-Sein eine Rolle. Der kleine Spatz in Richard the Stork (Überflieger – Kleine Vögel, großes Geklapper, R: Toby Genkel) ist davon überzeugt, ein Storch zu sein, und setzt alles daran, seiner Storchenfamilie zu beweisen, dass auch er den weiten Flug nach Afrika schaffen kann. Der Dokumentarfilm Becoming Who I Was (Werden wer ich war, R: Chang-Yong Moon, Jin Jeon, Kplus) begleitet über acht Jahre hinweg die innere und äußere Reise eines kleinen Jungen. In seinem Heimatdorf im nordindischen Hochgebirge wissen alle, dass er in seinem frühen Leben ein buddhistischer Meister war, und zusammen mit seinem Lehrer macht er sich auf den weiten Weg zurück nach Tibet, um ein geeignetes Kloster zu finden.
Du hast bereits einige Dokumentarfilme angesprochen, die in ihrer Vielzahl einen Schwerpunkt des diesjährigen Programms ausmachen. Wodurch zeichnen sich die ausgewählten Filme aus?
Vor dem Hintergrund der Unterschiedlichkeit der filmischen Ansätze und Ausprägungen ist es nicht leicht, mehrere Filme unter einem gemeinsamen Aspekt zusammenzufassen. Bei den Dokumentarfilmen ist der Anteil derer, die nicht explizit für eine junge Zielgruppe gemacht wurden, noch höher als bei den Spielfilmen - und das sowohl im Programm von Kplus als auch von 14plus. Es sind alles Filme, die auf die große Leinwand gehören, wobei die Vielfalt der dokumentarischen Formen dabei wirklich beachtlich ist. Die erwähnten Beispiele lassen sich als persönliche Nahaufnahmen beschreiben, die gleichzeitig große Themen der Gegenwart reflektieren. Wie auch in Shkola nomer 3 (School Number 3, R: Yelizaveta Smith, Georg Genoux, 14plus) in dem 13 Jugendliche aus Donbass in der östlichen Ukraine im Fokus stehen. Sie erzählen von ihrem Alltag, der ersten Liebe und Erlebnissen, die sie bewegen. Auch wenn der Krieg nur am Rande erwähnt wird, ist der Dokumentarfilm eindringlich und besticht durch seine Ästhetik mit streng kadrierten Einstellungen.
Wie der Titel schon sagt, erzählt Poi E: The Story of Our Song (R: Tearepa Kahi, 14plus) die Geschichte des Popsongs Poi E von 1984, dem ersten Lied in maorischer Sprache, das völlig unerwartet die neuseeländischen Charts stürmte. Der Song wurde Kult und verhalf so einer ganzen Generation von Maori zu neuem Selbstbewusstsein. Im Film werden Found-Footage-Materialien aus der Zeit mit Zeitzeugenaussagen und Bildern von jungen Menschen heute zu einem sehr vergnüglichen musikalischen Erlebnis verbunden.
Subversives, Expressives und Mystisches
Was ist die ungewöhnlichste Arbeit im Programm?
Ceux qui font les révolutions à moitié n'ont fait que se creuser un tombeau (Those Who Make Revolution Halfway Only Dig Their Own Graves, R: Mathieu Denis, Simon Lavoie, 14plus, empfohlen ab 16 Jahren) bietet ästhetisch und inhaltlich eine große Herausforderung. Über 183 Minuten werden Spielfilmszenen, dokumentarische Fragmente, performative Momente und viele Schrifteinblendungen zu einer bildgewaltigen, nicht-linear-erzählten, subversiven Collage über eine Gruppe junger Rebellen in Quebec verbunden.
Mit My Entire High School Sinking into the Sea aus den USA gibt es einen vor visuellem Einfallsreichtum übersprudelnden langen Animationsfilm im Programm von 14plus. Regisseur Dash Shaw behauptet von sich selbst, mit 15 ein Nerd gewesen zu sein, fasziniert von Zeichnungen und Malerei. Die Dialoge in seinem Katastrophenfilm sind lässig und lakonisch und die Farben grell und expressiv. Ein absoluter Genuss – nicht nur für 15-jährige Nerds.
Não devore meu coração! (Don't Swallow My Heart, Alligator Girl!, R: Felipe Bragança) sticht wiederum in seiner Symbolträchtigkeit formal aus dem Programm von 14plus heraus: Eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte zwischen einem brasilianischen Jungen und einem geheimnisvollen Guaraní-Mädchen, das auf der anderen Seite des Rio Apa, Grenzfluss zwischen Paraguay und Brasilien, lebt. Ihre Geschichte wird angetrieben von der Liebe des Jungen. Der Fluss wird zur mystischen Grenze und im diffusen Licht der Sumpfregion verschwimmen die Realitäten ineinander.
Ich freue mich insbesondere auch über die Formenvielfalt unter den Kurzfilmen, die wir aus über 2.000 Einreichungen ausgewählt haben. Assoziative Collagen, wie im Dokumentarfilm White Riot: London (14plus) über die Geburt des Punks, der Parallelen ins heutige Europa eines sich ausbreitenden Rechtspopulismus eröffnet; Surreales wie in Moloko (Milk, 14plus), in dem eines Morgens eine Kuh in einer auf hochglanzpolierten Wohnung im 14. Stocks eines Wohnblocks steht; kommentarlose Alltagsbeobachtungen wie in Em busca da terra sem males (In Search of the Land Without Evil, Kplus), der Fragen nach Lebensentwürfen aufwirft; Verbindungen aus Interview und animierter Skizze wie in Wolfe (14plus), in dem der heute 24-jährige Nick über seine „Schizophrenie“ reflektiert; dokumentarische Momentaufnahmen wie Sheva Dakot (Seven Minutes, 14plus), der die sieben Minuten zeigt, die zwei junge israelische Soldaten haben, um sich anzukleiden und ihre Sachen für das ersehnte freie Wochenende zu packen; und vieles, vieles mehr.