2019 | Forum Expanded
ANTIKINO
Mit dem Thema „ANTIKINO (The Siren’s Echo Chamber)“ geht das Forum Expanded in sein 14. Berlinale-Jahr. Sektionsleiterin Stefanie Schulte Strathaus und Kurator Uli Ziemons über einen besonderen neuen Ausstellungsort, die Echokammern der Kunst und die Möglichkeit einer feministischen Perspektive.
Mit der Ausstellung erobert Ihr Euch in diesem Jahr einen neuen Ort: Die Betonhalle auf dem Gelände des silent green Kulturquartiers. Eine besondere Aufgabe?
Stefanie Schulte Strathaus: Ja. Es ist eine besondere Herausforderung, einen solchen Ort erstmalig zu bespielen. Aber da wir als Arsenal im silent green unser zweites Zuhause haben, ist es nicht so, dass wir uns einen komplett fremden Ort aneignen.
Wie präsent ist die Geschichte des Gebäudes als Krematorium noch?
SSS: Es ist niemand dort gestorben. Es wurde getrauert, d.h. es ist ein Ort der Empathie. Wir arbeiten im Bewusstsein der Geschichte des denkmalgeschützten Gebäudes, aber sie steht uns nicht im Weg. In der Betonhalle ist nach der Renovierung die ursprüngliche Funktion auch kaum mehr zu erkennen. Der Gebäudekomplex wurde von 1909 bis 1912 im Zuge freidenkerischer Bewegungen gebaut, die Betonhalle kam erst nach dem Fall der Mauer dazu. Geplant wurde sie als Leichenhalle mit Gerichtsmedizin, aber schon 2002 wurde das gesamte Krematorium geschlossen. 2013, Jörg Heitmann hatte das Gebäude gerade erworben, fand schon einmal eine Forum Expanded-Ausstellung dort statt. Anschließend führten er und Bettina Ellerkamp umfangreiche Renovierungsarbeiten durch. Seit 2015 sind unser Filmarchiv und unsere Sichtungs- und Projekträume dort untergebracht.
Das Thema 2019, „ANTIKINO “, habt Ihr während eines Stromausfalls festgelegt. Dazu die Geschichte des Ortes, das Licht geht plötzlich aus – das klingt wie eine klassische Szene aus einem Horrorfilm…
SSS: In der Tat. Wir hatten schon Ideen in Richtung „ANTIKINO“, hatten es aber im Stress der Endauswahl noch nicht so richtig auf den Punkt gebracht. Am finalen Auswahltag gab es dann den Stromausfall. Wir saßen ein oder zwei Stunden im Dunkeln und hatten Zeit, das Thema ausführlich zu diskutieren.
„ANTIKINO“ ist auch eine Selbstreflexion. Wir gehen mit Forum Expanded 2019 ins 14. Jahr. Zu Beginn wollten wir die institutionellen Grenzen von Kunst und Kino ausloten, aber inzwischen ist diese Debatte in den Hintergrund getreten. Da wir heute überall von Bewegtbildern umgeben sind, wurde diese Dichotomie zunehmend irrelevant. Das trifft auch auf die Künstler*innen und Filmemacher*innen zu, die die Bilder produzieren. Zwar verorten sie sich aufgrund ihres Werdegangs und der Produktionsmittel noch in der Film- oder in der Kunstwelt, aber ihre Arbeitsweisen haben sich stark angeglichen. Sie versuchen das gleiche: sich über Bilder zur Realität zu verhalten. Die Frage des Mediums wird dabei mitverhandelt.
Die Echokammern der Kunst
Der vollständige Titel der Gruppenausstellung lautet „ANTIKINO (The Siren’s Echo Chamber)“...
SSS: Das Kino der Avantgarde und die Moderne Kunst verfolgten in der Geschichte das gemeinsame Interesse einer Gegenkultur, einer Reflexion, einer Negation. Die Innovationen, die daraus entstanden sind, sind heute weitgehend im Kanon aufgegangen. Inzwischen finden wir uns vielmehr in gemeinsamen Echokammern wieder, die uns vor allem aus den sozialen Medien bekannt sind, aber durchaus auch im realen Leben eine Rolle spielen. Die Arbeiten, die wir ausgewählt haben, sehen wir als Versuche, diesen Echokammern zu entkommen.
Das Motiv der Sirenen finden wir am deutlichsten in Diana Vidrascus Film Le Silence des sirènes (Das Schweigen der Sirenen), in dem es um entleerte Bilder geht, um die Schwierigkeit einer Schauspielerin, sich genauso wenig mit den Kulturen, in denen sie lebt, wie mit den Rollen die sie spielt, identifizieren zu können; sie schweigt. Das Karrabing Film Collective zieht das Motiv der Meerjungfrau heran: The Mermaids, or Aiden in Wonderland thematisiert den sterbenden Planeten vor dem Hintergrund von Kolonialismus und extraktivem Kapitalismus in Australien aus indigener Sicht.
Sind Kunst und Kino nicht vor allem auch immer Kategorien, über die sich Werke verkaufen lassen?
SSS: Begriffe wie Experimentalfilm oder Expanded Cinema dienten ja zunächst nicht der Vermarktung. Es ging im Gegenteil darum, außerhalb des Marktes zu produzieren - was jedoch später selbst zum Markenzeichen wurde bzw. Eingang in den Mainstream fand. Die Bildsprache des Experimentalfilms findet man mittlerweile überall, in Bildern des Alltags, in der Werbung…
Oder in Richtung von Auktionen. Also Installation und Film als Label, die den Auktionskatalog strukturieren...
SSS: Tatsächlich stoßen wir nach wie vor an Ordnungskategorien, wenn es um das Selbstverständnis von Institutionen, um Deutungshoheit oder um Marktwerte geht. Diese Kategorien sind heute aber sehr viel beweglicher und damit schwerer zu greifen, u.a. weil sie sich in den Echokammern scheinbar selbst erzeugen. Die entscheidende Frage aber ist, wie sich die Künstler*innen und Filmemacher*innen dazu verhalten. Und ich glaube, sie sind beweglicher als die Institutionen selbst.
Mit dem Antikino-Begriff stellt ihr auch die Frage nach dem Verhältnis der Bilder zum Realen. DADDA – Poodle House Saloon von Paul McCarthy und Damon McCarthy verweist über die Location – die schon von Fassbinder und Sergio Leone genutzt wurde – auch auf andere Bilder. Geht da der Bezug zur Realität nicht verloren?
SSS: Das würde ich nicht sagen. Die meisten Arbeiten im Programm sind geopolitisch sehr verortet, sie fragen nach dem Realen, das man zu einer Zeit an einem Ort vorfindet, auch in Form von Zeugnissen der Geschichte. DADDA zeigt Mediengeschichte als reale Geschichte. Der Film überhöht die Gewaltexzesse der Popkultur und lässt sie dadurch zu realen Erfahrungen werden. Er stellt aus, wie Akte der Gewalt in der medialen Übersetzung unsichtbar oder unspürbar geworden sind.
Bilder des Sozialen
Liqa'lm yadhae (An Un-Aired Interview) von Muhammad Salah macht das Verhältnis zwischen Bild und Erfahrung sehr deutlich...
SSS: Liqa'lm yadhae ist tatsächlich ein sehr anschauliches Beispiel. Zwei Ebenen werden als voneinander getrennt gezeigt. Die erste versucht, den nach Erfolg strebenden ägyptischen Mann für das Fernsehen zu inszenieren. Die zweite zeigt schonungslos sein echtes Leben.
Notes to Self klingt nach einer eher ungewöhnlichen Arbeit für das Forum Expanded und die Wichtigkeit des Archivs. Die titelgebenden Notizen werden nicht aufgehoben, sondern verbrannt...
Uli Ziemons: Wir archivieren ja das Video. Christina Battle spielt mit dem Verhältnis von Synchronizität und Asynchronzität, des Tempos der Vergänglichkeit von Informationen in den sozialen Medien. Insofern passt die Arbeit sehr gut ins Forum Expanded.
Die Arbeit spricht das Thema der Überflutung durch Bilder, gerade in den sozialen Medien, an. Inwieweit hat diese Überflutung den Status des Bildes verändert?
SSS: In den initialen Überlegungen zum „ANTIKINO“ spielte die Überproduktion von Bildern und die veränderte Bedeutung des Verhältnisses von Bild und Leben tatsächlich eine Rolle. Es gab eine Zeit, in der das Leben eine Aufwertung erfuhr, wenn es im Kino zu sehen war. Heute funktioniert der Mechanismus eher andersherum: aus Aufwertung wurde Abwertung. Es ist nichts Besonderes mehr, sich selbst oder eine andere Realität auf einem Bildschirm zu sehen. Die Sprengkraft der Bilder ging verloren. In einer Zeit, in der alle Bilder von sich selbst zeigen, ist es kein politischer Akt mehr. Weiter gedacht könnte das bedeuten, dass das Subjekt, von dem die Bilder ausgehen, auch keinen Wert mehr besitzt.
The Script ist in diesem Zusammenhang eine spannende Arbeit, sie beschäftigt sich mit einem bestimmten YouTube-Format, oder?
UZ: Ja. Aus der Masse aus YouTube-Videos, die einen betenden muslimischen Vater zeigen, der von seinen Kindern als Klettergerüst benutzt wird, hat Akram Zaatari ein Skript generiert und reinszeniert es in seinem Film.
The Script inszeniert den privaten Raum, wie es heute selbstverständlich ist. Haben die experimentellen Formen, wie sie im diesjährigen Programm etwa bei Ute Aurand und Deborah Stratman zu finden sind, in gewisser Weise den Weg bereitet für die Öffentlichkeit des Privaten?
SSS: Ute Aurand bezieht sich in Rasendes Grün mit Pferden sehr stark auf das Private. Das „Genre“ des Diary-Films kennen wir in verschiedenen Formen auch von anderen, z.B. von Jonas Mekas. Ute Aurand hat über Jahrzehnte daraus eine eigene filmische Praxis entwickelt.
Vever (for Barbara) von Deborah Stratman thematisiert und reflektiert die Problematik, die der „Tagebuchfilm“ auch mit sich bringt. Im Off führt sie ein Gespräch mit Barbara Hammer, die ihr das Material zur Verfügung gestellt hat. Barbara Hammer erzählt, dass es nach einer Trennung auf einer Reise nach Guatemala entstanden ist. Eine sehr private Situation, deshalb hatte sie Schwierigkeiten, mit dem Material umzugehen. Sie konnte ihr Privatleben und den Ort, an dem sie ihr unbekannte Frauen gefilmt hat, nicht zusammendenken, war überfordert vom Verhältnis der Bilder zu ihrem Selbst. Deshalb hatte sie die Aufnahmen beiseitegelegt. Indem sie die Bilder dann an eine andere Filmemacherin – also Deborah Stratman - weitergibt, wird Distanz aufgebaut. Der andere Blick kann das Private von außen sehen und sich dazu verhalten. Über Maya Deren wird zudem die Frage nach dem ethnographischen Blick mit ins Spiel gebracht. Privat und öffentlich wird auf mehreren Ebenen verhandelt. Bei Ute Aurand geht es vielmehr um die subjektive Innenperspektive, das Tagebuch. Was war für sie wichtig in ihrem Leben, welche Menschen, welche Begebenheiten, welche Orte, welche Handlungen? Damit schafft sie die Aufwertung einer Realität, die ohne ihre Arbeit keine Sichtbarkeit hätte. Das ist der politische, bzw. künstlerische Akt.
Angesichts der Subjektivität in Rasendes Grün mit Pferden wirkt Clarissa Thiemes Installation Can’t You See Them? – Repeat. fast als posthuman. Als sollte den Bildern der menschliche Faktor ausgetrieben werden...
UZ: Im Gegenteil. Die Grundlage des Films ist eine Aufnahme aus Sarajevo zur Zeit der Belagerung. Jemand filmt mit einer Handkamera Milizionäre, die einen Fluss überqueren. Die Bewegungen der Handkamera wurden getrackt und in eine Bewegung umgesetzt, die ein mechanischer Arm vollführt und so ein Lichtquader an eine Wand projiziert. Ich würde sagen, dass der menschliche Faktor das eigentliche Interesse des Films ist. Wer ist diese Person? Wieso hat sie die Kamera so bewegt?
Filmgeschichten
Ihr zeigt eine kleine Auswahl sudanesischer Filme aus den 1970er und 80er Jahren. Was ist die besondere Qualität dieser Filme?
SSS: Jeder der Filme hat eine eigene Qualität. Al Habil (The Rope) von Ibrahim Shaddad ist ein wunderschöner Wüstenfilm, Jagdpartie von Ibrahim Shaddad wirkt wie ein Western. Gedreht wurde er in Brandenburg und zeigt die Jagd auf einen Schwarzen in den späten 1970ern. Das ist aus heutiger Perspektive auf eine neue Art und Weise verstörend. Fälschlicherweise erwartet man aus vielen Teilen der Erde keine Geschichte des Avantgarde- oder des Experimentalfilms. Aber die gab es überall auf die eine oder andere Art, nur sind die Filme häufig nicht in die Filmgeschichte eingegangen. Das zu korrigieren sehen wir als eine grundsätzliche Aufgabe im Arsenal.
Im Rahmen der „Archival Constellations“ zeigt ihr auch Arbeiten von Carole Roussopoulos und Delphine Seyrig, die in den 1970er und 80er Jahren die neue Videotechnik nutzten, um an der Seite der Frauenbewegung zu kämpfen...
SSS: In unserer Arbeit im Arsenal und damit auch im Forum und Forum Expanded hatten wir immer ein feministisches Anliegen. Die Digitalisierung ermöglicht es uns ja, den Kanon zu entkanonisieren, indem wir entscheiden, welche Filme wir zuerst digitalisieren. Das bedeutet natürlich, die Filmgeschichte weiter zu öffnen, u.a. durch Filme von Frauen. Viele von ihnen sind aus einer Bewegung heraus entstanden, in kollektiven Zusammenhängen, die durch Solidarität und politischen Kampf geprägt sind, so auch die Filme des Yugantar-Kollektivs in Indien. Diese Arbeiten sind nicht nur hervorragende Beispiele des politischen, sondern auch des feministischen Kinos. Das ist untrennbar miteinander verbunden.
Lässt sich eine weibliche Perspektive im Kino definieren?
SSS: Grundsätzlich? Es gibt keine weibliche Perspektive, das ist falsch gefragt. Es gibt eine feministische Perspektive, eine politische. Eine Perspektive entgegen der Perspektive der Macht, die Bedeutung zuschreibt. Am deutlichsten zeigt das wohl der Film Variety von Bette Gordon, der erstmalig 1992 im Forum lief und den wir nun in einer restaurierten 35mm-Fassung zur Wiederaufführung bringen.