2019 | Perspektive Deutsches Kino
Filmische Wurzeln im Hier und Jetzt
Mit zwölf Filmen im Programm, elf davon Weltpremieren, präsentiert die Perspektive Deutsches Kino eine vielschichtige Momentaufnahme des aktuellen Schaffens junger Filmemacher*innen. Im Interview spricht Sektionsleiterin Linda Söffker über die Zärtlichkeit der Worte, das Internationale im deutschen Film und die Kernfragen des Filmnachwuchses.
Dieses Jahr dreht sich das Programm der Perspektive Deutsches Kino um den Themenkomplex Liebe in all seiner Vielfalt: Liebe zu einer Person, einem Ort, dem Kino. Wonach wird in diesen Filmen gesucht, wonach gefragt?
Im Nachwuchsbereich ähneln sich die zugrundeliegenden Fragestellungen häufig. Es werden Problematiken verhandelt wie „Wo komme ich her?“ oder „Wo gehe ich hin?“, es wird nach den Eltern, den eigenen Wurzeln, der Herkunft gefragt. Dabei geht es weniger um politische Inhalte – wobei wir auch explizit politische Arbeiten im Programm haben –, sondern grundsätzlich eher um die Themen, die den jungen Regisseur*innen unter den Nägeln brennen.
Die Liebe ist dabei ein zentrales, stets wiederkehrendes Motiv. Also die unterschiedlichen Möglichkeiten und Spielarten, mit Liebe umzugehen – allgemein die Frage: Was bedeutet Liebe, was bedeutete sie früher und was bedeutet sie in der Gegenwart?
Gleichzeitig erkunden die Filmemacher*innen ihre eigenen Unsicherheiten. Sie fragen nach der Freiheit, die sie brauchen, und gleichzeitig nach der Verunsicherung, die mit den Schwierigkeiten, mit gewissen Freiheiten zurechtzukommen, einhergeht.
Einige der Filme, so zum Beispiel auch der diesjährige Eröffnungsfilm easy love von Tamer Jandali, verfolgen einen experimentellen Ansatz, um sich diesen Themen zu nähern. Lässt sich in der Öffnung hin zu freieren filmischen Formen eine Tendenz erkennen, wie sich Form und Inhalt verbinden?
Unseren Eröffnungsfilm würde ich als dokumentarischen Spielfilm bezeichnen. Das Spiel mit den Formaten und den hybriden Formen geht einher mit der Suche nach einem „Was bedeutet Leben heute?“ oder „Wie verhalte ich mich, wenn traditionelle Werte über Bord geworfen werden?“. Es geht auch einher mit der Suche nach neuen Regeln, nach einer neuen Art, mit Dingen umzugehen, einer Formensuche – die im Film eben auch eine ästhetische Suche ist.
Häufig geht es den Filmen auch um das Beleuchten von Formen der Kommunikation. Dabei spielen die Sprache, das Sprechen von und über Liebe, der Dialog eine substanzielle Rolle. Dem gesprochenen Wort kommt hier eine besondere Bedeutung zu, ich denke da beispielsweise an Die Einzelteile der Liebe oder Oray…
Sein Thema und seine Form findet Die Einzelteile der Liebe von Miriam Bliese über ein Mosaik. Es wird elliptisch von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft eines Paares erzählt. Die Sprache der beiden verändert sich und je nachdem, wo man sich gerade befindet innerhalb des Films, verändert sich die Zärtlichkeit, die in den Worten liegt. Als Zuschauer*in muss man da sehr aufmerksam sein, um nachvollziehen zu können, wo sich die Charaktere befinden, ob am Anfang der Beziehung oder ob die Trennung bereits vollzogen ist. Das funktioniert tatsächlich über die Art und Weise, wie zwei Menschen miteinander reden und darüber, auf welcher sprachlichen Ebene sie sich gerade bewegen.
Oray von Mehmet Akif Büyükatalay spitzt sich gar auf nur ein einziges Wort beziehungsweise dessen Interpretation zu: Der titelgebende Protagonist spricht im Streit mit seiner Frau die islamische Formel „talaq“ aus, die je nach Auslegung bedeuten kann, dass die beiden eine Beziehungspause einlegen oder sich scheiden lassen müssen. Es führt hier also ein im Übermut ausgesprochenes Wort zu einer essenziellen Sinnkrise, die Oray zu einer Entscheidung zwingt: die Liebe zum Glauben oder die Liebe zu seiner Frau.
Das innere Leuchten ist noch einmal ganz anders. Stefan Sick dokumentiert das Leben demenzkranker Bewohner*innen eines Pflegeheims, die alle nicht mehr mit so vielen Worten unterwegs sind. Sie haben viel vergessen. Ihre Art, sich auszudrücken, ist sehr körperlich und funktioniert eher über Laute. Der Film baut eine unglaubliche Nähe zu seinen Figuren und deren Alltag auf – man muss sie einfach sehr lieb haben. Neben den Ängsten vorm Altern, mit denen der Film uns konfrontiert, werden aber auch die schönen Momente erzählt. Denn obwohl die demenzkranken Menschen dort über keine unmissverständliche Sprache mehr verfügen, keine zusammenhängenden Sätze mehr artikulieren können, so machen sie sich doch über Laute und Körpersprache verständlich.
Der Aspekt des Körperlich-Emotionalen scheint in gewisser Hinsicht auch in der bereits angesprochenen Suche zu liegen, nämlich in der Suche nach Emotionen. Oder präziser: der Suche nach „realen“ Emotionen, nach dem, was Tamer Jandali im Vorspann von easy love „no fake emotions“ nennt. Äußert sich hier eine Abkehr von einem als zu verkopft geltenden Kino?
Zumindest haben wir mehrere Filme im Programm, die sehr das Leben im Hier und Jetzt betonen. Dazu gehören Dreissig (R: Simona Kostova), Heute oder morgen (R: Thomas Moritz Helm) und auf jeden Fall auch easy love. Diese Filme erzählen von und aus der Sicht einer Generation um die 30. Häufig sind auch die Filmemacher*innen in etwa so alt wie ihre Protagonist*innen, die nach dem Motto „Wir wollen es jetzt wissen“ leben, Drogen nehmen, Spaß haben – und damit auch etwaige Verletzlichkeiten überspielen oder zumindest glätten. Dabei spielen weder die Zukunft noch die Vergangenheit eine große Rolle, sondern nur die eine Nacht, die sie haben, das Heute, die Party.
Viele der ausgewählten Arbeiten beschäftigen sich mit einem bestimmten Lebensalter bzw. –abschnitt. Neben der jungen Generation, die exzessiv die Gegenwart lebt, werden in Filmen wie dem schon erwähnten Das Innere Leuchten oder auch in Berlin Bouncer Umstände des Alterns und des Zurückschauens betrachtet…
Ja, gerade unter den Dokumentarfilmen gibt es mehrere Arbeiten, die auf die Vergangenheit blicken. Dabei geht es weniger um das Alter an sich, als mehr um ein Aufspüren der Voraussetzungen der eigenen Existenz.
In Born in Evin zum Beispiel besucht die Regisseurin Maryam Zaree sinnbildlich ihren Geburtsort, ein Gefängnis für politische Gefangene im Iran. Sie befragt ihre Mutter, die über die Umstände der Geburt der Tochter schweigt und sie trifft andere Überlebende, um über das Gespräch mit ihnen dem schrecklichen Ort, aber auch ihrer eigenen Herkunft, auf den Grund zu gehen.
Ein anderer Film, der auch einen Blick in die Vergangenheit wirft, ist David Dietls Berlin Bouncer. Über das Portrait dreier Legenden der Berliner Clubszene wird auch ein Stück deutsche Geschichte erzählt. Die Türsteher Smiley Baldwin, Frank Künster und Sven Marquardt haben sehr unterschiedliche Hintergründe und Werdegänge. Der Film zeichnet diese nach, indem er ihre je ganz eigene Sicht auf das geteilte Berlin zeigt.
Neben dem Blick in die zeitlichen Dimensionen spielt der Ort des Geschehens eine entscheidende Rolle in den ausgewählten Arbeiten. Der Schauplatz ist nicht selten auch ganz explizit an die Biografien der Filmschaffenden, speziell an die Person der Regisseur*innen gekoppelt.
Die Heimat, die Herkunft und die eigenen Wurzeln zu erforschen ist auf jeden Fall ein wichtiger Aspekt im Nachwuchsbereich. Was ich auch gut nachvollziehen kann. Denn einerseits, kehrt man gerne an den Ort seiner Kindheit zurück, andererseits ist das dann auch eine Gelegenheit, der Welt mehr über sich und vor allem über diese Wurzeln zu erzählen.
Die Regisseurin Udita Bhargava ist für Dust in ihre Heimat Indien gereist und schickt den Protagonisten ihres Films dort auf die Suche nach seiner verlorenen Liebe. Oder Hristiana Raykova, deren Dokumentation Die Grube – über ein Warmwasserbecken im bulgarischen Meer und dessen Besucher*innen – in ihrem Geburtsort Varna entstanden ist, wäre auch so ein Beispiel. Raykova skizziert hier den Ort und die Menschen, die ihn bevölkern, zugleich. Diese sogenannte „Grube“ ist seit Generationen ein soziokultureller Raum des Austausches. Viele der älteren Menschen nutzen die Therme wie einen Bäcker oder wie eine Kneipe, als Treffpunkt, wo sie sich ihre Geschichten erzählen und gleichzeitig dafür sorgen, dass dieser Ort erhalten bleibt.
Es ist also ein sehr internationales Programm geworden, läuft aber dennoch unter dem Namen Perspektive Deutsches Kino. Lotet ihr mit einer global umfassenderen Auswahl auch ein Stück weit neu aus, was es bedeuten kann, wenn vom „deutschen Kino“ gesprochen wird?
Vor 18 Jahren hat Dieter Kosslick mit seinem Amtsantritt als Berlinale-Direktor die Perspektive Deutsches Kino als Sektion für den Nachwuchs geschaffen. Sein Anliegen war es, mehr für den deutschen Film zu tun und gezielt auch einen Platz für die jungen Filmemacher*innen zu gestalten. Er wollte und will ihnen die Chance geben, sich auf einem A-Festival neben vielen etablierten Filmschaffenden zu positionieren. Ängste sollen abgebaut werden und Selbstbewusstsein entstehen – das muss ja alles erst erlernt werden: Vor 500 Leuten aufzutreten und in einem Publikumsgespräch seinen Film zu verteidigen oder – wobei das natürlich einfacher ist – zu feiern.
Um auf die Frage zurückzukommen: Die Definition war von Anfang an, dass der Film majoritär deutsch produziert sein muss, das heißt, dass mehr als 50 Prozent deutsches Geld in der Produktion stecken. Und da viele der Filme, die wir zeigen, Erstlingswerke sind, heißt das oft, dass sie an deutschen Filmhochschulen entstanden sind und diese Bedingung erfüllen.
Die Welt hat sich aber auch verändert in den Jahren seit der Entstehung der Perspektive. Vor 18 Jahren sind die Filme im Schnitt noch „deutscher“ gewesen, als sie es heute sind. So, wie sich die Welt geöffnet hat, dass sie sich leichter bereisen lässt, hat sich auch der deutsche Film geöffnet.
Lassen sich noch weitere Faktoren ausmachen, die zu dieser Internationalisierung beitragen?
Ein Punkt ist, dass das Equipment handlicher und leichter geworden ist und sich die Kameratechnik weiterentwickelt hat. Es ist mittlerweile möglich, in viel kleineren Teams zu günstigeren Konditionen auf der ganzen Welt zu drehen.
Umgekehrt merkt man das aber auch: Es kommen viele junge Regisseur*innen aus anderen Ländern nach Deutschland beziehungsweise ganz zielstrebig nach Berlin, um hier ihre Ausbildungen an den Filmhochschulen zu machen und ihr Handwerk zu lernen. Auch deswegen haben sich die Bedingungen in den letzten Jahren stark verändert und heute befinden wir uns in der schönen Position, Debütfilme aus der ganzen Welt zeigen zu können.
Gibt es einen geografischen Schwerpunkt?
Einen kleineren Teil des Programms haben wir in diesem Jahr „Ausflug nach Italien“ genannt.
Zum einen haben wir Off Season von Henning Beckhoff in der Auswahl, der auf Sizilien spielt und mit Godehard Giese und Franziska Petri besetzt ist, die beide mit der Perspektive sehr vertraut sind. Hier ist der Ort sehr präsent inszeniert.
Zum anderen zeigen wir mit Fisch lernt fliegen von Deniz Cooper einen Venedig-Film der ganz anderen Art. Der Film hat etwas Surrealistisches, er ist in 4:3 gedreht, oft sind die Bilder symmetrisch aufgebaut und die Kommunikation zwischen den Figuren ist bühnenwirksam. Vor allem aber die Art und Weise, wie die Stadt hier gezeigt wird, macht den Film außergewöhnlich. Die Dreharbeiten fanden immer in der Morgendämmerung statt, mit einem ganz klaren, speziellen Licht. Und weil es so früh morgens war, sind die Straßen, sogar die Rialtobrücke, wie ausgestorben – die Geschichte entfaltet sich dann entlang dieses entleerten Venedigs.
Neben den ausgewählten Filmen des offiziellen Programms habt ihr dieses Jahr auch wieder Gäste zur Perspektive eingeladen – wer kommt?
Einer der drei Gäste der Perspektive ist in diesem Jahr der Film 6Minuten66, ein filmisches Experiment von Julius und Katja Feldmeier. Die Prämisse ist, dass 15 junge Filmemacher*innen, die gerade angesagt sind und ihre ersten erfolgreichen Filme gelandet haben, während der letztjährigen Berlinale jeweils einzeln in ein Hotelzimmer gebracht wurden. In diesem Zimmer lag ein Zettel mit einer These aus und die Protagonist*innen hatten exakt sechs Minuten und 66 Sekunden – angelehnt an Wim Wenders’ Film Chambre 666 (1982), der ähnlich formalistisch arbeitet – Zeit, um sich vor zwei laufenden Kameras zu dieser Fragestellung zu verhalten. Gefragt wurde bei allen das Gleiche, und zwar nach der Zukunft des Kinos und ob der Ort Kino ihrer Meinung nach auszusterben droht. Die Reaktionen, die der Film schlussendlich montiert, sind wahnsinnig unterschiedlich. Einige haben versucht, kluge Gedanken zu fassen, manche haben ihre Vorstellungen vertanzt und andere haben einfach sehr viel nachgedacht, diese sechs Minuten 66 lang.
Die Filmemacher*innen selbst werden den fertigen Film in seiner Gesamtheit bei uns zum ersten Mal sehen und das wird sicherlich ein schöner Moment, den wir auch nutzen, um im Anschluss eine Podiumsdiskussion mit den Beteiligten zu veranstalten.
Zu gewinnen gibt es auch etwas bei der Perspektive, worum handelt es sich dabei?
Alle zwölf Filme unseres Programms konkurrieren um den Kompass-Perspektive-Preis. Der Preis ist mit 5.000 Euro dotiert und der Kompass, den wir den Gewinner*innen mitgeben, ist für uns ein Sinnbild: Er weist in die filmische Zukunft.
Zudem wird, von der gleichen dreiköpfigen Jury, die auch über den Kompass-Perspektive-Preis entscheidet, gemeinsam mit den Berlinale Talents der Kompagnon-Förderpreis verliehen. Dafür haben die Filmemacher*innen aus dem Perspektive-Programm des letzten Jahres bei uns Treatments eingereicht, die von der Jury jetzt gelesen werden. Und wer dann am Ende ausgewählt wird, bekommt von uns Hilfe zur weiteren Projektentwicklung gestellt. Daher rührt auch der Name. Mal sehen, wer von den Talenten des letzten Jahres die schönste Idee einreicht und wem wir mit einem Kompagnon zur Seite stehen können.