2021 | Perspektive Deutsches Kino
Eine weltweite Suche nach sich selbst
Die 2021er Auswahl der Perspektive Deutsches Kino musste pandemiebedingt etwas verkleinert werden. Welche weiteren Auswirkungen das aktuelle Zeitgeschehen auf die Sektion hat, erzählt Leiterin Linda Söffker im Interview, in dem sie über Werke voller persönlicher Geschichten, die Suche nach Halt in unsicheren Zeiten und vernachlässigte Stimmen im Film spricht.
Wie war es unter den derzeitigen Umständen - mit all der Ungewissheit und Beklemmung - eine Filmauswahl zu machen?
Am schlimmsten war eigentlich, dass man mit den Kolleg*innen nicht gemeinsam sichten konnte. Normalerweise sitzen wir zusammen in einem Kino und diskutieren, was wir gesehen haben. Das ist dieses Jahr weggefallen. Mein Kollege Linus de Paoli, der mit mir die Auswahl macht und mich berät, hat zu Hause geschaut und ich im Büro. Später sogar nur noch von zu Hause. Im Anschluss haben wir telefoniert und uns ausgetauscht. Aber es war nicht so einfach wie sonst, mit den Kolleg*innen, wie der Programmkoordinatorin Maja Goethel oder unserem Schlussredakteur und Social-Media-Experten Max Huber zusammen zu gucken. Es ist mir wichtig, die Meinungen von männlichen Kollegen oder von Leuten, die jünger sind als ich, zu hören, denn sie haben einen anderen Blick und ändern so auch meine Einschätzung von Filmen, die mich sonst vielleicht nicht überzeugt hätten. Dieser unkomplizierte Austausch hat mir gefehlt dieses Jahr.
Zudem wussten wir nicht genau, worauf wir uns einlassen und was wir zeigen können, denn das war sehr stark abhängig vom Konzept der Berlinale unter Corona-Bedingungen. Und auch wenn wir jetzt die Zweiteilung in ein Industry Event und ein Publikums-Event haben, ist noch nicht ganz klar, wie viele Kinos im Sommer dabei sein werden und wie viele Filme wir zeigen können. Klar war von Anfang an, dass es ein anderes Jahr und ein anderes Programm wird, dass es viel kleiner abläuft und wir uns reduzieren müssen. Reduktion ist zwar immer schmerzhaft, aber oft bringt sie einen auch weiter.
Ihr schreibt in der Pressemitteilung, es sei eine „interessante, den Jahrgang kennzeichnende Auswahl für die Perspektive Deutsches Kino“. Was meint Ihr mit diesem kennzeichnenden Element?
Es gibt immer Jahrgänge, in denen sich bestimmte Motive häufen. 2021 gibt es auffällig viele persönliche Geschichten. Reflexionen über sich selbst, die Familie und die Vergangenheit sind häufig Thema beim Nachwuchs, aber so ein extremer Blick auf das, was war, mich geformt hat und wer ich jetzt bin, das war wirklich außergewöhnlich in diesem Jahr. Es wurden 225 Filme eingereicht und ich würde behaupten, dass mindestens jeder zweite eine persönliche Erzählung war. Und es war wahnsinnig auffällig, dass es immer diesen Off-Kommentar gab, eine persönliche Begleitung der Regisseur*innen, die über den Film gelegt ist.
Ein anderes Merkmal ist, dass die Filme überall auf der Welt entstehen, sodass ein deutscher Film nicht unbedingt auf den ersten Blick als solcher erkennbar ist. Die Produktionsbedingungen haben sich verändert, die Leute reisen durch die Welt und gerade in Zeiten wie diesen, in denen nicht gereist werden kann, nutzen sie technische Mittel, um über geografische Grenzen hinweg Geschichten in Hongkong, Kanada oder den USA zu erzählen. Vielleicht bedingt durch die Sehnsucht, woanders zu sein, die jetzt besonders stark ist.
Diese persönlichen Geschichten werden vor allem in dokumentarischen Formen erzählt, sowohl in reinen Dokumentarfilmen als auch in Mischformen. Wie kam es zu dieser Fülle an Dokus?
Das hat mit dem Angebot zu tun. Ein Großteil der Filme, die wir gesichtet haben, wird hybrid erzählt, also als Spielfilm mit dokumentarischen Elementen. Oder in Form eines Dokumentarfilms, der eine spielfilmhafte Dramaturgie aufweist, in Akte aufgeteilt ist und einen so in seinen Sog zieht. Das gilt auf jeden Fall für When a farm goes aflame und Instructions for Survival. Es ist typisch für den Nachwuchsbereich, vom Realfaktischen auszugehen und es zu fiktionalisieren. Das ist eine Art, sich auf Bewährtes zu verlassen oder eine Sicherheit zu finden, in dem, was einen umgibt, und sich dann erst in die Fantasie zu wagen.
Nur ein Film in der Auswahl wird eindeutig als Spielfilm erzählt: Die Saat. Mit Sicherheit sind da auch viele persönliche Erfahrungen und Geschichten von Freund*innen der Regisseurin Mia Maariel Meyer und ihrem Co-Autor Hanno Koffler mit eingeflossen, zum Beispiel, wenn es um den Leistungsdruck in der Gesellschaft, das Zusammenleben der Generationen und Gentrifizierung geht. Aber ich würde die Art, wie der Film gemacht und gefilmt ist, nicht als dokumentarischen Ansatz verstehen.
Anders ist das bei Jesus Egon Christus…
Für den Film haben die beiden Regisseure, Saša und David Vajda, extrem viel recherchiert. Entstanden ist ein Film über Drogensüchtige und psychisch kranke Menschen, die in einer evangelikalen Lebenshilfe in Brandenburg, in der Nähe von Berlin, leben. Um von diesem Ort und seinen Menschen erzählen zu können, haben die Regisseure sehr viele Hilfseinrichtungen für Drogenabhängige besucht. Über Empfehlungen haben sie dann weitere Personen getroffen und auch mit denen über ihre Erfahrungen gesprochen. Ihre Erlebnisse sind ein sehr offenes Drehbuch eingeflossen, das über keine herkömmliche Aktdramaturgie verfügt. Es entfächert sich. So entsteht nach und nach ein Bild der Gemeinschaft in dieser Einrichtung. Es gibt einen Mann, der sich selbst zum Priester ernennt und versucht, den Menschen, die dort leben, Gott nahe zu bringen. Das hat eine große visuelle Kraft. Auch wenn der Film nur 50 Minuten dauert, gehört er auf jeden Fall ins Kino und auf die große Leinwand. Es widerspricht sich auch nicht, einen dokumentarischen Ansatz zu wählen und gleichzeitig visuell so groß zu sein, dass sowohl bildlich eine Leinwand gefüllt wird als auch im Kopf der Geschichte so viel Raum gegeben wird, dass man ein Gefühl von Kino bekommt.
Der Dokumentarfilm In Bewegung bleiben unterstreicht, dass es keinen Widerspruch zwischen dokumentarischem Inhalt und dramatischem Aufbau geben muss.
Der Film erinnert an ein Theaterstück oder an ein klassisches Musikstück, das in Akte unterteilt ist. Über die verschiedenen Tänzer*innen und Choreograph*innen, die ihre Vergangenheit reflektieren und über sich im Heute und das Ende der 1980er-Jahre in der DDR reden, entsteht eine große gemeinsame Erzählung. Obwohl neun verschiedene Menschen ihre Geschichten erzählen, ergibt es am Ende eine große Geschichte - und der Film ist 140 Minuten lang! Der Regisseur Salar Ghazi hat wirklich ein besonderes Talent zu schneiden, er hat bisher auch hauptsächlich als Editor gearbeitet. In Bewegung bleiben ist seine erste Regiearbeit und er zeigt, dass er über 140 Minuten einen Fluss aufrechterhalten kann, der einen so dermaßen mitzieht, dass man jede*n einzelne*n Tänzer*in und seine/ihre Geschichte verfolgt und gleichzeitig das große Ganze im Blick behält: Die Art, in der Künstler*innen in der DDR privilegiert waren. Mit ihren Gastspielen durften sie den Westen bereisen und standen dann immer wieder vor der Frage: gehen oder bleiben? Gehe ich zurück in den Osten oder bleibe ich im Westen? Was habe ich dort und was habe ich hier?
Etwas anders verhält es sich mit dem Dokumentarfilm When a farm goes aflame. Hier nimmt der Film eine unerwartete Wendung und bringt sowohl für den Regisseur als auch dessen Mutter etwas Neues ans Licht.
Der Regisseur Jide Tom Akinleminu hat vor einigen Jahren in Nigeria einen Film über seinen Vater gemacht: Portrait of a Lone Farmer (2013). Während der Dreharbeiten hat er, mehr aus Versehen, mitbekommen, dass sein Vater eine zweite Familie in Nigeria hat. Er selbst ist als Zehnjähriger mit seiner Mutter von Nigeria nach Dänemark gezogen. Obwohl die Eltern räumlich getrennt waren, haben sie ihre Beziehung aufrechterhalten, nur dass der Vater in Nigeria und die Mutter mit ihrem Sohn in Dänemark lebte. Aber dass der Mann in Nigeria dann eine zweite Familie gegründet hat, das wussten sie nicht und es ist erst 30 Jahre später durch einen Zufall ans Licht gekommen. Warum das so war und wie es zu diesem langen Schweigen kam, davon erzählt der Film.
In Wood and Water macht sich eine Mutter, die tatsächlich auch die Mutter des Filmemachers ist, auf die Suche nach ihrem Sohn. Inwieweit ist es ein Produkt unserer digitalen Gesellschaft, dass persönliche Beziehungen so stark in den Fokus gerückt werden?
Wir tun immer so, als ob Entfernungen in digitalen Zeiten gar nicht existieren würden und sie mit den richtigen technischen Mitteln ganz leicht zu überwinden wären. Durch Videocalls und Smartphones kann man das Gefühl entwickeln, die Mutter sei um die Ecke, obwohl sie in Deutschland lebt und der Sohn in Hongkong - wie es eben in Wood and Water der Fall ist. Aber so ist es eben nicht. Es bleibt etwas auf der Strecke an Emotionen, Zuneigung, Haptik... Das ist das eine. Ich glaube aber, dass es noch einen anderen Grund gibt, warum so viele persönliche Geschichten und so viel vom Suchen nach Beziehungen erzählt wird. Es hat sicher damit zu tun, dass man sich in unsicheren Zeiten, wenn man nicht weiß, was einen gerade im Griff hat und wo es hinführt, auf die Familie besinnt. Mehr denn je sucht man nach etwas, das einem Kraft oder Halt gibt - und das kann eben auch die Suche nach dem Vater oder der Mutter sein.
Es sind viele persönliche Erlebnisse und Erfahrungen innerhalb der Familie des Regisseurs Jonas Bak in Wood and Water eingeflossen. Als junger Mann war er viel in der Welt unterwegs, hat in London und Hongkong gelebt. Als seine Mutter in Rente gegangen ist, wollte er eine Geschichte darüber erzählen, wie eine Frau einsam ist, aber die Rente noch mal nutzt, um etwas Neues im Leben zu entdecken. Im Film organisiert die Mutter zu ihrem Renteneintritt eine Familienzusammenkunft an der Ostsee, zu der ihr Sohn, der schon drei Jahre nicht mehr in Deutschland war, wieder nicht kommt. Er lebt in Hongkong und wegen der Proteste sind die Flughäfen lahmgelegt. Die Mutter reist daraufhin selbst nach Hongkong. Sie kommt ganz allein dort an, spricht die Sprache nicht. Es ist ein fremdes Land für sie, aber wie sie sich dann dort alleine zurechtfindet, hat mich sehr beeindruckt: Wie sie in ein Hostel geht für eine Nacht und dort mit einer jungen Frau in einem Zimmer im Doppelstockbett übernachtet oder wie sie mit dem Concierge des Hauses, in dem ihr Sohn wohnt, zusammen essen geht oder zu einem Wahrsager.
Die Erzählgeschwindigkeit passt sich auch der Perspektive an, sie hat schon fast etwas Meditatives und ist sehr darauf fokussiert, was die Mutter macht.
Die Protagonistin nimmt sich die Zeit, die Stadt für sich zu entdecken, sich die Proteste anzugucken und sich ein eigenes Bild zu machen. Die Geschwindigkeit ist dem Alter der Frau angepasst. Sie macht nicht alle Erfahrungen sofort und schnell, sondern lässt sie wohlüberlegt und langsam auf sich zukommen. Es hat, wie du sagst, etwas Meditatives und zeigt auch eine gewissermaßen unterrepräsentierte Gruppe: ältere Leute auf Entdeckungsreise. Natürlich gibt es viele Filme über ältere Menschen aber die meisten Filme erzählen eben von jungen Menschen, die die Welt entdecken. Wenn jemand seinen ersten Langfilm macht und dann von seiner Mutter erzählt und zeigt, wie sie die Welt sieht, finde ich das einen besonderen Blick.
Als titelgebende Frage steht über Eurem Programm: Wie und wo wollen bzw. können wir leben? Für Alex und Mari, die Protagonist*innen der Dokumentation Instructions for Survival, ist diese Frage ganz existenziell.
Hier ist es so, dass Alexander aufgrund seiner Trans*identität in seiner Heimat Georgien im Verborgenen leben muss. Er kann keine legale Arbeit finden, weil in seinem Pass das Geschlecht „weiblich“ steht. Er läuft also Gefahr aufzufliegen, sobald er sich ausweisen muss. Der einzige Weg, den die beiden sehen, liegt darin, das Land zu verlassen, damit Alex endlich in seinen offiziellen Dokumenten einen Nachweis über seine männliche Identität bekommen kann. Sie beschließen, dass Mari eine Leihmutterschaft übernimmt und ein Kind für eine Europäerin austrägt. Dafür bekommt sie 12.000 Dollar, genug Geld, um nach Europa zu fahren.
Dort sind dann aber auch nicht alle Probleme gelöst. Zwar erhält Alex seine offiziellen Ausweisdokumente und das ist eine Befreiung für beide, aber der Asylantrag oder die Arbeitssuche gestalten sich schwierig. Das erzählt der Film dann eben auch. Sie sind nicht im Goldenen Westen, der die Erlösung bringt. Vor allem bleibt das Verlangen nach der Heimat. Die beiden sehnen sich zurück nach Hause, in ihre Sprache, zu ihren Freund*innen.
Angesichts dieser sehr weltumspannenden Handlungsorte und Biografien der Regisseur*innen bleibt noch eine Frage, die du auch schon am Anfang angeschnitten hast. Was kennzeichnet den deutschen Film?
Das ist immer nicht so einfach. Als „deutsch“ gilt ein Film, wenn er majoritär, also zu über 50%, aus deutschen Geldern produziert wurde. Dabei ist es nicht wichtig, woher der Regisseur oder die Regisseurin kommt. Auch der aktuelle Wohnsitz muss nicht in Deutschland sein. Wenn man aber vom deutschen Film redet, der als solcher erkennbar ist, dann geht es ja meist darum, dass die Sprache Deutsch ist oder dass er irgendwo in Deutschland spielt. Das ist oft die naheliegende Assoziation, die wahrscheinlich auch in den meisten Fällen der gedrehten Filme zutrifft. Aber der Wettbewerbsbeitrag von Alexandre Koberidze Ras vkhedavt, rodesac cas vukurebt? (Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?) zum Beispiel ist ein an der DFFB produzierter Spielfilm, der in Georgien spielt. Man sieht auch auf den ersten Blick nicht, dass es ein „deutscher Film“ ist. Aber von den Produktionsbedingungen her ist er das.
Zum Schluss noch eine organisatorische Frage. Werdet ihr dieses Jahr wieder Preise vergeben?
Wir sind noch mitten in der Planung für das Summer Special. Aber ja, den Kompass-Perspektive-Preis und den Heiner-Carow-Preis der DEFA-Stiftung möchten wir sehr gern auch 2021 vergeben. Die Gespräche laufen.