2021 | Berlinale Shorts
„Erzähl mir von Dir, damit ich die Welt verstehe“
Wie begegnet die Sektion diesem besonderen Jahr und was hält die diesjährige Auswahl für das Publikum bereit? Ein Gespräch mit der Sektionsleiterin Anna Henckel-Donnersmarck.
„Erzähl mir von Dir, damit ich die Welt verstehe“ hast Du als Überschrift gewählt für das diesjährige Programm der Berlinale Shorts. Was meinst Du damit?
Ich denke, dass in dieser Welt, die sich immer mehr polarisiert, Zuhören immer wichtiger wird: die Bereitschaft aufzubringen, dem Gegenüber – sei es einer Person, einem Thema, einem Kunstwerk – erstmal unvoreingenommen zu begegnen und es sprechen zu lassen. Dafür ist es notwendig, seine eigene Echokammer zu verlassen, die einem sowieso nur liefert, was man hören will oder bestätigt, was man zu wissen glaubt.
Kunst an sich und der Film im Besonderen ermöglichen dieses Zuhören und Sich-Einlassen. Sie helfen uns, die Wirklichkeit mit der Wahrnehmung eines anderen Menschen zu erfahren, neu zu denken und unseren Platz darin zu finden. Und genauso, wie wir den Film brauchen, braucht der Film uns, das Publikum, damit er seinen Widerhall finden und weiterschwingen kann.
Gerade in Zeiten, in denen unser Bewegungsspielraum und Erfahrungshorizont sogar physisch auf die eigenen vier Wände reduziert wird, brauchen wir die Kultur, um beides wieder erweitern zu können.
Wie haben sich die weltweiten Geschehnisse des Jahres 2020 in den Einreichungen bemerkbar gemacht?
Wir haben mit vielen Corona-Tagebüchern gerechnet. Letztlich haben wir aber wenige bekommen und die, die wir genommen haben, sind sehr unterschiedlich:
International Dawn Chorus Day von John Greyson benutzt das Format, das wir wahrscheinlich alle bis zum Umfallen im letzten Jahr gesehen haben, nämlich die Videokonferenz. Nur treffen sich hier keine Menschen, sondern Vögel, die, weltweit verstreut, Gerüchte und Beobachtungen austauschen über politisch Verfolgte in der Heimat und im Exil. Ein sehr berührender Film über Solidarisierung in und mit der queeren Community, einerseits leichtfüßig und andererseits tieftraurig, tragisch und hoch politisch.
Ventana (Window) geht wieder ganz anders mit diesem Jahr um. Der Regisseur Edgar Jorge Baralt hat die Zeit im Lockdown genutzt, um Fotos zu sortieren und aus diesem Fotosortieren und Erinnern entstand der Film als Fenster zur Vergangenheit, aber vielleicht auch als Fenster zur Zukunft. Auch wenn der Lockdown selbst nicht konkret thematisiert wird, spürt man ihn. Vadim na progulke (Vadim on a Walk) ist bestimmt auch eine Reflexion dieses Lockdown-Jahres.
Wie ist denn generell die Auswahl an Filmemacher*innen? Sind alte Bekannte dabei?
Ein alter Bekannter der Berlinale Shorts ist zum Beispiel der Regisseur Ulu Braun. Er ist 2021 mit Das Glitzern im Barbieblut (Glittering Barbieblood) vertreten. Braun kommt aus der Malerei und arbeitet viel mit Assemblagen. Seine Filme, von denen wir in den letzten Jahren vier gezeigt haben, sind wie animierte Fotocollagen, das Bild setzt sich aus vielen Schichten und Fragmenten zusammen. Diesmal findet die Collage nicht so sehr auf der visuellen Ebene, sondern viel mehr in der Erzählung statt, also in der Kombination aus vorgefundenem und nachinszeniertem Material. Er macht damit ein neues Kapitel auf und bleibt sich gleichzeitig selbst treu.
Diogo Costa Amarante hat auch bereits einige seiner Filme bei uns präsentiert und 2017 den Goldenen Bären gewonnen. Im darauffolgenden Jahr war er Mitglied der Jury der Berlinale Shorts. Luz de Presença (A Present Light) ist wieder getragen von wunderschönen, poetischen Bildern und einer fast magischen Atmosphäre.
Und auch Sasha Svirsky kennt das Berlinale Shorts-Publikum bereits, er bringt dieses Jahr seinen Animationsfilm Vadim na progulke (Vadim on a Walk) mit. Da sein letzter Film eine amüsant-knallige Heldengeschichte war, waren wir wieder auf etwas Lustiges eingestellt. Umso erstaunter waren wir zu sehen, wie hier mit einer ganz anderen Ernsthaftigkeit und vielleicht auch Verzweiflung dieses merkwürdige Jahr 2020 filmisch verarbeitet wurde.
Wie ein Verarbeitungsprozess wirkt auch der Experimentalfilm One Thousand and One Attempts to Be an Ocean von Wang Yuyan, die zum ersten Mal bei der Berlinale ist. Es geht um die Informations- und Bilderflut, die uns das Internet ständig auf die Bildschirme spült. Es ist ein sehr haptischer Film, man hat das Gefühl, das Videomaterial sei geknetet worden bis es so flüssig wurde, dass es einem durch die Finger gleitet und man sich nur noch von ihm mitreißen lassen kann.
Bárbara Wagner und Benjamin de Burca, die bereits den Audi Award 2019 gewonnen haben, sind mit One Hundred Steps vertreten. Sie bewegen sich eher im Kunstkontext und arbeiten mit Gemeinschaften, für die Musik ein identitätsstiftendes Bindeglied ist. Diesmal lassen sie Musiker*innen auf historisch aufgeladene Orte treffen, wodurch eine sehr interessante Spannung entsteht – immaterielles Kulturgut tritt in Dialog mit gebauten Manifestationen von Macht und Privilegien und hinterfragt damit die konventionelle Geschichtsschreibung.
Eine weitere Auseinandersetzung mit Historie findet auch in anderen Filmen statt.
Ja, mit Strange Object schaut sich Miranda Penell die Kolonialgeschichte genau an, analysiert sie im Detail und widerlegt damit die etablierten Interpretationen. Dieser Film ist Teil eines größeren Projekts zu dieser Thematik, an dem sie weiterarbeitet.
In Al motociclista no le cabe la felicidad en el traje (Motorcyclist’s Happiness Won’t Fit Into His Suit) von Gabriel Herrera wird Geschichte auf eher schelmenhafte Weise neu geschrieben.
Wie steht es um die Auseinandersetzung mit der Gegenwart?
Güzin Kar, die bisher Langfilme und Serien gemacht hat und regelmäßig Kolumnen für Schweizer Zeitungen schreibt, wirft mit ihrem Kurzfilm Deine Strasse einen sehr eindringlichen Blick auf die jüngste Vergangenheit und damit aber leider auch auf unsere Gegenwart. Der Film thematisiert den rassistischen Brandanschlag 1993 in Solingen, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen. Es geht um Erinnerungskultur oder besser Verdrängungskultur, die mit diesem Ereignis verbunden ist und führt einem abermals vor Augen, dass es sich bei diesen Anschlägen, Morden und Straftaten nicht um Einzelfälle handelt. Kars brillant geschriebener Text, dem die Schriftstellerin Sibylle Berg ihre Stimme geliehen hat, geht einem durch Mark und Bein.
Traumata im eigenen Körper und in Familien, sowie die Auswirkungen von toxischer Männlichkeit werden in den Filmen A Love Song in Spanish, Nanu Tudor (My Uncle Tudor), aber auch dem Animationsbeitrag Easter Eggs thematisiert.
Bei Nanu Tudor (My Uncle Tudor) geht es um eine Missbrauchsgeschichte in der eigenen Familie. Der Film ist nicht nur eine Begegnung mit dem Täter, sondern auch eine Konfrontation mit dem Risiko, dass unbeschwerte Momente und ungetrübte Erinnerungen nicht mehr möglich sind. Wenn das Schweigen gebrochen wird, bekommt das Idyll Risse und Lebenslügen sind nur noch schwer aufrecht zu halten. Gleichzeitig stellt der Film für die Regisseurin Olga Lucovnicova auch eine Befreiung dar, die ohne das Sprechen nicht möglich gewesen wäre.
Auch A Love Song in Spanish setzt sich mit Erinnerungen auseinander, die sich in den Körper eingeschrieben haben. Es geht um das Kriegstrauma einer ganzen Gesellschaft, das weggeschwiegen wird und trotzdem oder gerade deswegen die Familien zerstört. Denn die destruktive Kraft des Krieges macht auch vor seinen Tätern nicht Halt. Ana Elena Tejera tastet sich filmisch an das Schicksal ihrer Großeltern heran und lässt Bilder und Gesten sprechen, um die Sprachlosigkeit zu überwinden.
Der Animationsfilm Easter Eggs ist das Porträt einer ungleichen Freundschaft zwischen zwei Jungs an den verschiedenen Enden der Pubertät. Was lasse ich mit mir machen und was nicht? Warum bin ich so wie ich bin, obwohl ich doch gar nicht so sein will? Und wie gehe ich mit der Wut um, die in mir steckt? Trotz dieser düsteren Thematik geht man am Ende fast verzaubert aus diesem Film.
Pubertäres Gefühlschaos treibt der Film Si t’as un coeur (Young Hearts) auf die Spitze.
Genau, der Film transportiert das Gefühl eines heißen Sommers, der doch irgendwann zu Ende gehen wird, auch wenn man immer noch nicht geknutscht hat. Die Regisseurin Émilie Vandenameele kommt vom Theater und das ist vielleicht auch das, was diesen Film so wunderbar merkwürdig macht in der Art, wie diese jungen Menschen sich bewegen, aber auch wie die Dramaturgie total ungestüm durch diesen Film galoppiert. Man hat fast das Gefühl einem Tanzstück zuzuschauen.
Eine Art Tanzperformance ist auch Blastogenese X von Conrad Veit und Charlotte Maria Kätzl. Er beobachtet Wesen, die die Grenzen zwischen Mensch und Tier, zwischen männlich und weiblich ad absurdum führen. Die Bewegungen sind so zauberhaft und die Kostüme so phantasievoll, dass man sich diesem konstruierten Naturschauspiel mit einem Lächeln hingibt. Für mich ist dieser Film ein besonderes Exemplar der Illusionsmaschine Kino.
Das Herstellen von Illusion ist auch Thema in Rehearsal von Michael Omonua. Hier geht es unter anderem um eine Wunderheilung bzw. die Inszenierung einer Wunderheilung. Der Film spielt mit den performativen Elementen von Kirche und Gottesdiensten und den verschiedenen Möglichkeiten, wie Glaube manipuliert und instrumentalisiert werden kann.
Kommen wir zurück zum Erwachsenwerden. Dies spielt auch in einigen anderen Filmen eine zentrale Rolle.
In Zonder Meer begegnet die vierjährige Lucie zum ersten Mal dem Thema Tod. Ich habe selten Kinder gesehen, die so selbstverständlich vor der Kamera agieren wie in diesem Film. Eine Inszenierung ist nicht zu spüren. Gleichzeitig sind die Bilder sehr sorgfältig komponiert und vom Stativ aus gedreht. Wie die Regisseurin Meltse Van Coillie das geschafft hat, ohne das wunderbar Skizzenhafte zu verlieren, ist mir ein Rätsel.
Eine ähnliche Leichtigkeit hat der autobiografisch inspirierte Xia Wu Guo Qu Le Yi Ban (Day Is Done) von Zhang Dalei. Übrigens auch ein Sommerfilm. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, der zwischen der Pubertät und dem Erwachsensein hängt. Er besucht noch einmal gemeinsam mit der Familie den Großvater, bevor er das Elternhaus verlassen wird, um studieren zu gehen. Der Film arbeitet mit Zwischentönen, Blicken und Andeutungen. Ein Hauch von Melancholie liegt in der Luft. Und auch hier gibt es diesen schönen Moment des Zuhörenwollens, wenn der Großvater den Enkel bittet: „Komm, zeig mir mal den Film, den du gemacht hast“.
Dieses Motiv greift Livia Huang in More Happiness auf, wenn die junge Frau ihre Mutter am abendlichen Küchentisch darum bittet ihr zu erzählen, wie sich die Eltern kennengelernt haben. Es ist die Begegnung zwischen einer Tochter, die in Amerika aufwuchs und ihrer Mutter, die aus China in dieses Land eingewandert ist. Beide haben einen unterschiedlichen Blick auf das Leben und die Liebe. Irgendwann fällt der rührende Satz: „Mutter, gib mir einen Rat.“ Und die Mutter erwidert: „Du brauchst keinen Rat, du bist schon so klug.“
Das bereits erwähnte Das Glitzern im Barbieblut handelt auch von einer Mutter und ihren zwei Töchtern, von denen eine sich schließlich auf den Weg macht, die Welt zu erkunden, obwohl sie eigentlich noch viel zu jung ist. Aber die Mutter vertraut ihr und lässt sie gehen. Der Film ist sehr verschachtelt, spielt auf mehreren Ebenen und verweigert sich den gängigen Erzählkonventionen.
Muss man einen Film eigentlich immer direkt verstehen?
Ich denke, dass das oft gar nicht möglich ist. Dass manche Filme erstmal nachwirken müssen bevor sie sich entfalten können. Manchmal ist es ja auch erst durch ein Gespräch danach, dass man seinen Zugang zu dem Film findet. Ich schau mir Kurzfilme auch gerne mehrmals an und merke dann, dass sie gar nicht so kompliziert sind wie ich beim ersten Mal dachte.
Les Attendants (The Men Who Wait) von Truong Minh Quý ist so ein Film. Er hat mich beim ersten Sehen gleich sehr beeindruckt aber auch verstört, weil er mit vielen tabuisierten Bildern arbeitet. Man könnte ihn als billige Provokation abtun, aber dafür ist er viel zu präzise in seiner Machart, viel zu vielschichtig in den Themen, die er miteinander verwebt und auch viel zu zärtlich in der Art der Inszenierung. Für mich geht es in diesem Film um die Sehnsucht nach Geborgenheit – eine Geborgenheit, die vielleicht in einer sexuellen Begegnung zu finden sein kann.
Was sind denn deine Wünsche an das Publikum, wie sie den Filmen begegnen sollen?
Tatsächlich muss ich mir gar nicht viel wünschen, weil wir so ein tolles Publikum haben. Bei unseren Vorführungen bin ich jedes Mal total gerührt und begeistert, wie voll unsere Säle sind. Wir haben Stammgäste und Gesichter, die man immer wieder entdeckt im Publikum, und wir bekommen ehrliches Feedback, sowohl positives als auch negatives. So werden wir jedes Jahr aufs Neue als Sektion angeregt und herausgefordert. Wir haben ein Publikum, das nicht bedient werden möchte, sondern eines, das sich auseinandersetzen möchte.
Der Kurzfilm als solcher lädt ja geradezu ein, Dinge zu entdecken und sich auf ungewohnte Blickwinkel und Herangehensweisen einzulassen. Wer darauf Lust hat, wird definitiv bei uns fündig. Insofern wünsche ich mir gar nichts außer: Bleibt so offen und neugierig. Wir freuen uns auf euch im Juni!
Die Kurzfilme werden der Öffentlichkeit erst im Sommer präsentiert, aufgrund der Pandemie ist die Berlinale dieses Jahr ein Festival in zwei Stufen. Was passiert von März bis zum Sommer? Wie wird der Bogen gespannt? Wie werden die Filmemacher*innen und Filme begleitet?
Die Filme werden vom 1.-5. März einem Branchenpublikum gezeigt. In der Zeit werden auch die Bärenpreisträger*innen verkündet. Ich freu mich, dass wir mit dem ägyptischen Künstler Basim Magdy, der österreichischen Kamerafrau Christine A. Maier und dem deutschen Schauspieler Sebastian Urzendowsky eine Jury gewinnen konnten, die aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Filme schaut.
Wir hoffen, dass die Filme ab dem 6. März in die Welt reisen und ihre Leinwände finden. Wir begleiten sie auf dem Weg, indem wir unsere Social-Media-Community auf dem Laufenden halten wann und wo die Filme zu sehen sind.
Zusätzlich werden wir auf unserem Blog unter anderem Interviews mit den Filmemacher*innen und Texte zu den Filmen veröffentlichen, damit, wer möchte, noch mehr in die Tiefe gehen kann. Dort werden im Sommer auch wieder die Skizzen der Künstlerin Dorothea Schulz zu finden sein, die im dunklen Kinosaal zeichnet, während die Filme die Leinwand erleuchten.