1987

37. Internationale Filmfestspiele Berlin

20. Februar – 03. März 1987

„Es ist recht selten geworden, dass ich an einem Festival teilgenommen habe, wo ich das Gefühl hatte, hier wird verstanden, was meine Arbeit in ihrer Individualität bedeutet ... Die Vorführung von The Journey im Februar 1987 auf dem Forum war die wichtigste professionelle Erfahrung, die wir mit dem Film bisher machen konnten, und wir bedauern es außerordentlich, daß wir ähnliche Erfahrungen in den folgenden Jahren nicht haben finden können - ein weiteres Indiz für die Einzigartigkeit Ihres Festivals.“ – Peter Watkins in einem Schreiben an das Forum.

Manfred Salzgeber und Wieland Speck. 1987 wurde erstmals der schwullesbische "Teddy" vergeben.

Glasnost und Perestojka: Die Tresore werden geöffnet

Die Berlinale 1987 war geprägt von den politischen Veränderungen in der Sowjetunion. Die Politik Michail Gorbatschows hatte eine umfassende Demokratisierung und Entkrampfung zur Folge: „Glasnost“ und „Perestrojka“ - Transparenz und Umgestaltung - waren die beherrschenden politischen Begriffe der Zeit.

Innerhalb der sowjetischen Filmwirtschaft hatte es wegweisende personelle Veränderungen gegeben: Zum Vorsitzenden des staatlichen Filmbüros „Goskino“ war der Reformer Aleksandr Kamschalow ernannt worden und dem Verband der Filmschaffenden stand nun der Regisseur Elem Klimow vor, dessen Filme lange Zeit mit Exportverbot belegt waren. Sein Film Prostschanje | Abschied von Matjora war 1984 nicht für die Berlinale freigegeben worden und lief nun 1987 außer Konkurrenz. Die Tresore der Zensurbehörde waren geöffnet worden und eine russische Sichtungskommission sichtete sich durch bislang unterdrückte Meisterwerk von Elem Klimow, Gleb Panfilow, Aleksandr Sokurow, Kira Muratova, Sergej Paradshanow und vielen anderen. Erstmals bekam die sowjetische Öffentlichkeit die großartigen Filme ihrer Landsleute zu sehen, diskriminierte Werke wurden rehabilitert, und einige – wie Andrej Tarkowski – kamen dabei zu posthumen Ehren.

Elem Klimow, Gleb Panilow

Die Berlinale wird zum Forum für das neue sowjetische Kino

Berlinale war das erste internationale Forum für diese Filme. In allen Sektionen des Festivals wurden 1987 bislang verbotene und verschwiegene Filme aus der Sowjetunion gezeigt. Im Wettbewerb liefen Gleb Panfilows Tema und Aleksandr Sokurows Skorbnoje Bestschuwstschje | Gramvolle Gefühllosigkeit nach Bernhard Shaws „Heartbreak House“. Tema wurde von der Internationalen Jury mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet und Sokurows Film erregte viel Aufsehen mit seiner stilistischen Gewagtheit, seiner exzentrischen und doch so beherrschten Bildsprache.

Auf der Berlinale zeigte sich ein neues sowjetisches Kino, von einer bisher im Westen nur geahnten Kreativität, von einer Fabulier- und Bilderwut, die auch verstörend wirkte, wohl für beide Seiten“, erinnert sich Wolfgang Jacobsen in „50 Jahre Berlinale“. Als „Reykjavik des Films“ wurde diese Berlinale in Anspielung an den Handschlag zwischen Reagan und Gorbatschow in der isländischen Hauptstadt genannt. Einen Handschlag gab es auch in Berlin: zwischen Elem Klimow und Jack Valenti, dem Präsidenten der amerikanischen Filmproduzenten-Vereinigung. Beide wurden für ihr Aufeinanderzugehen von der Berlinale mit einer Berlinale Kamera geehrt.

Auch im Kinderfilmfest zeigten sich die Früchte von Perestrojka. Der Berlinale-Delegierte für den osteuropäischen Film, Hans Joachim Schlegel, hatte mit Igry dlja detej Schkol nogo vozrasta | Spiele für Kinder im schulpflichtigen Alter auch eine erstklassige Empfehlung für das Kinderfilmfest im Gepäck. Der Film zählte zu den Schlüsselfilmen der sowjetischen Kinder- und Jugendfilmproduktion dieser Zeit und erhielt auf der Berlinale den UNICEF-Preis. „Was heute in filmgeschichtlichen Betrachtungen gern vergessen wird“, erinnerte sich Schlegel später, „ist die Tatsache, dass wesentliche Impulse für eine ungeschminkte Darstellung der Probleme in der sowjetischen Gesellschaft… aus dem Kinder- und Jugendfilmbereich kamen.“

Der erste Gewinner des Teddy Award: Pedro Almodovar für La ley del deseo

Das Atomzeitalter wirft seine Schatten

Im Forum liefen Filme der georgischen Regisseure Agasi Aiwasan und Sergej Paradshanow, im Panorama vor allem Dokumentarfilme, die sich der „Wahrheit“ des real Existierenden näherten. Rolan Sergejenkos Dokumentarfilm Kolokola Tschernobylja | Die Glocken von Tschernobyl war mit Spannung erwartet worden, traf aber erst verspätet in Berlin ein und wurde dann in einer ausverkauften Sondervorführung gezeigt. Das Reaktorunglück von Tschernobyl war eines der einschneidendsten Ereignisse des Jahrzehnts und hatte der Debatte um die nukleare Bedrohung eine neue Qualität und Dringlichkeit gegeben.

Wo es bei Sergejenkos Film noch einen Zwiespalt zwischen den unmissverständlichen Bildern und einem beschwichtigenden Kommentar gab, war Peter Watkins’ The Journey der Versuch, dem Unbehagen und der Angst Worte zu geben. Über 14 Stunden dauert diese Filmreise, die den Betrachter durch fünf Kontinente, zwölf Länder und acht Sprachen führt und dabei nicht weniger leistet als eine Zustandbeschreibung der Welt im Zeitalter der globalen atomaren Bedrohung. „Watkins führt nicht nur einen an Informationen überreichen, weltumgreifenden Dialog über den Wahnsinn einer als real geltenden Perspektive: Krieg; er zeigt, dass er die Herstellung des Films selbst als eine Reise der Agitation verstand, als Werkzeug der Zwiegespräche“, schrieb Michael Kötz im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“. Maßstab auch für Watkins’ spätere Arbeit ist das Reale – und das Reale hatte begonnen total zu werden.

„Ein Film, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet“ sollte in Zukunft jedes Jahr auf der Berlinale preisgekrönt werden. Léos Carax’ Mauvais sang war der erste Preisträger. Im Oktober 1986 war der langjährige Festivalleiter Alfred Bauer verstorben. Der neue Preis wurde nach ihm benannt, der das Festival auf den Weg gebracht und etabliert hatte. Bis 1996 wurde der Preis unregelmäßig, danach jährlich vergeben. Ab 2013 unter dem Titel Silberner Bär Alfred-Bauer-Preis. Aufgrund der Erkenntnisse über Alfred Bauers Wirken während des NS-Regimes in der Zeit vor 1945 firmierte die Auszeichnung ab 2020 nicht mehr unter seinem Namen. Stattdessen wurde 2020 zunächst ein Silberner Bär – 70. Berlinale vergeben und ab 2021 der Silberne Bär – Preis der Jury.