2020

70. Internationale Filmfestspiele Berlin

20. Februar – 1. März 2020

Best of Berlinale 2020

Zahlen und Fakten 2020

Mit der Doppelspitze und einem stärkeren Fokus auf inhaltliche Diversität ist die Berlinale zeitgemäßer als die Festivals in Cannes und Venedig aufgestellt.
Andreas Busche, „Der Tagesspiegel“, 20.02.2020

2020 war ein Jahr der Übergänge, das viel Neues brachte, aber auch stark an die Traditionen des Festivals anknüpfte. Das neue Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian vollzog den Wechsel an der Spitze in aller Gelassenheit und nahm in seinem ersten Jahr Erneuerungen vor, ohne die Identität des Festivals in Frage zu stellen. „Ich glaube, dass die Hoffnung auf eine Revolution oder eine radikale Reform mehr der Wunsch der deutschen Presse war. Als wir beide zur neuen Festivalspitze ernannt wurden, haben wir schnell und deutlich klargemacht, dass die Berlinale ein gut aufgestelltes Festival ist und keine drastischen Änderungen braucht“, erläuterte Carlo Chatrian im Gespräch mit „Deutschlandfunk Kultur“ (15.02.2020). Und wie ihr Vorgänger Dieter Kosslick trafen sie in ihrem ersten Jahr auf eine Welt außerhalb des Festivals, die nie mehr dieselbe sein würde. Zu Kosslicks Amtsantritt 2001 war es der 11. September, der die Politik und die Gesellschaft auf Jahrzehnte hinaus verändern würde, 2020 war es ein Virus, dessen Auswirkungen das globale Weltgeschehen bestimmte wie kein anderes Ereignis.

Das neue Leitungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek

Rissenbeek und Chatrian waren 2018 mit einem klaren Auftrag ins Rennen geschickt worden: durch die Doppelspitze sollten eindeutige Verantwortungsbereiche geschaffen werden. Die geschäftlichen Abläufe fallen primär in den Aufgabenbereich von Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian ist als Künstlerischer Leiter für das Programm zuständig. Der jahrelange Ruf nach einer Aufteilung der Kompetenzen war erhört worden.

Zunächst musste sich die neue Leitung im Krisenmanagement beweisen, was sie mit Souveränität meisterte. Das Cinestar im Sony-Center wurde Opfer der steigenden Mieten in Berlin und musste zum Jahreswechsel den Betrieb einstellen. Dem Festival brach damit eine der zentralen Spielstätten am Potsdamer Platz weg. Und die logistischen Probleme gingen weiter: Im Berlinale Palast probte die Bühnenshow „Magic Mike“ für ihre Auftritte im Februar und musste erst überzeugt werden, den Spielbetrieb für die Zeit des Festivals auszusetzen. Die Potsdamer Platz Arkaden, zentrale Anlaufstelle für die Verpflegung der Festivalgäste, leerten sich, da der komplette Umbau des Komplexes in den Folgejahren vorbereitet wurde. Ein Geschäft nach dem anderen schloss und es blieb eine gespenstische Atmosphäre. Zudem war die Heimstätte der Generation, das Haus der Kulturen der Welt, aufgrund von Umbauarbeiten im Februar 2020 nicht verfügbar. Eine koordinatorische Herkulesaufgabe, die durch eine Ausweitung des Angebots im CUBIX am Alexanderplatz und die Reaktivierung der Urania als Berlinale-Spielstätte gelöst werden konnte. Auch die Akademie der Künste am Hanseatenweg gesellte sich wieder ins Line-up. Dezentraler wurde das Festival, die Wege länger, auch wenn die bestmöglichen Lösungen gefunden wurden. Trotz dieser Widrigkeiten verlor das Leitungsduo nicht die Lust am Festival, entspannt gab Mariette Rissenbeek zu Protokoll: „I always imagined the task of managing the Berlinale to be very complex and wide ranging - a great responsibility - and it has ended up being just that [...]. At the same time it’s incredibly exciting and stimulating to immerse yourself in so many new topics and to get to know the people here who all have a great deal of experience and make you feel very well cared for.“ („Variety“, 17.02.2020)

Berlinale im Spannungsfeld

Die Präsentation der Filme im Wettbewerb 2020 sorgte für viel Neugier: Im Vorfeld wurde kein einziger Titel verkündet, das Programm gab es gebündelt bei der Berlinale-Pressekonferenz. Das Interesse war immens, die Vorfreude riesig – und dennoch drehten sich die Schlagzeilen am Abend um ein ganz anderes Thema. Am Nachmittag hatte „Die Zeit“ einen Artikel veröffentlicht, der die Rolle des Berlinale-Gründungsdirektors, Alfred Bauer, während des Nationalsozialismus in neuem Licht erscheinen ließ. Demnach war Bauer nicht nur Mitläufer, sondern hochrangiger Funktionär in der Reichsfilmintendanz, was er nach Ende 1945 systematisch verschleiert hatte. Kaum jemand sprach mehr über das Wettbewerbsprogramm, Thema des Tages war Bauer, ein „'eifriger SA-Mann'“ (Katja Nicodemus, „Die Zeit“, 29.01.2020). Nach einem Augenblick des Schocks handelte das Festival schnell und konsequent: Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) wurde mit einer Untersuchung des Falles Bauer betraut, der Silberne Bär Alfred-Bauer-Preis 2020 zum Silbernen Bären – 70. Berlinale umgewidmet. Der ehemalige Silberne Bär Alfred-Bauer-Preis wurde zum Festival 2020 ausgesetzt und wird in der Folge nicht mehr vergeben.

Zum Umgang mit diesen Erkenntnissen und der damit verbundenen Verantwortung äußerte sich das Festival am 30. September 2020 in einer Pressemitteilung sowie im Sommer 2021 in einer ausführlichen Stellungnahme, die im Herbst 2022 aktualisiert wurde.

Als nächstes sorgte die Einladung von Jeremy Irons als Präsident der Internationalen Jury für Aufregung. Der britische Schauspieler war für seine umstrittenen Äußerungen zur gleichgeschlechtlichen Ehe und zum Thema Abtreibung in der Vergangenheit zurecht scharf kritisiert worden und auch wenn er sich dafür bereits entschuldigt hatte, standen die Vorwürfe erneut im Raum. Irons reagierte, indem er zu Beginn der Pressekonferenz der Internationalen Jury ein Statement verlas, in dem er sich unmissverständlich für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung aussprach. Er endete: „So I hope that has put my past comments to bed. I thank you for coming this morning, and now, let us get on with ten days of enquiry and celebration.”

Statement auf dem Roten Teppich im Gedenken an die bei einem rassistisch motivierten Anschlag getöteten Menschen in Hanau.

Irons Wunsch blieb ein frommer, der Eröffnungsabend wurde durch einen Vorfall fernab des Berliner Festivalgeschehens überschattet. Dabei war alles angerichtet: Statt des üblichen ersten Wettbewerbsfilms eröffnete die 70. Berlinale mit My Salinger Year von Philippe Falardeau aus dem Berlinale Special. Margaret Qualley und Sigourney Weaver schritten über den vollgepackten Roten Teppich, die Autogramm- und Selfiejäger*innen waren in Massen erschienen. Jedoch hatte am Vortag ein Deutscher in Hanau aus rassistischen Motiven zehn Menschen getötet. Ein Vorfall, der die sorgenvollen Diskussionen um eine zunehmend gewaltbereite rechtsextreme Tendenz in Deutschland extrem befeuerte. Und so begann die Eröffnungszeremonie der 70. Berlinale mit einer Schweigeminute für die Opfer. Und ein weiterer Schatten zeichnete sich bereits ab: Die Bedrohung durch das Coronavirus, das in den folgenden Wochen das weltweite wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben nahezu zum Stillstand bringen würde, wurde immer präsenter. Einige der Marktteilnehmer*innen aus China, wo das Virus seinen Ursprung hatte, sagten ihren Besuch ab, doch noch war die Gefahrenlage zu unspezifisch, sodass das Festival glücklicherweise wie geplant zu Ende geführt werden konnte.

Der erste Chatrian-Wettbewerb

So nahm die 70. Berlinale 2020 vorerst ihren Lauf und tatsächlich begann man sich auf das zu besinnen, worum es eigentlich ging: die Werke des Programms. Carlo Chatrian war mit einer klaren kuratorischen Vision gestartet, für ihn zählte allein die künstlerische Qualität des individuellen Filmes mit einer Betonung auf den formalen Beschaffenheiten - und nicht der Inhalt, das Thema. Dementsprechend war ein roter Faden im Programm eher zweitrangig, einer übergreifenden Atmosphäre näherte sich der Künstlerische Leiter dennoch: „Es ist schon schwierig, die Vielfalt eines solchen Programms auf einen Nenner zu bringen und ein bestimmtes Motto zu finden. Aber es ist schon so, dass Filme ja Seismographen der Wirklichkeit sind. Und unsere Wirklichkeit ist gerade nicht gerade erhellend." („MDR KULTUR“, 19.02.2020)

Im Zentrum der Aufmerksamkeit sollten nicht die Festivalmacher*innen und ihre Fertigkeiten stehen, sondern die Werke und ihre Macher*innen. Chatrian betonte das in bescheidenen Tönen: „I’m not particularly interested in imposing my vision. I’m more interested in expanding my vision and my take on films. In that respect films are essential and even more so are my conversations with programmers. These exchanges open new perspectives and allow me to better shape the multifaceted festival I have been asked to run.“ („Sight and Sound“, 2.03.2020) Der künstlerische Leiter als primus inter pares, ein Teil des Teams, bestimmt durch Neugier und den Willen, aus jedem Film zu lernen.

Hong Sangsoo stellte mit den Protagonistinnen Seo Younghwa (links) und Kim Minhee (rechts) seinen Film Domangchin yeoja | Die Frau, die rannte vor.

Die größte Aufmerksamkeit richtete sich natürlich auf den zum ersten Mal von Chatrian und seinem neuen Auswahlgremium bestückten Wettbewerb. Auch hier setzte das Festival auf Kontinuität, viele der Regisseur*innen aus den Vorjahren – Christian Petzold, Hong Sangsoo, Sally Potter, Benoît Delépine und Gustave Kervern – waren 2020 erneut zu Gast.

Die Bewertungen des 2020er Wettbewerbs reichten von reiner Euphorie („After years of backlash, the Berlin International Film Festival has new leadership - and a unique case study in curatorial recovery“, Erik Kohn, „Indiewire“, 29.01.2020) bis zu eher verhaltenen Stimmen, die Christiane Peitz mit Blick auf das internationale Presse-Echo ausmachte („Der Tagesspiegel“, 3.03.2020). Auch unter der neuen Leitung blieben strukturelle Probleme, wie der Oscar-Termin, der 2020 durch eine Vorverlegung die Verantwortlichen zwang, den Festivalzeitraum bis in den März hinein zu strecken. Zudem machte sich unter den Journalist*innen eine Sorge breit, die das globale Kinoschaffen insgesamt betraf: „Im Zeitalter von Streaming und einer erodierenden Kinowirtschaft wird das Filmangebot, aus dem sich Festivals wie die Berlinale speisen, künftig eher schrumpfen als wachsen [...]: Die Masse an interessanten Filmen auf dem über Jahrzehnte gewohnten Niveau scheint schlicht nicht mehr vorhanden zu sein.“ (Andreas Borcholte und Hannah Pilarczyk, „Der Spiegel“, 1.03.2020)

Baran Rasoulof, die Tochter des iranischen Regisseurs, rief ihren Vater, der mit einem Ausreiseverbot belegt war, während der Presekonferenz zur Verleihung des Goldenen Bären per Videochat an.

Ein verdienter Sieger

Einig waren sich alle am Abend der Preisverleihung, als es um die Vergabe des Goldenen Bären ging. Der iranische Beitrag Sheytan vojud nadarad von Mohammad Rasoulof hatte am Vorabend bei seiner Premiere für Standing Ovations gesorgt und am Tag danach herrschte bereits Gewissheit, wer den Hauptpreis der 70. Berlinale gewinnen würde. Mit Rasoulofs Sheytan vojud nadarad zeichnete das Festival nach Nader and Simin, A Separation (2011) und Taxi (2015) bereits zum dritten Mal in einem Jahrzehnt einen Film aus dem Iran mit dem Goldenen Bären aus. Auch die Preisübergabe erinnerte an den Abend, als Taxi gewann: Rasoulof war wie Panahi vom iranischen Regime mit einem Ausreiseverbot belegt worden, an seiner Stelle nahm seine Tochter Baran Rasoulof, die auch im Film mitspielt, zusammen mit den Produzenten den Preis entgegen. Am späten Abend war der Regisseur dennoch anwesend – seine Tochter rief ihn während der Preisträger*innenpressekonferenz kurzerhand per Videochat an. Mit Sorge protestierte die Berlinale eine Woche nach dem Festival gegen die Haftanordnung gegen Rasoulof, der zwar schon längere Zeit verurteilt war, die Gefängnisstrafe aber bis dato nicht antreten musste.

Auch die anderen Preisentscheidungen konnten sowohl Publikum als auch Kritiker*innen überzeugen. Eliza Hittmans hochgelobter Never Rarely Sometimes Always wurde mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, Hong Sangsoo als bester Regisseur. Die Darsteller*innenpreise gingen an Paula Beer für ihre Rolle in Christian Petzolds Undine und Elio Germano für seine Verkörperung des Künstlers Antonio Ligabue in Volevo nascondermi von Giorgio Diritti. Ein weiterer Silberner Bär ging nach Italien, an einen Film, in dem ebenfalls Elio Germano die Hauptrolle spielte: Die D’Innocenzo Brothers erhielten für Favolacce den Preis für das Beste Drehbuch.

Die Auszeichnung für eine Herausragende Künstlerische Leistung war die einzig umstrittene Entscheidung, wobei es nicht um die Qualität der Arbeit des deutschen Kameramanns Jürgen Jürges ging, sondern um die Drehbedingungen des Films, für den er die Auszeichnung erhielt. „Im Jahr 2011 fährt ein Reporter für das Magazin GQ in die ukrainische Stadt Charkiw. Dort besucht er ein Filmset oder das, was aus einem Filmset geworden ist: eine Parallelwelt, in der Menschen seit Jahren leben und Berufen nachgehen.“ (Viktoria Morasch, „taz“, 22.02.2020) Finanziert wurde das dreijährige Mammutprojekt DAU unter anderem mit Geldern vom Medienboard Berlin-Brandenburg, aber auch durch die Unterstützung eines russischen Oligarchen.

Helen Mirren, die 2020 mit dem Goldenene Ehrenbären ausgezeichnet wurde, mit der Laudatorin Iris Berben und der Berlinale Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek.

Ganz und gar nicht umstritten war wiederum die Vergabe des Goldenen Ehrenbären an die britische Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin Dame Helen Mirren. In ihrer Laudatio auf Mirren würdigten Chatrian und Rissenbeek sie nicht nur als eine der größten Schauspielerinnen ihrer Generation, sondern als Vorreiterin für den Wandel in der Filmwelt: „Sie weiß, wie man dekorativ angelegte, weibliche Rollen in komplexe weibliche Charaktere verwandelt. Sie kombiniert außergewöhnliche Schauspielqualitäten mit dem britischen Understatement. Sie bricht durch Barrieren, und zwar in ihrer Arbeit und in auch in ihrem persönlichen Leben. Sie hat den Machtmissbrauch im Filmgeschäft schon 25 Jahre vor #metoo diskutiert.“ Passend dazu fiel die Dankesrede Mirrens vor dem Publikum im Berlinale Palast vor allem politisch aus: „When I began work in film, out of maybe a hundred people on set, there were – if I was lucky – three women, at the most. That is changing. But not yet enough. When I began work in film, all faces on set were white. And that is changing. But not yet enough. When I began work in film, racist or sexist language and behaviour was normal, it was an accepted reality of life. That is changing. But not yet enough. The only reason I want to continue in this brilliant industry is to witness more of that change that I find so liberating and so exciting.“

Insgesamt fanden die Kritiker*innen 2020 viel von der Handschrift Chatrians, Marius Nobach etwa sah einen „Wettbewerb mit Filmen, die eine hohe Bereitschaft zur Einlassung auf eigenwillige Erzählformen, die Konzentration und Geduld erforderten. Auch die auffallende Menge an harten, kompromisslos präsentierten Stoffen [...]. In ihrem ersten Jahr bot der Wettbewerb jedenfalls eine geballte Anhäufung einprägsamer Filme, die es sich und oft auch dem Publikum nicht leichtmachen“ („Filmdienst“, 1.03.2020).

Das galt auch für den Gewinner des Berlinale Dokumentarfilmpreises, der zur 70. Berlinale zum ersten Mal gemeinsam mit dem rbb ausgelobt wurde und an Irradiés von Rithy Panh aus dem Wettbewerb ging. Eine filmische Tour-de-Force, die die Leinwand in ein Triptychon verwandelt und mit aller Macht und Gewalt der Bilder die Verwerfungen und Genozide des 20. Jahrhunderts erfahrbar macht.

Die Preisentscheidungen machten deutlich, dass das politische Denken für die Berlinale auch unter neuer Führung charakteristisch blieb. Was sich änderte, waren die Tonalität dieses Denkens und ein differenzierter Zugang. In einer Reihe von Texten über Berlinale-Filme früherer Jahrgänge, in denen Carlo Chatrian sich unter dem Titel „durch die Jahre“ der Tradition des Festivals genähert hatte, wurde dies exemplarisch deutlich. Statt einer generellen Politik des Kinos arbeiteten die Texte die individuellen Politiken der Filme heraus, zeigten, wie Bilder auf je eigene und einzigartige Weise das Verhältnis der Zuschauer*innen zur sichtbaren und damit auch zur sozialen Welt verändern. Diese Formen der Politik sind nicht a priori gegeben, sie wandeln sich: „Ich denke, die Art und Weise, wie Filme heute politisch sind, unterscheidet sich sehr deutlich von der, wie sie es in den 70er- und 80er-Jahren waren. Die Rolle von Politik hat sich verändert, auch die Grenzen zwischen dem Privaten und Politischen. Für mich sind die politischsten Filme [...] jene, die die Ansichten des Betrachters verändern wollen. Je subtiler sie wirken, desto besser“, erläuterte Chatrian („Berliner Zeitung“, 16.02.2020).

Los Conductos von Camilo Restrepo, der in der Sektion Encounters lief, gewann den GWFF Preis Bester Erstlingsfilm.

Begegnungen

Die neue, von Rissenbeek und Chatrian initiierte Sektion Encounters wurde durchweg positiv aufgenommen, auch wenn bei Einzelnen die Sorge laut wurde, die neue Reihe sei nicht deutlich genug vom Forum zu unterscheiden. Gallionsfiguren des Forums wie Heinz Emigholz waren mit ihren neuen Werken nun bei Encounters vertreten. Neben den kritischen Mahner*innen waren aber auch viele Stimmen zu hören, die mit Spannung auf die neuen Grenzziehungen und Überschreitungen blickten: „Vielleicht liegt in dem Wechselspiel zwischen „Encounters“ [...] und dem Forum tatsächlich eine produktive Herausforderung, von der das gesamte Festival profitieren könnte. Die ersten Tage deuten jedenfalls in diese Richtung“ (Bert Rebhandl, „FAZ“, 16.02.2020). Die positiven bis euphorischen Stimmen überwogen, es war von „einer wilden Entdeckungsreise“ (Andreas Borcholte und Hannah Pilarczyk, „Der Spiegel“, 1.03.2020) und „einem großen Zugewinn“ (Tim Caspar Boehme, „taz“, 2.03.2020) zu lesen. Filme wie Victor Kossakovskys Gunda oder Sandra Wollners The Trouble With Being Born wurden überschwänglich gefeiert. Bestätigt in seiner Auswahl konnte Chatrian sich auch fühlen, weil neben den sektionsinternen Preisen auch der GWFF Preis Bester Erstlingsfilm an eine Arbeit aus Encounters ging, an Los conductos von Camilo Restrepo. Durch die Bank konnten die Filme das Ziel der Sektion, eigenwillige, ästhetisch mutige Arbeiten, die als Avantgarde des Kinos gelten können, zu zeigen, leicht einlösen.

Das 70. Jubiläum

Eine Sonderreihe zum 70. Jubiläum des Festivals wurde ebenfalls von Chatrian kuratiert: Er lud sieben Filmemacher*innen ein, die bereits schon einmal mit ihren Filmen bei der Berlinale vertreten waren und die wiederum sieben weitere Gäste zu einem Gespräch in der Akademie der Künste baten. Jeweils vor und nach dem Talk gab es einen Film einer der beiden Filmemacher*innen zu sehen. „On Transmission“ war mit Ang Lee, Olivier Assayas, Claire Denis und vielen anderen prominent besetzt. Zudem hatte bereits im Vorfeld des Festivals ein Countdown die Jubiläumsausgabe eingeläutet. Zusammen mit verschiedenen Partnerinstitutionen gab es eine Ausstellung, ein Konzert und weitere Veranstaltungen in ganz Berlin zu erleben. Bewusst suchte die neue Festivalleitung den Schulterschluss mit der Stadt.

Der Sektionsleiter des Panorama, Michael Stütz, mit der australischen Regisseurin Kitty Green.

Personelle Wechsel in den Sektionen

Neu war nicht nur die Festivalleitung, in den Sektionen hatte es ebenfalls viel Bewegung gegeben. Und auch hier setzte man nicht auf den harten Bruch, sondern auf Kontinuität. Im Panorama übernahm Michael Stütz die alleinige Leitung, seine Mitstreiterin Páz Lazaro wechselte in Chatrians Auswahlgremium. Das Programm der Sektion war 2020 indes nicht weniger schlagkräftig und angriffslustig als in den Vorjahren. „In Zeiten wie diesen können wir uns nicht zurücklehnen“, so Stütz („Der Tagesspiegel“, 20.02.2020). Ein großer Schwerpunkt lag traditionell und mehr denn je auf dem LGBTQI+-Kino, von dessen faszinierender Vielfalt Stütz zu berichten wusste. Die Reduktion der Anzahl der Filme, die die neue Leitung dem Panorama verordnet hatte, wurde positiv aufgenommen: „Panorama especially benefited from streamlining, presenting a revitalised selection.“ (Jessica Kiang, „Sight and Sound“, 4.03.2020)

Eine Reduktion machte auch die Perspektive Deutsches Kino 2020 durch – von zwölf auf acht Filme. Auch hier wurde die stärkere Fokussierung positiv aufgenommen: „Eine Qualitätsoffensive, die der Reihe sichtlich gut tut“ (Gunda Bartels, „Der Tagesspiegel“, 20.02.2020). Mit dem Umzug ins Kino International konnte die Sektion zudem ihre Premieren nun in einem angemessenen Rahmen feiern.

Julia Fidel (3. v.r.), neue Leiterin der Berlinale Series, mit dem Team von C’est comme ça que je t’aime

Bei den Berlinale Series übernahm Julia Fidel, langverdiente Mitarbeiterin von Generation und Panorama, die Leitung. Besonders dankte sie bei ihrem Antrittsfestival ihrer Vorgängerin Solmaz Azizi, die die Reihe seit 2015 aufgebaut und systematisch ausgebaut hatte. Programmatisch hatte sich Fidel viel für ihr erstes Jahr vorgenommen: „I wanted to make sure we are showing a very versatile picture of what is happening in the TV world [...]. I didn’t want to stick to the genres we’re used to seeing. We tried to get the message out that we wanted to go beyond crime series and costume dramas.“ („Screendaily“, 18.02.2020) Mit Sex war zum ersten Mal eine Serie zu sehen, deren Folgenlänge nicht dem Konvention gewordenen 50-60 Minuten-Schema entsprach und stattdessen auf eine Länge von knapp 15 Minuten pro Folge setzte. Fidel programmierte die Serie von Amalie Næsby Fick in voller Länge und zeigte alle Folgen. Die neue Leiterin konnte aus den Vollen schöpfen, gerade weil die letzten Jahre eine immer größere Diversifizierung und einen großen Mut zur Nische in der internationalen Serienlandschaft hervorgebracht hatten, wie sie in einem Interview mit „Blickpunkt Film“ betonte (21.02.2020).

Anna Henckel-Donnersmarck (rechts) mit Fatma Çolakoğlu und Lemohang Jeremiah Mosese, die Teil der Berlinale Shorts-Jury 2020 waren.

Kontinuität boten auch die Berlinale Shorts. Die neue Sektionsleiterin Anna Henckel-Donnersmarck, lange Jahre bereits Teil des Auswahlgremiums, war voll des Lobes für ihre Vorgängerin Maike Mia Höhne, die am Ende der Berlinale 2019 zum Kurzfilm Festival Hamburg gewechselt war. „We get the big cinemas, we are part of the award ceremony and our filmmakers walk across the red carpet on Saturday. So shorts already have a great position in the festival, and this is very much thanks to Maike. It made it very easy for me to build upon“ („Cineuropa“, 25.02.2020).

Damit der Wechsel nicht genug. Nachdem Milena Gregor, Birgit Kohler und Stefanie Schulte Strathaus nach Christoph Terhechtes überraschendem Ausscheiden die Forums-Leitung für die 69. Berlinale nur interimsmäßig übernommen hatten, wurde im Mai 2019 die Nachfolgerin bekanntgegeben: die Journalistin, Autorin und Programmerin Cristina Nord. Sie hatte als Redakteurin der „taz“ das Festival schon jahrelang verfolgt und begleitet, in einem Interview gab sie zu Protokoll, dass sie sich bereits sehr zu Hause fühle („Berliner Morgenpost“, 20.02.2020). Für ihr erstes Programm diagnostizierte sie eine Fülle von Filmen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie sich Vergangenheit vergegenwärtigen lasse. Der perfekte Anschluss an das Jubiläum des Forums, das 2020 sein 50-jähriges Bestehen feierte und die Werke der ersten Edition noch einmal auf die Leinwand brachte. Überraschend war zu sehen, dass sich die Themen kaum verändert hatten und dass trotz Fortschritten die Probleme und Ungleichheiten strukturell nicht gelöst worden waren. Rassismus und Feminismus waren sowohl 1971 als auch 2020 noch die zentralen Themen unzähliger Diskussionen und vieler Filme – gerade weil, wie in Hanau, eine rückwärtsgewandte, auf Differenzen statt auf Gleichheit beruhende Tendenz in den Gesellschaften weltweit zu beobachten war: „There is a backlash, and it is palpable in many places around the globe. So with the anniversary programme comes a hypothesis: watching these films, we might be able to rediscover strategies that worked back then and adjust them accordingly to help us face new challenges“, wie Nord es ausdrückte („Sight and Sound“, 2.03.2020).

Einer „Institution“ des Forums wurde die einzige Berlinale Kamera 2020 überreicht: Ulrike Ottinger, die seit 1984 viele Male mit Filmen in der Sektion, aber auch im Wettbewerb und im Panorama vertreten war. Gefragt nach der neuen Leitung, sprach sie wohl der überwältigenden Mehrheit der Festivalbesucher*innen aus dem Herzen: „Beide sind große Filmkenner und leidenschaftliche Filmliebhaber [...]. An der neuen Leitung gefällt mir, dass sich beide bewusst als Gastgeber verstehen und öffentlich zurücknehmen. Dieser Stil eines gewissen Understatements steht der „Berlinale“ gut, weil so die Filme wieder deutlich in den Fokus rücken und nichts anderes.“ („Filmdienst“, 24.02.2020)

So bot die Berlinale 2020 trotz einer ganzen Phalanx an Widrigkeiten einen äußerst positiven Auftakt für das neue Leitungsduo, wofür auch über 330.000 verkaufte Tickets, über 18.000 akkreditierte Fachbesucher*innen und 3.500 Pressevertreter*innen sprachen. Eine große Neugier, Lust und Vorfreude auf die nächste Edition war zu spüren. „The 70th Berlinale – under new leadership - pulled together enough finds and fresh ideas to seem open to the future [...]. The festival changed in shape this year – not a wholesale revolution but an evolution, in very welcome directions.“ (Jessica Kiang, „Sight and Sound“, 4.03.2020)

Die Berlinale 2020 in Zahlen

Besucher*innen  
Kinobesuche 479.365
Verkaufte Eintrittskarten 330.681
   
Fachbesucher*innen  
Akkreditierte Fachbesucher*innen (ohne Presse) 18.518
Herkunftsländer 132
   
Presse  
Pressevertreter*innen 3.447
Herkunftsländer 82
   
Screenings  
Anzahl Filme im öffentlichen Programm 341
Anzahl Vorführungen 1.103
   
European Film Market  
Fachbesucher*innen 11.423
Anzahl Filme 732
Anzahl Screenings 971
Stände auf dem EFM (Gropius Bau & Marriott Hotel) 203
Anzahl Aussteller*innen 564
   
Berlinale Co-Production Market  
Teilnehmer*innen 568
Herkunftsländer 63
   
Berlinale Talents  
Teilnehmer*innen 253
Herkunftsländer 84
   
Jahresbudget € 27,2 Mio.
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin erhalten eine institutionelle Förderung in Höhe von € 10,4 Mio. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.  

Weitere Statistiken

Neben der Filmstatistik veröffentlicht die Berlinale bereits seit 2004 jährlich den Anteil von Regisseurinnen im Gesamtprogramm: Download, PDF (1,4 MB)

In den letzten Jahren wurde die Gender-Evaluation zunehmend ausführlicher gestaltet: Download, PDF (2,0 MB)